John Barth zeigt, wie schwierig es ist, das Gefühlstheater der Liebe mit zurechtgezimmerten Denkgebäuden in Einklang zu bringen
Liebesromane sind immer auch Gedankenexperimente: Was geschieht, wenn die Figur A der Figur B begegnet? Wie plötzlich, wie intensiv, wie haltbar ist ihre Liebe? Wie reagiert die Umwelt auf die neue Konstellation? Welche gesellschaftlichen Regeln müssen die beiden Liebenden beachten, welche Konventionen brechen, um ein Paar zu werden oder zu bleiben? In den „Wahlverwandtschaften“ hat Goethe exemplarisch vorgeführt, wie die zwischenmenschliche Liebes-Chemie mitsamt ihrer ungeheuren Bindungs- und Zerstörungskräfte in einer literarischen Versuchsanordnung ausgeleuchtet werden kann. Der Amerikaner John Barth lässt in seinem 1958 veröffentlichten Roman „Tage ohne Wetter“ zwei extrem gegensätzliche junge Männer aufeinander treffen. Der Collegelehrer Joe Morgan eifert entsprechend der philosophischen Mode der Zeit mit seiner Frau Rennie den strengen Idealen einer existentialistische Ehe nach: Sie sind in jeder Hinsicht rücksichtslos offen zu einander, scheren sich einen Dreck um die Gepflogenheiten ihrer Umwelt, akzeptieren keinerlei bürgerliche Werte und verfolgen nur jene Ziele, die sie sich selbst aus freiem Willen gesetzt haben. Jacob Horner dagegen, auch er Dozent am selben Ostküsten-College, würde man heute als typisch postmodernen Charakter bezeichnen. Er verspürt wie Morgan keinen Glauben mehr an irgendwelche überzeitlichen Werte. In seinen Augen gibt es zahllose gleichberechtigte Wertesysteme, die in sich schlüssig und historisch begründbar sind, von denen aber letztlich keines den anderen überlegen ist. Folglich streiten unausgesetzt gleich mehrere Seelen in seiner Brust. In jeder Situation probiert er neue Haltungen aus und ist als Persönlichkeit so wenig greifbar, dass Rennie schließlich behauptet, er existiere überhaupt nicht. Tatsächlich ist Horner gelegentlich mit den inneren Konflikten zwischen seinen vielen Rollen so beschäftigt, dass er in stundenlange Lähmungen verfällt. Morgan und Horner merken rasch, wie gegensätzlich sie sind und haben einen Heidenspaß daran, in endlosen Debatten ihre Ansichten und ihr Redetalent aneinander zu messen. Barth beschreibt das mit viel Witz und intellektueller Nonchalance. Doch die Handlung kommt erst richtig in Schwung, nachdem Rennie und Horner eine unbedachte Nacht zusammen im Bett verbracht haben. Mit einem Mal kriegen die Diskussionen zwischen den Männern deutlich mehr Ernst und Biss. Barth lässt spüren, wie schwer es ihnen fällt, die üblichen Emotionen wie Begierde oder Eifersucht, Reue oder den Wunsch nach Bindung, kurz: das ganze Gefühlstheater der Liebe mit ihren so sorglich zurechtgezimmerten Denkgebäuden in Einklang zu bringen. Als eigentlich Leidtragende des nun nicht mehr nur philosophischen Streites zwischen Joe und Jacob erweist sich allerdings Rennie. Sie wird aus dem aufwendigen Gerede der zwei immer weniger schlau und weiß bald nicht mehr aus noch ein. Wenn die beiden beispielsweise Selbstmord als Lösung der Kontroverse erwägen und schon mal den geladenen Revolver zwischen sich auf dem Tisch bereit legen, dann ist sie es, die schließlich verzweifelt zur Tat schreiten will. Rennies Elend spitzt sich zu, als sie feststellen muss, dass sie ein Kind erwartet und sowohl Joe als auch Jacob als Vater in Frage kommen. Sie entschließt sich zu einer Abtreibung und Barth führt in einem literarisch eindrucksvollen Finale vor, wie lächerlich sich die theorieverliebten rhetorischen Freiübungen der beiden Männer ausnehmen im Kontrast zu der blutigen, unwiderruflichen Wirklichkeit eines solchen Eingriffs. John Barth war 28 Jahre alt, als er diesen Roman veröffentlichte. Er gilt heute als hoch geschätzter, aber nicht sehr populärer Autor, als ein writers writer, der mit seinen Büchern und literaturtheoretischen Essays großen Einfluss auf andere Schriftsteller gewonnen hat. Am beeindruckendsten an „Tage ohne Wetter“ ist zweifellos die hellsichtige Beschreibung Jacob Horners, der wie aus den erst 20 oder 30 Jahre später entstandenen Lehrbüchern zur Psychologie und Soziologie der Postmoderne entsprungen zu sein scheint. Vorstellungen wie Subjektivität oder Individualität lehnt er rundweg ab, „denn Subjektivismus impliziert ein Ich, und wo man eine Pluralität von Ichs empfindet“, kann „jedes einzelne Ich dieselbe unwiderlegbare Gültigkeit für seine eigene spezifische Ansicht“ beanspruchen. Wohin diese Auflösung des Subjektbegriffs letztlich führt, haben dann Derrida, Foucault, Baudrillard und andere in den siebziger Jahren ausformuliert. Doch dass ein Schriftsteller seiner Zeit philosophisch voraus ist, sagt noch nichts über die Qualität seiner Romane. Man kann „Tage ohne Wetter“ über weite Strecken mit einigem Vergnügen am geistigen Kräftemessen der beiden Hauptfiguren lesen. Alles in allem aber wirkt die Geschichte, vom Finale abgesehen, ziemlich abstrakt. Der Grundriss der Versuchsanordnung, nach der Barth sein Buch konstruiert hat, bleibt zu deutlich spürbar. Ein Liebesroman, der ein wenig nach Labor riecht.
John Barth: „Tage ohne Wetter“. Roman
Aus dem Amerikanischen von Matthias Müller
Verlag Liebeskind, München 2002 254 S., 20 ,- €