„Die Bücher und das Paradies“

Umberto Ecos Essays

Vermutlich wäre Umberto Eco vor Urzeiten, als die Menschen noch mit Holzspeeren bewaffnet durch Italiens Wälder streiften, zum Medizinmann seines Stammes gewählt worden. Der hätte sich allabendlich beim Lagerfeuer um Ecos massige, vollbärtige Gestalt versammelt, um seinen Geschichten oder seinen Geschichten über Geschichten zu lauschen. Denn Eco beherrscht die erstaunliche Kunst, aus schlichten Worten lebendige Welten zu erschaffen. Und das gelingt ihm nicht nur in seinen Romanen, sondern ebenso in seinen Essays, also seinen Geschichten über Geschichten, von denen jetzt eine gute Handvoll in „Die Bücher und das Paradies“ hier zu Lande erschienen sind. Als großer Erzähler und Denker der Postmoderne spinnt er fort an seinen Überlegungen zur Intertextualität. Jedes Buch ist für ihn eingebunden in ein uferloses Netz der Anspielungen auf andere Bücher und jedes neue Buch webt an diesem Netz fort. Literatur entsteht so immer auch als Reaktion auf schon vorhandene literarische Werke – selbst wenn ein Autor sie nur indirekt wahrnimmt über das kulturelle Kontinuum, in dem er lebt. Bücher, so bringt Eco es ins Bild, stehen nicht still in den Regalen der Bibliotheken. Nein, sie wispern und flüstern miteinander, und wirklich verstanden hat man ein Buch erst, wenn man all seine Gespräche mit sämtlichen anderen Büchern belauscht hat – also nie. Aus diesem Zusammenwirken zwischen den Texten der Weltliteratur entfaltet sich, so der konsequent antimetaphysisch argumentierende Eco, auf diese Weise eine überzeitliche, endlose, doch strikt diesseitige Welt: „Intertextuelle Ironie liefert säkularisierten Lesern, die keinen spirituellen Sinn mehr im Text suchen, einen intertextuellen Höhersinn… – wobei es keine andere Verheißung gibt als das fortwährende Gemurmel der Intertextualität. Intertextuelle Ironie setzt einen absoluten Immanentismus voraus. Sie liefert denjenigen Offenbarungen, die den Sinn für die Transzendenz verloren haben.“ Das Herausragende an Ecos Argumentationen ist sein Geschick, durch und durch traditionelle ästhetische Überlegungen nahtlos mit avantgardistischen Thesen zu verknüpfen. Er ist ein hingebungsvoller Leser modernistischer Autoren wie Joyce oder Gérard de Nerval und widmet ihren Werken kluge und detailkundige Untersuchungen. Zugleich aber dürfte es nicht leicht sein, weltweit einen zweiten ebenso wortmächtigen, umfassend gebildeten und gewieften Verteidiger der aristotelischen Poetik zu finden wie Eco. Fabel, Plot und Katharsis spielen in seinen literarischen Überlegungen zentrale Rollen: „Jedenfalls ist das Erzählen und das Erzählern Zuhören eine biologische Grundfunktion. Man entzieht sich nicht leicht der Faszination einer guten Intrige im Reinzustand. Joyce ignoriert vielleicht die Regel der attischen Tragödie, aber nicht die aristotelische Idee des Erzählens. Er stellt sie höchstens in Frage, aber er respektiert sie.“ In dieser Hinsicht verwischen sich für Eco die Grenzen zwischen literarischen Genres. Die kathartische Wirkung der Literatur, also die „Reinigung der Leidenschaften“, ist in seinen Augen – anders als bei Aristoteles – nicht auf die Tragödie beschränkt, sondern in allen künstlerischen Ausdrucksformen möglich, denen es darum geht, Handlung darzustellen: In Filmen wie John Fords „Stagecoach“ ebenso wie in Comics, in der Reportage ebenso wie im Roman. Wichtig ist für ihn, mit welcher Perfektion es den Autoren gelingt, die Katharsis zu erzeugen. Ihr gilt Ecos ganze Aufmerksamkeit als Kritiker und seine Sorgfalt als Romancier. Wie es im abgelaufenen Jahrhundert dazu kommen konnte, dass der Plot in der literarischen Ästhetik über lange Zeit verpönt war, dass „die Literatur sich weigerte, uns spannende Handlungen zu liefern“, dem geht Eco in diesem Buch nicht nach. Kein Zweifel, dass er auch zu dieser Frage Entschiedenes beizutragen hätte, doch will er die Spröde der klassischen Moderne nicht ausspielen gegen sein traditionsorientiertes, barockes Verständnis von Postmoderne. Umberto Eco ist ein Mann der Sinnlichkeit wie des analytischen Scharfblicks. Er entdeckt literarische Schönheit ebenso in manchen überaus ambitionierten Werken der Hochkultur wie in dem einen oder anderen Produkt der Unterhaltungsindustrie. Also überlässt er den Stellungskrieg zwischen beiden Lagern gern anderen und konzentriert sich stattdessen auf seine Arbeit am nächsten Roman, „dessen Zweck ja darin bestehen soll“, resümiert er, „dem Leser das Vergnügen der Erzählung zu liefern.“

Umberto Eco: „Die Bücher und das Paradies“
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber Hanser Verlag, München 2003 341 S., 23,50 €

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