Esra gehört zu den Frauen, in die man sich besser nicht verlieben sollte. Ihre Mutter ist herrschsüchtig wie Stalin, ihr Ex-Mann ein Kontroll-Freak und allgegenwärtig, ihre Karriere als Schauspielerin bereits frühzeitig verpfuscht und ihre kleine Tochter möglicherweise todkrank. Jeder einzelne dieser Schicksalsschläge kann einem Menschen die seelische Balance rauben. Alle vier zusammen haben Esra in ein Gefühlschaos ohne gleichen gestürzt. Das Zusammenleben mit ihr kann man nicht mehr als schwierig bezeichnen, es ist ein permanentes emotionales Katastrophenmanagement. Auch wer sich in Adam verliebt, braucht eine Menge Mut. Adam hat eine Tochter, die er abgöttisch liebt, mit einer Frau, die er nie liebte, und die, seit sie schwanger wurde, einen anderen Mann liebt. Adam ist zudem Schriftsteller und ihn egozentrisch zu nennen wäre eine handfeste Untertreibung. Jenseits der eigenen Person und der eigenen Arbeit gibt es nur ein einziges Thema, für das er sich zuverlässig interessiert: Seine herablassende Abgrenzung der Umwelt gegenüber. Doch da er fast alle anderen Menschen verachtet, erwartet er nach einem tiefsitzenden Mechanismus ausgleichender psychologischer Gerechtigkeit, von diesen anderen Menschen ebenfalls verachtet und bekämpft zu werden. So hat er eine fabelhafte Paranoia herausgebildet, die ihn, wohin er auch blickt, immer nur Feinde entdecken lässt. Adam und Esra sind also nicht eben das, was man sich unter einem Traumpaar vorstellt. Aber dennoch, oder besser: gerade deshalb sind sie exzellente Romanhelden. An diesen vom Schicksal schwer geschlagenen Figuren kann Maxim Biller deutlicher und mit leichterer Hand vorführen, was ihm mit zwei Durchschnitts-Charakteren nicht oder nur schwerlich hätte gelingen können: Wie zwei Liebende bis an den Rand ihrer Kräfte und ihrer Selbstaufgabe um einander kämpfen und sich schließlich doch verlieren.
Die Intensität, mit der Biller dabei die Seelen seiner Figuren bis in deren verborgensten Winkel auskratzt und vor den Lesern offen legt, macht aus „Esra“ einen herausragenden, einen ungewöhnlich bewegenden Roman. Es ist im Grunde ein altmeisterliches Rezept, nachdem der 43-jährige Erzähler Biller hier arbeitet. Aber das spricht nicht gegen sein Buch, sondern um so mehr für es. Denn die traditionelle Kunst der Übertreibung und der Zuspitzung, durch die er das Innenleben seiner zwei Helden gnadenlos ausleuchtet, vereint er überzeugend mit einem betont modernen, wenn man so will: globalisierten Milieu, in dem nichts so ist, wie es dem schnellen Vorurteil auf den ersten Blick scheinen will. Esra zum Beispiel lebt als Türkin in München, und doch ist sie alles andere als die typische materiell wie kulturell Not leidende Tochter einer Gastarbeiterfamilie. Ihr Vater war Amerikaner, ihre Mutter führt von Deutschland aus ein einträgliches Hotel in einen türkischen Badeort und setzt den dortigen Behörten in Umweltschutzfragen derart zu, dass man ihr für ihr wirkungsvolles öffentliches Engagement schließlich den – alternativen – Nobelpreis zuspricht. Adam ist Jude und hegt und pflegt den Verdacht, Esras Familie könnte den Dönme angehören, einer türkischen Bevölkerungsgruppe, die im 17. Jahrhundert gezwungenermaßen vom Judentum zum Islam übertrat, aber heimlich immer noch dem jüdischen Glauben anhängt. Zudem hat Adam zwar – wie Biller – seine Kindheit in der Tschechoslowakei verbracht und ist erst – wie Biller – nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings mit seinen Eltern in die Bundesrepublik übergesiedelt. Aber seine Mutter sei, legt sich der liebeskranke Adam zurecht, trotz ihres armenischen Großvaters eine halbe Türkin, denn sie wuchs in Baku auf, dem türkischen Aserbeidschan. Dieses fast manische Interesse für Abstammungen und Herkünfte, für Volksgruppen- und Religionszugehörigkeiten ist neben der Liebe zu Esra die zweite Besessenheit Adams. Er, der sich als Jude und Einwanderer aus Osteuropa als Außenseiter in Deutschland fühlt, bemüht sich verzweifelt darum, immer neue gemeinsame Zugehörigkeiten für sich und den Menschen zu konstruieren, den er liebt. Da er Jude ist, möchte er um jeden Preis, dass seine Esra zumindest den Dönme angehört. Da Esra in der Türkei aufwuchs, beschwört, ja erfindet er einen türkischen Zweig seiner Familie. Obwohl Adam ansonsten ein durchaus rationaler, nicht sehr religiöser Mensch ist, scheinen diese mehr oder minder an den Haaren herbeigezogenen Gemeinsamkeiten für ihn von nahezu mystischer Bedeutung zu sein: Er steigert sich sogar in das Gefühl hinein, Esra bereits gekannt zu haben, bevor er sie zum ersten Mal traf und ihr deshalb in besonderer, verwandtschaftlicher Nähe verbunden zu sein. Bewundernswert mit welch ironischen Distanz Biller seinen Ich-Erzähler oft behandelt: Immer wieder möchte sich Adam in seinen halb tragischen, halb hysterischen Berichten über die endlosen Konflikte mit Esra zu einer Art Märtyrer der wahren Liebe stilisieren. Aber Biller lässt der Leser gekonnt spüren, dass dieser selbsternannte Märtyrer vor allem an seiner schier grenzenlosen Egozentrik scheitert und eben erst in zweiter Linie an den äußeren Hindernissen, die sich ihm in den Weg stellen. Er glaubt, sich ritterlich für Esra aufzuopfern, im Grunde aber nutzt er sie emotional oft ebenso aus, so wie es alle anderen auch tun. Nicht zuletzt deshalb gelingt es Adam und Esra immer nur sehr vorübergehend einen Schutz-und-Trutz-Pakt gegen den Rest der Welt zu schließen. Und es liegt, so die melancholische Einsicht, die Billers Roman vermittelt, vielleicht sogar zwangsläufig an ihrer Außenseiter-Rolle, dass sie sich verfehlen. Esra ist ihr schweigendes Dulden inzwischen so sehr zur Natur geworden, dass sie Adam nicht mehr sagen kann, was sie sich wirklich von ihm wünscht: ein zweites, ein gesundes Kind. Und Adam kreist durch seine Dauerfeindschaft zu allem und jedem schon derart unrettbar ums eigene Selbst, dass er Esra gar nicht mehr wirklich wahrnimmt, ja nicht einmal Zeit und Kraft aufbringt, sich die wenigen Filme, die sie als Schauspielerin gemacht hat, ein einziges Mal anzuschauen. So ist Maxim Billers „Esra“ letztlich mehr als ein kluger, feinfühlig geschriebener, elegischer Liebesroman, es ist dazu ein Buch über die Erfahrung, wie viel schneller Heimat verschwindet als Heimatlosigkeit.
Maxim Biller: „Esra“. Roman Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003 214 Seiten, 18,90