Anna Gavalda weiß, wie man durch Liebe rundum unglücklich wird
Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu: Chloé ist von ihrem Mann verlassen worden. Er hat Schluss gemacht, seine Koffer gepackt und ist mit einer anderen Frau in Urlaub gefahren. Nun sitzt Chloé zu Hause, allein mit ihren beiden kleinen Töchtern, und ihr bricht das Herz entzwei. Schließlich kann Pierre, ihr Schwiegervater, das Elend der jungen Frau nicht mehr mit ansehen, packt sie und die Kinder kurzerhand in den Wagen und fährt mit ihnen für ein paar Tage in das Wochenendhaus der Familie irgendwo in der französischen Provinz. Dort erweist sich Pierre, ein verschlossener, schroffer Firmenchef, als überraschend fürsorglich und gesprächig. Für eine schlechtere Schriftstellerin als die 32-jährige Französin Anna Gavalda wäre die Versuchung groß gewesen, aus dieser Exposition ein neues Produkt der hier zu Lande so beliebten frechen Frauenkolportage zurechtzuzimmern: Nachdem der Sohn mit einer Nebenbuhlerin durchgebrannt ist, blüht zwischen dem Oberhaupt der Familie und seiner schutzlosen Schwiegertochter eine triumphale Liebe auf, die den Patriarchen mit einem Mal in einen zartsinnigen Liebhaber verwandelt. Und wenn er nicht gestorben sind, so lebt der Kitsch noch heute. Anna Gavalda dagegen verzichtet darauf, den Charakteren ihrer Figuren um eines Happy Ends willen literarisch Gewalt anzutun. Bei ihr kann sich ein ergrauter Familiendiktator nicht mehr im Handumdrehen in einen Romantiker verwanden, er kann lediglich davon berichten, wie er zu dem abweisenden Griesgram wurde, der er ist. So verschränken sich in Anna Gavaldas fast ausschließlich in Dialogen gehaltenem Roman „Ich habe sie geliebt“ zwei unglückliche Liebes- und Lebensgeschichten: Aus Chloé bricht der Zorn heraus über ihren untreuen Mann – und sie macht kein Geheimnis daraus, dass sie den hartherzigen Schwiegervater für seinen hartherzigen Sohn verantwortlich macht. Pierre wiederum berichtet von dem Schicksal, treulich bei der Ehefrau geblieben zu sein, obwohl er sie nicht mehr liebte – und von der Hartherzigkeit, die er sich antrainieren musste, um diese Entscheidung durchzuhalten. Pierre war nämlich, gesteht er der verblüfften Chloé, als noch einigermaßen junger Mann in eine abenteuerlustige Übersetzerin verliebt. Die beiden hatten jahrelang ein ebenso inniges wie heftiges Verhältnis, doch Pierre hielt eisern an seiner Familie fest, bis seiner Freundin (vermutlich gerade von ihm schwanger) der Kragen platzte und sie jeden Kontakt mit ihm abbrach. Jahre später trifft er sie zufällig mit einem kleinen Sohn irgendwo in Paris und trauert nun doppelt: um ein verpasstes Leben mit einer geliebten Frau und um ein gelebtes Leben mit einer ungeliebten. Natürlich, nichts von alledem ist sonderlich originell, Geschichten wie diese gibt es zu Dutzenden. Auch sind die langen Dialoge dieses Buches eher solide als brillant. Doch die unvermittelte Direktheit, mit der Anna Gavalda die beiden Erfahrungen nebeneinander stellt, auf der einen Seite das Unglück der verlassenen Frau, auf der anderen das Unglück des Mannes, der blieb, macht ihren Roman trotz allem zu einer eindrucksvollen Lektüre. Es ist nicht zuletzt ihre schnörkellose Entschiedenheit, die für diese junge Schriftstellerin einnimmt. Mit ihrem ersten, im vergangenen Jahr erschienenen Erzählungsband „Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet“ hatte sie in Frankreich und inzwischen auch bei uns erstaunliche Erfolge gefeiert. Ihr erster Roman „Ich habe sie geliebt“ stand in Paris lange auf den Bestsellerlisten. Anna Gavalda hat, was der oft akademisch und selbstverliebt wirkenden französischen Literatur nicht selten fehlt: Schwung, Temperament, Fabulierlust. Wie weit sie dieser Schwung noch tragen wird, ist naturgemäß nicht abzusehen. Im Moment sieht es so aus, als hätte Frankreich in Anna Gavalda neben dem finsteren, immer ein wenig schmuddeligen Literatur-Mode-Star Michel Houellebecq ein ernstes und doch helles, lebenszugewandtes Starlet bekommen.
Anna Gavalda: „Ich habe sie geliebt.“ Aus dem Französischen von Ina Kronenberger Hanser Verlag, München 2003 164 S., 16,90 Euro