„Mein Ich und sein Leben“

Erzählungen von Frank Goosen  

Beim Publikum kommt Frank Goosen gut an. Bei den Kritikern weniger. Da in seinen Büchern eine Menge Markennamen, Schokoriegel und Musikgruppen erwähnt werden, zählt man ihn gern zur Pop-Literatur. Doch im Grunde hat er mit ihr wenig gemein. Denn Pop-Literatur beschreibt Klischees: Sie erzählt von unserer Gegenwart, in der fast jede Lebensäußerung im Handumdrehen zur Mode, zum Trend, zum kulturellen Stereotyp erstarrt. Goosen dagegen reproduziert Klischees: Er strickt in seinen Romanen „Liegen lernen“ und „Pokorny lacht“ ganz ungebrochen fort an dürftigen, lang schon brüchig und müde gewordenen Mustern. Aber Goosen ist im Zweitberuf Kabarettist, er versteht etwas von Pointen. Sein gelegentlich hübsch böser Witz war schon an seinen Romanen das Beste. Im neuen Buch hat er „Komische Geschichten“ zusammengestellt, die dieser Genrebezeichnung oft alle Ehre machen. Sie handeln meist von den gleichen Themen wie die Romane, also vom Ärger junger Männer mit Lehrern und Frauen, Alkohol und Erwachsenwerden. Doch das in den Erzählungen weitaus günstigere Verhältnis zwischen Textlänge und Gag-Häufigkeit steigert das Lesevergnügen beträchtlich.

Frank Goosen: „Mein Ich und sein Leben“. Komische Geschichten Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004 224 S., 18,90 EUR

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„Wie viel Vögel“

 Das erstaunliche Debüt von Franziska Gerstenberg

Vieles in diesem Buch ist wirklich außerordentlich schön und gelungen. Der Anfang der Geschichte „Glückskekse“ zum Beispiel: „Marianna zu küssen war das eine. Marianna hatte einen blonden Zopf, dunkle Brauen und dunklen Flaum auf der Oberlippe. Ihr Körper war schwer und fest wie mit Puderzucker bestäubter Stollen.“ Drei einfache, kurze Sätze und sofort hat man als Leser nicht nur eine Figur vor Augen, blond und kräftig, mit Zopf und Flaum, sondern man glaubt den Körper dieses Mädchens regelrecht unter den Händen zu spüren, verführerisch wie ein Kuchenleib zur Weihnachtszeit. Und als spannungssteigernde Zugabe klingt außerdem noch an, dass diese Geschichte von mehr handeln wird, als von einer erotischen Begegnung: „Marianna zu küssen war das eine.“ Neben diesem einen muss man sich ganz offenbar noch auf etwas anderes gefasst machen. Und diese Erwartung trügt nicht. Ein solcher Auftakt ist wirklich sehr schön, ist gekonnt, ist handwerklich perfekt. Franziska Gerstenberg, gerade mal fünfundzwanzig Jahre alt, legt ihr erstes Buch vor „Wie viel Vögel“, einen Band mit fünfzehn Erzählungen, doch keine der Geschichten wirkt wie die einer Anfängerin. Die Autorin weiß genau, was sie tut, sie ist nicht naiv, sie setzt ihre Mittel sehr bewusst und zielsicher ein. Ihre Geschichten sind immer klar und gut gebaut, schlank und durchdacht, und manchmal sind sie noch mehr als das, manchmal entfalten sie, wie jene drei Anfangssätze einen eigenen Zauber. Dann zieht man beim Lesen im Geiste den Hut vor Franziska Gerstenberg und beglückwünscht sie zu ihrem prächtigen Talent. Sie erzählt fast ausschließlich von jungen, unsicheren, noch unfertigen Menschen. Von einem Paar beispielsweise, das drauf und dran ist, getrennte Wege zu gehen, sich zuvor aber noch eine Frist von fünf Tagen in Amsterdam gibt. Oder von zwei Freundinnen, die halb ängstlich, halb mitleidlos beobachten, wie die Ehen ihrer Eltern zu zerbröckeln beginnen, und die eine Wette abschließen, welche zuerst geschieden werden wird. Oder von einer zurückgezogen lebenden Frau, die gelegentlich mit den Handwerkern schläft, die in ihre Wohnung Rohre und Waschmaschinen reparieren, die aber mit ihrer Verführungskunst ausgerechnet an jenem Handwerker scheitert, der sehr symbolträchtig ihre Wohnung zur Außenwelt hin aufbricht, um eine neue Tür zum Balkon einzusetzen. Schon allein weil sich Franziska Gerstenberg auf solche schwankenden, noch unentschiedenen Menschen konzentriert, wirkt die Welt in ihrem Buch wie durchdrungen von diffuser Unruhe und Ratlosigkeit. So etwas wird dann in Rezensionen gern als literarisches Psychogramm einer orientierungslosen Jugend hingestellt, als Porträt einer gefährdeten Generation. Doch die Erzählungen sind, was sehr sympathisch ist, viel bescheidener. Sie spüren einzelne Menschen nach, nicht der Haltung ganzer Jahrgänge, Menschen, die sich an die ersten wichtigen Weggabelungen ihres Lebens herantasten, und die einfach noch nicht wissen, welche Richtung sie dort einschlagen werden. Eine Schwäche allerdings scheint diese kühl und klug kalkulierende Autorin bislang noch zu haben: Ihre Geschichten sind nicht sonderlich stimmungsstark. Sie entwickeln bei aller Anschaulichkeit und Lebendigkeit wenig Atmosphäre. Es macht Spaß sie zu lesen, aber es bleibt wenig von ihnen in Erinnerung, sie richten sich eher an den Verstand als an die Sinne. Doch dann stolpert man beim Lesen plötzlich wieder über einen dieser Sätze, bei dem einfach alles stimmt, einer wie die drei zu Anfang der Geschichte „Glückskekse“, und man denkt, Hut ab, was für ein Talent, was für ein Versprechen.

Franziska Gerstenberg: „Wie viel Vögel“. Erzählungen Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main 2004 229 Seiten, 18,90

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Die Welt ändern, damit sie zu den Träumen passt

Martin Heckmanns Sprach- und Revolutionsdrama „Kränk“ in Frankfurt uraufgeführt

„Die Sprache ist“, schrieb Karl Marx, „das praktische Bewusstsein“. Muss also ein Revolutionär, wenn er unser Bewusstsein radikal erneuern möchte, gar nicht die ökonomischen Verhältnisse umstürzen, wie Marx einst dachte, sondern schlicht eine neue Sprache erfinden? Christof, der Held aus Martin Heckmanns starkem Stück „Kränk“ – das jetzt im Kleinen Haus in Frankfurt uraufgeführt wurde – ist so ein Rebell, der die ganze Welt verändern will, damit sie endlich zu seinen Träumen passt: „Ich möchte mir vorstellen können, was über mich hinausgeht. Ich möchte erwarten können, was mir fremd ist. Ich möchte ein anderer werden als jemals einer war.“ Also schwärmt Christof von einem anderen Sprachsystem, sprich: Denksystem, nennt es Kränk, sich selbst Ernk und geht mit all dem seinem Vater gewaltig auf die Nerven. Der nämlich hält, wie sich das für den typischen Bühnen-Repräsentanten der herrschenden Ordnung gehört, zunächst eisern fest am Bestehenden und schwelgt mit Vorliebe in den fadesten Phrasen: „Die Freude ist auf meiner Seite“. Seine Frau Iris hat er mit solchem verbalen Schwach- und Starrsinn bereits in den Wahn und eine Irrenanstalt getrieben (wo sie bezeichnenderweise Sprachübungen macht) und möchte sie jetzt gern durch die nächste Dame namens Doris ersetzen. Dem hält Christof alias Ernk natürlich seine Utopie alias Kränk entgegen, tut sich mit dem Mädchen Rosa zusammen und probt mit ihr den Widerstand gegen die alte, verkommene Generation. Bis zu diesem Punkt wirkt Heckmanns Stück wie eine in expressionistische Wortfetzen gehüllte Variation auf Büchners „Leonce und Lena“: ein junges, kluges, verspieltes Liebespaar im Kampf gegen die erstarrten Bewusstseinsverhältnisse. Doch Heckmanns ist nicht von gestern und deshalb geht er über das bekannte Muster noch einen entscheidenden Schritt hinaus. Der Vater seines Stückes nämlich gewinnt trotz allen Starrsinns Gefallen am flotten Aufbegehren seines Sohnes, ja es schließt sich kurzerhand dessen Jugendbewegung an und spielt selbst Kränk. Wie ein neoliberaler Wirtschaftsideologe übernimmt er die ehemals revolutionär gedachte Idee der pausenlosen Innovation, „des permanenten Neu“, „des radikalen Änders“ für seine Zwecke: Du möchtest, könnte er seinen Sohn fragen, ein anderer werden als jemals einer war? Bitte sehr, verwirkliche Dich selbst, gründe Deine Ich-AG. Heckmanns hoch konzentrierter Text wird von der Regisseurin Simone Blattner in Frankfurt ebenso schwung- wie wirkungsvoll entfaltet. Sie gibt dem Stück einen präzisen Rhythmus und macht die rapiden Wortwechsel der Figuren auf diese Weise durchsichtig und gut verständlich. Doch ihre Inszenierung ist nie lehrstückhaft oder dozierend. Sie betont vielmehr mit einigen ganz einfachen und doch hinreißenden Einfällen die komischen Aspekte des Stückes – was ihm nur gut tut. Kurz: Mit einem Minimum an Aufwand erreicht sie ein Maximum an Effekt. Ähnliches gilt für die Schauspieler, die ihren intellektuell zugespitzten Rollen ein Menge Lust und Leben einhauchen. Babett Arens Auftritt als aus dem Tritt geratene, in die Anstalt abgeschobene Sprechmaschine ist virtuos witzig und virtuos erschütternd zugleich. Rainer Frank spielt einen Sohn, der aus tiefster innerer Not zu seiner Rebellion getrieben wird und Joachim Nimtz einen Vater, der aus tiefster innerer Zufriedenheit nie eine Chance hat, seinen Sohn zu verstehen. Der eigentliche Star des Abends aber ist der Autor. Martin Heckmanns wurde 2001/2002 von „Theater heute“ zum Nachwuchsautor des Jahres ausgerufen und sein – ebenfalls von Simone Blattner uraufgeführtes – Stück „Schieß doch, Kaufhaus!“ von vielen Kritikern über den grünen Klee gelobt. In „Kränk“ kreuzt er jetzt das Revolutionstheater von Heiner Müllers mit dem Sprachexperimentaltheater von Ernst Jandls. Und voilà: Was unter seinen Händen aus dieser gewagten Mischung entsteht, ist kein bizarrer Bastard, sondern ein kraftvoller, wohlgestalteter Sprössling, der zu den schönsten Hoffnungen Anlass gibt.

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„Landnahme“

In Christoph Heins neuem Roman ist alles wie immer – und doch gibt das Buch Rätsel auf
Christoph Hein, der im April seinen sechzigsten Geburtstag feiert, kann sich über mangelnde Anerkennung nicht beklagen. Er ist ein gern gespielter Theaterautor, ein hoch geschätzter Essayist und ein vielfach preisgekrönter Erzähler. Für diesen Erfolg gibt es gute Gründe, denn Hein hat ein Talent, das in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht allzu weit verbreitet ist: Er versteht es, aus dem gewöhnlichen Leben gewöhnlicher Zeitgenossen gut lesbare, kluge Geschichten zu destillieren. Seit er vor über zwanzig Jahren mit der Novelle „Der fremde Freund“ bekannt, ja berühmt wurde, hat er mit fünf Romanen und einem Erzählungsband ein imponierendes Gesellschaftspanorama der DDR und in Ansätzen auch des wiedervereinigten Deutschlands entworfen. Man muss Christoph Hein heute zu den wichtigsten Schriftstellern seiner Generation zählen. Zugegeben, ein großer Sprachartist ist er nie gewesen. Doch das sind, bedauerlicherweise, viel zu viele Erzähler nicht. Hein schreibt ein schlichtes, aber meist dichtes Deutsch und pflegt eine auffällige Vorliebe für Rollenprosa: Anstatt seine Figuren von außen zu beobachten, schlüpft er gern in ihre Haut, lässt sie über manche ihrer Geschäfte, Gedanken, Gefühle plaudern und über manche andere schweigen – und natürlich verrät ihr Schweigen weit mehr über sie, als ihre so bereitwillig erteilten Auskünfte. Gewöhnlich sind es keine starken und mutigen Menschen, die Hein zu seinen Helden macht, sondern eher ernüchterte, desillusionierte Charaktere, die vor ihren Verletzungen in Zynismus und Bitterkeit flüchten. Sie würden, so behaupten sie, nur zu gern für eine bessere Welt kämpfen. Aber müde und verzagt wie sie sind, machen sie es sich doch lieber im Unglück bequem und finden sich ab mit der angeblich unrettbar bösen Welt. In beidem, im immerfort spürbaren Verständnis dieses Autors für die Schwächen seiner Figuren, wie in seinem immerfort spürbaren Appell an die Leser, es diesen Figuren ja nicht gleichzutun, schwingt bis heute etwas mit von Heins Herkunft aus einer Pfarrerfamilie. Fast alle diese Zutaten finden sich auch in seinem neuen, seinem bislang umfangreichsten Roman „Landnahme“: Da ist der Versuch, ganze Jahrzehnte der DDR-Geschichte aus einer Alltagsperspektive nachzuerzählen. Da sind die Durchschnittsfiguren, die selbst wortreich über ihre Durchschnittsnöte berichten. Da sind die kleinen seelischen Kränkungen, die aus den Menschen mit der Zeit kleinliche, kranke Seelen machen. Alles ist da, alles ist wie immer bei Hein – und dennoch stimmt in diesem Roman wenig zusammen. Er wirkt oberflächlich, flüchtig und lieblos zusammengeschustert. Er ist, um es gleich deutlich zu sagen, rundum missglückt, er ist die Bankrotterklärung eines routinierten Erzählers. Im Mittelpunkt des Buches, das keinen Mittelpunkt hat, steht Bernhard Haber. Er ist der Sohn eines aus Schlesien vertriebenen Tischlers, den es nach dem Krieg in die fiktive sächsische Kleinstadt Bad Guldenberg verschlägt. In diesem Ort, der auffällige Ähnlichkeiten mit dem sächsischen Bad Düben hat, wo Christoph Hein einen Großteil seiner Jugend verbrachte, siedelte Hein bereits seinen Roman „Horns Ende“ (1985) an. Fünf Menschen aus Guldenberg dürfen diesmal zu Wort kommen: Zwei ehemalige Schulkameraden Bernhards, eine Jugendfreundin, eine Schwägerin und ein Geschäftsfreund. Sie alle berichten hauptsächlich von sich selbst und nur nebenher über Bernhards gut vier Jahrzehnte überspannende Karriere vom Außenseiter des Städtchens zu einer ihrer einflussreichen Persönlichkeiten. Hein scheint mit seinem Roman noch einmal die seit Balzacs Zeiten geläufig gewordene Ansicht exemplifizieren zu wollen, dass sich hinter jedem großen geschäftlichen Erfolg letztlich ein großes Verbrechen verberge. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn Hein zu diesem Zweck ein Minimum an erzählerischer Fantasie aufwendete. Doch die Konstruktion seiner Fabel ist erschütternd anspruchslos: Kaum hat Bernhards Vater, der Vertriebene, seine erste Tischlerwerkstatt eröffnet, die den eingesessenen Handwerkern des Ortes naturgemäß ein Dorn im Auge ist, fällt sie schon einem Brandanschlag zum Opfer. Als sich Bernhard davon nicht abschrecken lässt und ebenfalls Tischler wird, fliegt auch in seiner Arbeitshalle ein Brandsatz durchs Fenster – woraufhin er sich in wüsten Verdächtigungen gegen einen Konkurrenten ergeht, dessen Werkstatt dann prompt genauso in Flammen aufgeht. Ist es übertreiben, wenn man sich davon an banale Heimatfilmchen erinnert fühlt, in denen verfeindete Bauerntölpel einander gegenseitig die Höfe über den Köpfen anzünden? Ob Christoph Hein tatsächlich glaubt, mit einer so bescheidenen Konstruktion den sozialen Spannungen bei der Integration von Vertriebenen in die DDR-Gesellschaft literarisch gerecht zu werden? Und schließlich: Ist es wirklich glaubwürdig, dass die Polizei keinem dieser Anschläge – samt einem möglichen Mord an Bernhards Vater – auf die Spur kommt? Ist Bad Guldenberg eine Stadt perfekter Verbrecher? Gemessen an diesem provozierend grobschlächtigen Austausch von Molotow-Cocktails ist jedenfalls Balzacs Schilderung, wie Anfang des 19.Jahrhunderts einer Druckerei im provinziellen Angoulême von der Konkurrenz das Lebenslicht ausgeblasen wird, von wahrhaft berauschender Subtilität. Vielleicht wäre das alles nicht so schlimm, wenn Hein mit seinem Helden eine fesselnde, farbige, psychologisch vieldeutige Figur entworfen hätte. Doch Bernhard ist ein durch und durch dumpfer, beschränkter Charakter. Auf die Zurückweisung, die ihm als Vertriebenenkind entgegenschlug, reagiert er mit kleinen, heimtückischen Racheakten, ansonsten aber fügt er sich kaltblütig und ohne wahrnehmbare innere Konflikte in die schäbige Guldenberger Gesellschaft ein. Verglichen mit den früheren Helden Christoph Heins, die noch in ihrer Wehleidigkeit den Wunsch nach Stärke, noch in ihrer Gemeinheit die Sehnsucht nach Güte spürbar machten, ist Bernhards Persönlichkeit flach wie ein Tischlerhobel. Auch die fünf Gewährsleute, die über Bernhards Leben Auskunft geben, sind eher eindimensionale Naturen. Hein gelingt es kaum, sie durch ihre Sprache zum Leben zu erwecken, ihnen Individualität zu verleihen. Und wenn er es dennoch versucht, wie bei seinem ersten Erzähler namens Nicolas, dann stellt er damit die Geduld seiner Leser auf eine gnadenlose Probe: Denn dieser Nicolas erweist sich als ein unglaublich geschwätziger Pedant, der kaum etwas zu sagen hat, dafür aber das wenige, das er berichtet, oft zwei- oder dreimal fast wortgleich wiederholt. Hat der Leser diese herbe Prüfung hinter sich, stößt er auf eine seltsam profillose, kaum fassbare Erzählerin, die sich selbst erst als besonders begriffsstutzig, dann als besonders schlagfertig darstellt: „Mir fiel keine Entgegnung ein, jedenfalls nicht sofort, sondern immer erst Stunden später“. Einige Seiten weiter aber behauptet sie: „Ich sah gut aus und war immer tipptopp angezogen, und auf den Mund gefallen war ich nicht. Wenn das letzte Wort gefallen war, wenn irgendwas zu einem Abschluss gekommen war, dann konnten alle darauf wetten, dass mir noch eine Bemerkung einfiel, die ich laut verkünden musste“. Kann es sein, dass Hein über die Figuren, die er hier munter plappern lässt, nie gründlicher nachgedacht hat? Dass er sich keine Mühe gab, ihnen konzise Persönlichkeiten zu verleihen? Ärgerlich an diesem Roman ist zudem, dass Hein über das spezifische Schicksal eines Vertriebenen in der DDR – das er selbst teilt, er wurde 1944 in Schlesien geboren – nichts Bemerkenswertes mitzuteilen hat. Aus den Erzählungen der fünf Berichterstatter ist wenig über Bernhards Seelenleben, kaum etwas über das seines Vaters und nichts über den Rest der Familie zu entnehmen. Nie ist vom Verlust der Heimat oder von Trauer um sie die Rede. Und wie wenige Möglichkeiten die offiziell Um- oder Aussiedler genannten Vertriebenen in einem totalitären sozialistischen Land hatten, ihre Interessen und ihren Kummer politisch zu artikulieren, kommt nicht mal am Rande vor. Wie dürftig dieses neue Buch Heins letztlich ist, wird deutlich, wenn man es neben seinen alten, ebenfalls in Bad Guldenberg spielenden Roman „Horns Ende“ hält, oder besser noch neben seinen Prosaband „Von allem Anfang an“, in dem Hein von der eigenen Jugend in der sächsischen Provinz berichtet. In beiden Büchern wird die Atmosphäre der fünfziger Jahre, die geistige und seelische Enge vieler Menschen dieser Zeit, der Irrwitz der sozialistischen Diktatur und das lähmende Dahindämmern des weltverlorenen Kurortes mit ungleich größerer Intensität veranschaulicht. „Landnahme“ wirkt dagegen wie ein matter Abklatsch, wie eine kümmerliche Selbstkopie ohne künstlerischen Ehrgeiz. Weshalb ein erfahrener Erzähler wie Christoph Hein einen solchen Roman abliefert, ist ein Rätsel. Mag sein, dass ihn die seit zwei Jahren rumorende Debatte um die Leiden der deutschen Vertriebenen dazu verführt hat, seine Hauptfigur mit einem biographischen Hintergrund auszustatten, der ihn nicht wirklich interessierte, und den er deshalb nicht mit der nötigen literarischen Ernsthaftigkeit entfaltete. Mag sein, dass Hein mit seinem Talent, empfindsame und resignierte Menschen zu schildern, letztlich an seiner Hauptfigur Bernhard Haber gescheitert ist – denn die erweist sich zwar als dümmlich und hohl, aber auch als durchsetzungsfähig und erfolgreich. Doch im Grunde sind solche Spekulationen müßig. „Landnahme“ ist ein zäher, sprachlich oft erbärmlich schwacher, einfallsloser Roman. Wer gern etwas von Christoph Hein lesen möchte, sollte lieber zu einem seiner früheren Bücher greifen. Oder einfach auf das nächste warten.

Christoph Hein: „Landnahme“. Roman
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004 357 Seiten, 19,90 €.

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„Eine Familie, irgendwie“

 Tony Earley erzählt fast wahre Geschichten
Stammte dieses Buch von einem deutschen Autor, wäre seine Veröffentlichung heute und hier zu Lande ein heikles Unterfangen. Gut möglich, dass manche Verlage das Risiko scheuen und den Band vorsichtshalber ablehnen würden. Denn der Amerikaner Tony Earley hat, wie es im Untertitel heißt, „Fast wahre Geschichten“ über die eigene Familie geschrieben. Er legt dabei großen Wert auf Authentizität und schont oder schönt seine Angehörigen nicht. Es kommt also allerlei zur Sprache, was empfindsame Gemüter als abträgliche Darstellung ihrer Person empfinden könnten. Bedenkt man, wie Gerichte in München und Berlin derzeit mit den Romanen „Esra“ von Maxim Biller und „Meere“ von Alban Nicolai Herbst umspringen, erfüllte auch Earleys Band „Eine Familie, irgendwie“ alle Voraussetzungen für ein umfassendes Verbot. Denn natürlich werden in dem Buch die Persönlichkeitsrechte etlicher potentieller Kläger verletzt und Earley unternimmt keinerlei Versuch, die Übereinstimmung zwischen seinen Figuren und ihren lebenden Vorbildern als zufällig oder unbeabsichtigt auszugeben: „Gedächtnis und Phantasie erscheinen mir“, schreibt er im Vorwort, „als verschiedene Namen für ein und dieselbe menschliche Eigenschaft“. Entschiedener kann man Literatur nicht von dem im Gedächtnis des Autors gespeicherten Bild der Realität abhängig machen – und also auch von der Freiheit des Autors, dieses Bild ohne juristische Befürchtungen formulieren zu dürfen. In jüngster Zeit wurden Biller und Herbst öffentlich mitunter kuriose Vorschläge gemacht, wie sie ihre Bücher hätte schreiben können, ohne die Rechte der jeweiligen Klägerinnen zu verletzen – ganz so als sei es eine künstlerisch abwegige Idee, ‚fast wahre’ Geschichten erzählen zu wollen. Am Beispiel der eindrucksvollen Storys von Earley lassen sich dagegen die besonderen und schwer ersetzbaren ästhetischen Qualitäten eines eng am Tatsächlichen orientierten Erzählens studieren. Earley ist in den Appalachen North Carolinas aufgewachsen und fängt das bäuerliche Milieu der „Blauen Berge“ suggestiv ein. Die Landschaft gilt als eine der ärmsten und abgeschlossensten der USA. Da die Existenzbedingungen dort ungewöhnlich hart sind, blieben vor allem die – milde formuliert – am wenigsten flexiblen und aktiven Menschen in der Region. Bis tief ins 20. Jahrhundert hinein, konnte man in diesem Gebirgszug noch Verhältnisse antreffen, die deutlich an das Leben der Einwanderer 200 Jahre zuvor erinnerten. Tony Earley ist erst 1962 geboren und die Appalachen wurden inzwischen durch, wie er schreibt, „Straßenbauprojekte, das Radio und den Versandhauskatalog von Sears-Roebuck bis in die finstersten Täler“ hinein verändert. Dennoch spürt er in seinen Geschichten, was ihnen eine hohe innere Spannung und Glaubwürdigkeit verleiht, dem Erbe der einfachen, auf kargen, isolierten Farmen lebenden Vorfahren im eigenen Leben nach. Er fühlte sich ihnen nie rundum zugehörig, wurde von den Großeltern immer als „quare“, als seltsam oder komisch bezeichnet, und kann sich doch von seinen Angehörigen und seiner Heimat nicht wirklich lösen. In der vielleicht schönsten Erzählung lässt er die vier Generationen überspannende Historie seiner Familie vor dem Hintergrund der Diele eines Hauses, das sein Urgroßvater baute, wie auf einer Theaterbühne abschnurren. Und macht zugleich kenntlich, wo die Widersprüche zwischen den Gesetzen sinnstiftender Fiktion und den sinnfernen Fakten liegen: „In Wirklichkeit ist die Diele schlicht ein Raum von einundvierzig Fuß Länge, neun Fuß und zwei Inches Höhe und gut sechs Fuß Breite, durch den meine Familie seit vierundachtzig Jahren läuft. Von allen Wirklichkeiten, die wir in der Diele versammelt und verwahrt haben, macht mir die folgende am meisten zu schaffen: Geschichten aus dem Leben enden selten so, wie wir es uns wünschen. Sie sind einfach irgendwann zu Ende.“ Earley ist alles andere als naiv, er glaubt keineswegs Leben und Literatur, Geschehnis und Geschichte in eins setzen zu können. Doch nutzt er, ähnlich wie J.D. Salinger, den er verehrt, die vielfach betonte Authentizität seiner Erzählungen, um die Leser wieder empfänglich zu machen für Szenen und Effekte, die sonst abgenutzt oder unglaubwürdig wirkten. Bei Earley ist dies vor allem der Einbruch des Wunderbaren in die alltägliche Welt: Wenn er zum Beispiel in der gleicher Nacht wie seine Mutter von der toten Schwester träumt, oder wenn er im letzten Moment vom Selbstmord abgehalten wird, weil er glaubt, in einem dunklen Nebenraum der Kirche Gott zu begegnen, dann nimmt Earley solche melodramatischen Auftritten durch seinen federnden ironischen Ton jede Peinlichkeit, verleiht ihnen aber zugleich einen eigentümlichen Ernst, da er immer klarstellt, dass solche Szenen nicht erfunden sind. Earleys Geschichten erschienen, von „The Oxford American“ über „Harper’s“ bis zum „New Yorker“ in einigen der besten amerikanischen Zeitschriften. Schon an einem solchen Ort hätten sie, angesichts des neuen persönlichkeitsrechtlichen Purismus hier zu Lande nicht gedruckt werden können, sobald eine der dargestellten Personen Anstoß nähme. Was dann gegen jene Personen, nicht aber gegen die Geschichten spräche. Earleys Band macht nicht zuletzt kenntlich, worauf die deutsche Literatur wird verzichten müssen, wenn die jüngste Rechtsprechung sich auf Dauer durchsetzt.

Tony Earley: „Eine Familie, irgendwie“. Fast wahre Geschichten Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2003 176 Seiten, 18,00 €

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Nicht fragen. Überleben.

Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über Holocaust, Vertreibung und die ersten Jahre in Deutschland sowie über Ulrike Meinhof  

Uwe Wittstock: Sie haben die Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass sehr gelobt. Nicht nur mit diesem Buch, aber auch mit ihm kam eine lebhafte Diskussion um die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs in Gang. Hat denn die deutsche Literatur Ihrer Meinung nach bei der Darstellung dieser Leiden etwas versäumt?
Marcel Reich-Ranicki: Nein, man kann nicht sagen, die deutsche Literatur habe hier völlig versagt. Ich habe, als die Diskussion um Bombenkrieg und Vertreibung in der Literatur begann, Volker Hage vom „Spiegel“ darauf aufmerksam gemacht, dass ein Autor in den Nachkriegsjahren sehr genau über die Leiden der Deutschen unter den Luftangriffen geschrieben hat. Von diesem Autor hatte er nie im Leben auch nur den Namen gehört: Gert Ledig. Sein Roman „Vergeltung“ beschreibt mit großer Anschaulichkeit das Bombardement einer deutschen Großstadt. Doch das Buch wurde bei seinem Erscheinen 1956 von den Kritikern abgelehnt und von den Lesern nicht gekauft. Und das ist nicht der einzige Fall. Auch Wolfgang Koeppen schrieb einiges über die Leiden der Deutschen im Krieg in „Tauben im Gras“ (1951). Das Buch, das ich zu den bedeutendsten deutschen Romanen nach 1945 zähle, ist nie beim breiten Publikum angekommen.
Wittstock: Aus welchem Grund?
Reich-Ranicki: Zunächst einmal: Auch in der deutschen Literatur der zwanziger Jahre spielte der Erste Weltkrieg zunächst keine große Rolle. Erst gegen Ende der Weimarer Republik kam Arnold Zweigs „Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927), Ludwig Renns Roman „Krieg“ (1928) und Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929). Viele Menschen, denen etwas Schreckliches zugestoßen ist, die es aber überlebt haben, wollen von diesem Schrecklichen zunächst einmal nichts mehr hören, sie wollen es verdrängen – meist aus psychologischen, nicht aus politischen Gründen. Ich kenne Juden, denen in Konzentrationslagern entsetzliche Dinge widerfahren sind, die aber, als in Frankfurt der Auschwitz-Prozess stattfand, nicht einmal die Prozess-Berichterstattung in den Zeitungen verfolgten. Die Menschen sind wohl erst zehn oder zwanzig Jahre nach Kriegsende bereit und in der Lage, sich in der Literatur mit den Schrecknissen eines Krieges zu beschäftigen, weil dann allmählich eine neue Generation nachwächst, die den Krieg nicht selbst erlebt hat, und die Älteren, die alles miterlebten, Distanz zu ihm gewonnen haben. Wittstock: Die Debatte um Bombenkrieg und Vertreibung begann aber erst jetzt, mehr als 50 Jahre nach Kriegsende. Warum haben sich die Deutschen nicht mit Ledigs Buch oder dem Koeppens beschäftigt? Oder etwa mit der Beschreibung der Flucht deutscher Zivilisten vor der Roten Armee in Christa Wolfs Buch „Kindheitsmuster“ (1976)?
Reich-Ranicki: Alles in allem glaube ich nicht, dass sich die deutschen Verleger Manuskripte auf annehmbarem Niveau über diese Themen hätten entgehen lassen. Aber es wurden offenbar keine geschrieben. Es hat doch eine Scheu gegeben bei den Autoren, nach allem, was die Deutschen den anderen Völkern angetan hatten, nun gleich mit der Gegenrechnung zu kommen und zu beschreiben, was den Deutschen angetan wurde. Man kann aber nicht allein den Schriftsteller oder der Literatur den Vorwurf machen, hier sei etwas versäumt worden. Man muss diesen Vorwurf auch an das Publikum richten, an die Bombardierten und Vertriebenen, sie haben sich um die wenigen Bücher, die über ihr Schicksal geschrieben wurden, nicht gekümmert.
Wittstock: Das Buch „Brand“ des Historikers Jörg Friedrich über den Bombenkrieg und sein jetzt erschienener Bildband „Brandstätten“ sind große Erfolge. „Brand“ wurde von bekannten Historikern und Schriftstellern sehr gelobt. Wird hier das Leiden der Deutschen im Krieg gegen die Verbrechen der Deutschen ausgespielt? Werden hier strategisch die Bilder vom zerbombten Deutschland gegen die Bilder von den KZs oder des Warschauer Gettos gestellt?
Reich-Ranicki: Nein, das meine ich nicht. Was sich in den KZs abgespielt hat, ist inzwischen vielfach beschrieben worden. Bombenkrieg und Vertreibung wurden dagegen viel seltener dargestellt. Es ist meiner Meinung nach vollkommen gerechtfertigt, auch diese Aspekte des Krieges in der Literatur zum Thema zu machen. Ich bin der Ansicht, dass es keine Themen gibt, die von der Literatur ausgeschlossen werden sollten. Dass Luftkrieg und Vertreibung in früheren Jahren tabuisiert wurden, mag verständlich sein, aber ich war damit nie einverstanden.
Wittstock: Sie sind bereits im Januar 1946 von Polen aus nach Berlin gereist. Welchen Eindruck machte die zerbombte Stadt auf sie im Vergleich zu Warschau?
Reich-Ranicki: Der Unterschied war sehr groß. Schon als ich Ende September 1939 nach dem Sieg der Wehrmacht über Polen Warschau von Osten her wieder betrat, war ich entsetzt. Ich hatte den Eindruck, die gesamte Stadt sei vernichtet, es gebe keine Häuser mehr, nur noch Ruinen. Tatsächlich war es zwar schlimm, aber nicht ganz so schlimm, wie ich zunächst vermutete. Doch das war erst der Anfang des Krieges, in den folgenden Jahren wurde die Stadt immer weiter zerstört. Verglichen damit war Berlin eine nur wenig zerstörte Stadt. Ich fuhr 1946 mit dem Auto nach Berlin hinein, ich sah den Alexanderplatz; ich sah Unter den Linden, sah das Brandenburger Tor, ich erkannte alles wieder. Von Warschau war ja fast nichts geblieben. Der Lebensstandard war damals in Berlin viel höher als in Warschau. Es gab Läden, es gab Waren, man konnte einkaufen. Es waren viele Häuser stehen geblieben, und die Wohnungen waren zum Teil glänzend möbliert.
Wittstock: Haben Sie in Polen in den letzten Kriegsmonaten und nach Kriegsende je Übergriffe der Polen auf deutsche Zivilisten beobachtet? Reich-Ranicki: Überhaupt nicht. Ich lebte damals in Warschau, und in Warschau gab es keine deutschen Zivilisten mehr. In Kattowitz, wo ich in dieser Zeit ganz kurz war, zehn, zwölf Tage, da habe ich einmal Polen gehört, die sagten: „Na, heute Abend knöpfen wir uns mal ein paar Deutsche vor.“ Da ging es darum, diesen Deutschen irgendwelche Habseligkeiten wegzunehmen: Schuhe, Anzüge, Pelze und so weiter. Ob diese Polen ihren Plan verwirklicht haben, das weiß ich nicht.
Wittstock: Sie waren damals Mitte zwanzig, hatten fünf Jahre brutaler Verfolgung hinter sich, fast alle Ihre Familienmitglieder und die Ihrer Frau waren ermordet worden. Den wenigen anderen überlebenden Juden ging es ebenso. Können Sie sich daran erinnern, welche Empfindungen die Überlebenden für Deutsche und Deutschland hatten? Schließlich gab es deutsche Kriegsgefangene im Land.
Reich-Ranicki: Dass es in Warschau deutsche Kriegsgefangene gab, habe ich erst Jahre später erfahren. Hermann Kant ist in diesem Lager gewesen, Anna Seghers hat das Lager einmal besucht, damals habe ich sie nicht gesehen. Was mich in den ersten Wochen nach meiner Befreiung interessierte, war allein der Krieg: Wie und wann wird er zu Ende gehen? Es gab keine Radios, die Deutschen hatten sie alle beschlagnahmt, die Zeitungen waren miserabel, ihnen war nur die sowjetische Sicht der internationalen Vorgänge zu entnehmen. Informationen zu bekommen, verlässliche Informationen und dazu das Überleben in der Stadt zu organisieren, Essen, Trinken, Heizung, Wohnung, mit all dem waren wir vollauf beschäftigt, da blieb wenig Zeit, über Deutsche nachzudenken.
Wittstock: War von der Vertreibung der Deutschen in Warschau nichts zu spüren?
Reich-Ranicki: Entschuldigen Sie bitte, die Leute, mit denen ich 1945 in Warschau zu tun hatte, interessierten sich wirklich nicht dafür, ob Deutsche vertrieben wurden und unter welchen Umständen. Sie müssen eins verstehen, was heute offenbar schwer zu verstehen ist: Die Leute, mit denen wir zu tun hatten, kamen alle aus der Sowjetunion. Das waren Leute, die aus Polen stammten, meist Juden, die mit der Roten Armee oder den polnischen Divisionen innerhalb der Roten Armee nach Polen kamen. Das waren Soldaten, die einen Weg von Tausenden von Kilometern zurückgelegt hatten, aus Inner-Asien, aus Samarkand oder Taschkent. Sie waren oft miserabel ausgerüstet, die Uniformen waren dürftig, die Verpflegung war oft schlecht. Diese Leute kamen nun nach Polen, in die Provinz Posen, nach Schlesien oder so. Und wenn die etwas zum Anziehen brauchten oder Hunger hatten, meinen Sie, die machten sich lange Gedanken? Die gingen in eine deutsche Wohnung, ein deutsches Haus und nahmen Pullover oder Schuhe oder Mäntel mit, was immer sie gerade brauchten. Einer dieser Soldaten hat mir mal gesagt, er habe sich bei Deutschen was geholt, und sagte dann noch: Sonst habe ich denen nichts angetan. Er hat sich gerühmt, dass er sie nicht erschossen hat, was er vielleicht auch hätte tun können. Dann gab es Leute, die, nachdem sie an der Weichsel angekommen waren, erfuhren, dass ihre ganzen Familien ermordet worden waren, von Deutschen ermordet, dass sie keine Eltern mehr hatten, dass sie keinen Bruder, keine Schwester mehr hatten. Glauben Sie, dass sich diese Leute lange Gedanken darüber machten, ob den Deutschen jetzt, bei der Vertreibung, möglicherweise ein Unrecht geschieht? Es war nicht der Zeitpunkt für großes Mitleid mit den deutschen Opfern dieses Kriegs. Denn sie dürfen eins nicht vergessen, was oft viele vergessen: Es waren die Deutschen, die diesen Krieg begonnen haben. Wittstock: Als Sie 1958 in die Bundesrepublik kamen: Wie gingen damals die Journalisten und Literaten, denen Sie begegneten, mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Judenverfolgung um?
Reich-Ranicki: Im Grunde tauchte das Thema in Gesprächen nicht auf. Ich habe das Thema auch nicht angeschnitten. Bitte stellen Sie sich meine Situation richtig vor: Ich kam 1958 nach Deutschland mit einem kleinen Koffer. Mein Sohn war vorläufig bei meiner Schwester in London untergebracht. Meine Frau hatte keine Erlaubnis, in England zu bleiben, sie ist deshalb nach Paris gegangen zu einer Tante. Wir hatten nichts, wir mussten kämpfen ums Dasein. Ich habe damals Rundfunksendungen geschrieben, um Geld zu verdienen, und habe für das miserable Honorar, das „FAZ“ und WELT zahlten, Rezensionen geschrieben, um mir einen Namen zu machen. Die Vergangenheit der Leute hat mich unter diesen Bedingungen nicht so sehr interessiert. Ich konnte die Menschen, die ich kennen lernte, doch nicht gleich fragen: Was haben Sie eigentlich im Krieg gemacht? Über diese Zeit wurde mir gegenüber allenfalls in Nebensätzen geredet, in Andeutungen. Selbst mein Freund Siegfried Lenz hat damals vor mir verheimlicht, dass er in der Napola (einer der „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten“ der Nazis) und dann Deserteur war. Ich habe das erst 20 Jahre später erfahren.
Wittstock: In einem Gespräch mit Joachim Fest sagten Sie einmal, Sie hätten damals keine Zeit gehabt, über die Vergangenheit nachzudenken, Sie hätten arbeiten müssen, da Sie ohne einen Pfennig nach Deutschland kamen. Dasselbe sagten auch Deutsche nach 1945: Sie müssten arbeiten, um das Land wieder aufzubauen, und konnten sich nicht den Luxus leisten, über Vergangenes nachzudenken. Alexander Mitscherlich brachte das auf die Formel von der „Unfähigkeit zu trauern“.
Reich-Ranicki: Es gibt dazu einen guten Satz von Rudolf Augstein. Er wurde gefragt, ob er während des Krieges als Soldat mit irgendwelchen Widerstandsaktionen zu tun hatte. Er antwortete: Ich war damals ganz und gar von einer anderen großen Aufgabe in Anspruch genommen, nämlich der zu überleben. Ich habe mir die Frage, die Sie jetzt stellen, selber kaum gestellt. Unter jüdischen Emigranten hieß es damals, es sei schwer, nach Deutschland zurückzureisen, denn wem könne man dort noch die Hand geben? Ich habe mir diese Frage nicht gestellt.
Wittstock: Sie veröffentlichten in Deutschland Ihre ersten Bücher im Piper Verlag. Ein Geschäftsführer dieses Verlages war Hans Rößner. Inzwischen haben Forschungen des Historikers Michael Wildt ergeben, dass Rößner seit November 1934 SA-Mitglied war und dann als Germanist für das Reichssicherheitshauptamt arbeitete. Welches Verhältnis hatten Sie zu Rößner? Hat er versucht, Einfluss auf Ihre Arbeit zu nehmen?
Reich-Ranicki: Das mit Rößner habe ich jetzt erst erfahren. Das war der Finanz- und Verwaltungschef des Piper-Verlags, er hatte mit dem Lektorat und der Zusammenarbeit mit den Autoren nichts zu tun. Er hatte auf die Inhalte meiner Bücher nicht den geringsten Einfluss.
Wittstock: Michael Wildt zitiert in seinem Buch „Generation des Unbedingten“ (Hamburger Edition) Briefe von Rößner an Hannah Arendt. Unter anderem bemühte sich Rößner, das Wort „Juden“ aus dem Untertitel des Buches von Hannah Arendt über Rahel Varnhagen zu entfernen.
Reich-Ranicki: Wahrscheinlich glaubte Rößner, das Buch über die Rahel Varnhagen werde sich mit dem Wort „Jüdin“ im Untertitel in Deutschland schlechter verkaufen. Aber mit dem Text des Buches hat er sich nicht befasst. Ich kann ihnen nur sagen, wie es bei mir war: Meine Lektoren in dem Verlag waren Reinhard Baumgart, dann Walter Hinderer und dann Otto F. Best. Nur mit diesen Lektoren habe ich über die Inhalte meiner Bücher verhandelt. Rößner hatte keinen Einfluss auf sie. Ich habe ihn mehrfach gesehen in dieser Zeit, aber ich bin doch nie auf die Idee gekommen zu fragen, was für eine Vergangenheit er habe. Das war damals nicht üblich. Es war eigentlich doch selbstverständlich, dass alle über ihre Vergangenheit nicht reden wollten, weil sie alle mehr oder weniger Nazis gewesen waren. Nicht gleich im Reichssicherheitshauptamt. Wenn ich das von Rößner gehört hätte, das hätte mir einen Schock versetzt.
Wittstock: Susan Sontag, die diesjährige Friedenspreisträgerin, erinnerte jetzt in ihrer Paulskirchenrede an ihren deutschen Lektor Fritz Arnold, Jahrgang 1916. Der habe in den siebziger Jahren zu Beginn ihrer Zusammenarbeit das Bedürfnis gehabt, ihr, der Amerikanerin jüdischer Herkunft, genau zu berichten, was er, der deutsche Wehrmachtssoldat, während des Zweiten Weltkrieges getan habe. Er hatte nicht einen einzigen Schuss abgefeuert. Haben sich in ähnlicher Weise Journalisten oder Autoren an Sie gewandt? Reich-Ranicki: Nein, niemals. Aber es sind andere Sachen passiert. Es haben sich Leute im Gespräch mit mir ein bisschen gerühmt, wegen irgendwelcher geringfügigen Kontakte mit Juden während der Nazi-Zeit. Wenn meine Frau und ich damals eingeladen waren, meist bei Leuten aus unserer Branche: Zeitung, Rundfunk, Verlage, da passierte mehr als ein Mal etwas, was für uns sehr bemerkenswert war. Am späteren Abend, so gegen elf Uhr abends, kam irgendeiner der Herren, nahm meine Frau oder auch mich in einen Winkel des Zimmers beiseite und sagte: Sie müssen wissen, ich bin während des Krieges ins Warschauer Getto gegangen, weil ich das sehen und weil ich den Menschen dort etwas Butter und Schmalz bringen wollte. Immer waren es beabsichtigte Wohltaten, die unsere Gesprächspartner ins Getto geführt hatten. Meine Frau fragte mich einmal: Wo kamen eigentlich all die Soldaten her, die gemordet haben, alle haben doch nur Butter gebracht? Ich muss Ihnen sagen, dass meine Frau und ich damals nicht so das Bedürfnis hatten, genau zu erfahren, was die Leute während des Kriegs gemacht hatten. Solche Gespräche waren, wenn sie denn mal geführt wurden, für uns immer sehr schwierig. Wir haben einen Abend erlebt bei Klaus Rainer Röhl in Hamburg, damals Ehemann von Ulrike Meinhof, seine Frau war dabei: Da hat Röhl eine Stunde lang über seine Erlebnisse in der HJ erzählt, und zwar mit ziemlich viel Nostalgie und Sentimentalität: Die Lagerfeuer und die Lieder, und wie sie so marschierten. Es war kein Schreckensbericht, sondern eher eine Erzählung nach dem Motto „Ach Gott, die Jugend, sie war doch so schön“.
Wittstock: Das spricht dafür, dass Röhls Bericht ehrlich war.
Reich-Ranicki: Ja, natürlich war er ehrlich. Wir kamen auch nicht auf die Idee, ihm das zu verübeln. Niemandem kann man seine schönen Jugenderinnerungen an die HJ verübeln – aber die Erinnerungen von meiner Frau und mir aus dieser Zeit sind eben ganz andere, und der Kontrast hat uns, Sie werden das verstehen, gelegentlich geschmerzt. Wittstock: Wer sprach sonst noch mit ihnen über die Nazi-Jahre? Reich-Ranicki: Kaum jemand. Selbst Walter Jens, der lange Jahre mein engster Freund war, hat mir nur wenig von seiner Vergangenheit berichtet: Er hat mir gegenüber nie erwähnt, dass er in der HJ war und später dann offenbar in der NSDAP. Jens hat sich auch nicht dafür interessiert, was ich erlebt hatte. Wenn ich ihm erzählte, dass es Konzerte im Warschauer Getto gab, hätte er ja nachfragen können, wie das möglich war. Er tat es nicht.
Wittstock: Gab es andere, die von sich aus nach Ihren Erfahrungen fragten? Reich-Ranicki: Die erste war Ulrike Meinhof. Das hat großen Eindruck auf mich gemacht. Sie war damals Journalistin und bat mich um ein Interview im Hamburger Café „Funk-Eck“ gegenüber vom NDR. Sie brauchte nur 30 Minuten Gespräch für ihre Sendung, aber sie sprach fast eine Stunde mit mir. Ich erzählte ihr von den Zuständen im Getto, vom Hunger, von der Angst und davon, dass es Menschenfressereien im Getto gegeben hatte, dass eine Mutter versucht hatte, die Leiche ihres Kindes zu essen. Nach dieser Stunde hatte Ulrike Meinhof Tränen in den Augen. Sie war die Erste, die sich in diesem Land für meine Vergangenheit interessierte.

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Rache, ja! Aber wie?

 Ein Wüstenstädtchen namens Bluff: Der Filmregisseur Bernhard Sinkel hat seinen ersten Roman geschrieben

Im Garten seines neuen Hauses wartete ein Bunker auf ihn. 20 Jahre lang hat Bernhard Sinkel, Filmregisseur und Drehbuchautor, am Starnberger See gelebt. Als er sich letzten Herbst entschloss, nach München zu ziehen, fand er in Schwabing ein efeuberanktes Einfamilienhaus samt rückwärtigem Garten. Wenn die dürftigen Grünflecken moderner Reihenhäuser ihrer Form und Dimension wegen gern als Handtuchgärten bezeichnet werden, dann kann man den von Bernhard Sinkel wohl einen Lakengarten nennen: Ein Rechteck mit rund 20 Meter Seitenlänge und vielleicht sechs, acht Metern in der Breite. An dessen Ende befand sich eine merkwürdige Erhebung. Sie ließ Sinkel keine Ruhe, er grub und stieß auf Schutt, unter dem Schutt auf Beton. Bunkerbeton. Sinkel hat ihn freigelegt, hat Schaufel für Schaufel, Sack für Sack den Schutt aus dem Garten durchs Haus auf die Straße getragen. Als dann der Bunker in seiner grauen, gut mannshohen Masse nackt vor ihm stand, gab Sinkel ihm eine neue, betont friedliche Funktion als Geräteschuppen und richtete das ausgedehnte Flachdach als steingeflieste, schattige Gartenterrasse her. Was viel über Sinkel verrät. Er ist ein Mann, dem das Vergangene keine Ruhe lässt, ist einer, der gräbt, der im Schutt stochert und dabei, nicht immer zu Freude seiner Mitwelt, lang Vergessene wieder ans Licht zerrt. In den Siebzigern, als sich die jungen deutschen Regisseure noch gern Filmemacher nannten, wurde er auf diese Weise zu einem gefragten, zu einem gefeierten Mann. Zusammen mit seinem Koautor Alf Brustellin drehte er fast jährlich einen Film: „Lina Braake“, „Berlinger“, „Der Mädchenkrieg“ und die Adaption von Eichendorffs „Taugenichts“ brachten Erfolge in Serie. Ausgezeichnet mit Bundesfilmbändern in Silber und Gold, gefeiert mit dem Ernst-Lubitsch-Preis, gehörte Sinkel zu den Wichtigsten des Neuen Deutschen Films. Doch in den achtziger Jahren wurde das Kinopublikum immer jünger und mochte nicht mehr in der deutschen Vergangenheit der Nazi-Jahre wühlen, sondern lieber gut unterhalten werden. Zudem starb Brustellin 1981 bei einem Unfall. Plötzlich galt Sinkel, gerade mal Mitte 40, als ein sperriger, irgendwie überlebter Regisseur. Bittere Erfahrungen. Doch Sinkel wirkt nicht bitter. Mehr wie ein Mann, der viel nachdenkt, auch über sich, und der dabei ganz gern auf seiner unterbunkerten Terrasse in der Sonne sitzt. Regisseure müssen, heißt es oft, Diktatoren sein, die sich von niemandem, keinem noch so anmaßenden Produzenten, keinem noch so prätenziösen Schauspieler die Macht über ihren Film aus der Hand nehmen lassen. Aber Sinkel macht nicht den Eindruck eines besessenen Kämpfers, eher den eines bedächtigen Beobachters, der mehr Freude an der sorgsamen Vorarbeit für einen Film hat als an den Dreharbeiten selbst. Sein letzter Film „Der Kinoerzähler“, mit Armin Mueller-Stahl in der Hauptrolle, den er nach einer langen Arbeitsunterbrechung vor zehn Jahre realisieren konnte, wurde ihm, wie er sagt, „von der deutschen Filmkritik regelrecht in den Händen zerschlagen“. Die Besprechungen waren so verheerend, dass der Film kaum in die Kinos kam. Sein nächstes Projekt „Der Maestro“, das die Karriere eines Dirigenten im nationalsozialistischen und im Nachkriegsdeutschland beschreiben sollte, wurde von der Produktionsfirma nach mehrjähriger Vorbereitungszeit drei Wochen vor Drehbeginn abgebrochen. Andere Stoffe, mit denen sich Sinkel beschäftigte, fanden keine Interessenten mehr, Sinkel stand in der Filmbranche vor geschlossenen Türen. Am Nullpunkt einer ehemals glänzenden Laufbahn. Was macht ein Künstler, dem seine Arbeit verwehrt ist? Was tut ein Bildhauer, der sich mit einem Mal in eine Sandwüste versetzt sieht, fernab von jedem Fels oder Stein? Was ein Maler, den es in ein Land mit striktem Bilderverbot verschlägt, wo es weder Farben noch Leinwand für ihn gibt? Er versucht sich, so gut es geht, in einer anderen Kunst. Das zumindest ist der Weg, den Sinkel einschlug. Er hat einen der Stoffe, den er gern ins Kino gebracht hätte, zwischen zwei Buchdeckel gebracht. Er schrieb seinen ersten Roman, einen Thriller, „Bluff“, und konnte sich so auf dem Papier endlich einmal den Traum erfüllen, eine Geschichte ohne Rücksicht auf Budget, Technik, Wetter, Terminnot oder Besetzungsprobleme voll und ganz nach eigenen Vorstellungen fertig zu stellen. Auch dieses Buch führt in die deutsche Vergangenheit, aber diesmal nicht in die Jahre des Nationalsozialismus. Raoul, dem Held des Buches, wurde als Kind in der DDR übel mitgespielt. Er verfügt über ein gespenstisch präzises, fotografisches Gedächtnis. Um ihn und seine erstaunlichen Fähigkeiten nach Belieben bei Geheimdienstaktionen einsetzen zu können, lässt der Stasi-Offizier Kasunke Raouls Mutter im Gefängnis verschwinden. Der Junge wird von der Stasi regelrecht adoptiert – wofür es in der DDR traurige Beispiele gab. Nach der Wende erfährt Raoul vom Schicksal seiner Mutter und will Kasunke nicht ungeschoren davonkommen lassen. Doch der taucht unter, und erst zehn Jahre später, als Erwachsener, stößt Raoul wieder auf seine Spur – der er voller Vergeltungsgelüste, aber ohne rechten Plan folgt. „Rache“, sagt Sinkel, „der Gedanke an Rache hatte für mich immer eine beunruhigende, eine herausfordernde Bedeutung.“ Er setzt sich auf und wirkt nun gar nicht mehr wie ein gelassener Melancholiker. „In der Rache steckt natürlich der Gedanke, die Verantwortlichen für Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, die Vergangenheit eben nicht auf sich beruhen zu lassen, sondern gründlich abzurechnen. Schon „Lina Braake“ ist ein Film über eine kluge Rache. „Berlinger“ einer über den Verzicht auf Rache. Und „Bluff“ erzählt davon, wie schwer es ist, Rache an einem Mörder zu üben, wenn man selbst nicht die Mentalität eines Mörders hat.“ Das Buch folgt den Gesetzen seines Genres. Es will seine Leser unterhalten und in Atem halten, nicht mehr und nicht weniger. Und dennoch ist es auch ein Buch, das von politischen Verbrechen und deutscher Geschichte erzählt. Sinkel hat auf viele typisch literarische Mittel verzichtet, er breitet nicht die Gedanken seiner Figuren vor dem Leser aus und nimmt sich auch nicht das Recht heraus, als Erzähler die Handlung zu kommentieren. Wie es sich für einen Mann des Films gehört, arbeitet er stattdessen mit Dialogen, mit breit ausgemalten Bildern und Special Effects. Viele Szenen haben deshalb eine erstaunlich hohe visuelle Suggestivität, mit dem Buch in der Hand glaubt man in Kino zu sitzen. Einige andere wiederum wirken abrupt und psychologisch wenig motiviert, was auf der Leinwand vermutlich kaum auffallen würde – sich im Roman aber eben doch bemerkbar macht. Das Buch endet im Südwesten Amerikas, in einem kleinen Wüstenstädtchen namens Bluff. Sinkel entdeckte den Ort, als er dort wie einst als Regisseur die Landschaft nach Drehorten absuchte. Es ist ein modernes Westernnest, das ihm als Verehrer der Filme John Fords nicht mehr aus dem Kopf ging. Er brachte einen langen Videofilm von der Reise mit, den er im Computer selbst geschnitten hat. Seine Sehnsucht, Raouls Geschichte nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern zu erzählen, kann er nicht verbergen. Man sagt Thrillern gern nach, sie seien zynisch und blutrünstig. Sinkels Buch ist nichts davon. Auch hier gibt es Tote, doch man merkt den entsprechenden Szenen die Überzeugung ihres Autors an, dass es in der Geschichte viel zu oft die Falschen sind, die sterben müssen. So viel zumindest hat Sinkel mit Meistern des Genres, mit den großen Moralisten Eric Ambler oder John le Carré gemein: Es geht ihnen im heillosen Gewirr der Geheimdienstschlachten nicht um den spektakulären Schrecken, nicht um möglichst gigantische Dimensionen eines technologischen Terrors. Es geht ihnen vielmehr um das Unrecht, das ein Mensch dem anderen antut, und darum, wie Gewalt die Menschen verändert. Raoul, Sinkels Held, findet schließlich allen Versuchungen zum Trotz einen respektablen Weg, seine Rache zu üben. Es liegt auf der Hand, dass Sinkel angesichts seiner ins Stocken geratenen Filmkarriere gelegentlich auch in Versuchung ist, Genugtuung einzufordern bei bornierten Produzenten, engstirnigen Kritikern, desinteressierten Zuschauern. Er spricht ungern davon, aber er leugnet es nicht. Vielleicht ist sein Roman der respektabelste, der stolzeste Weg, mit Zurückweisungen fertig zu werden.

Bernhard Sinkel: „Bluff“. Roman Dtv, München 2003 277 S., 14,50 €

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Held der Familie

Sten Nadolnys grandioser „Ullsteinroman“
Ich habe schon lange kein Buch mehr gelesen, das so intelligent, so sorgfältig gearbeitet, so hinreißend gut geschrieben und zugleich so anrührend ist wie Sten Nadolnys „Ullsteinroman“. Es ist ein Buch, das man sich auf der Zunge zergehen lassen kann – das man sich aber auch in Ruhe auf der Zunge zergehen lassen muss, weil es nämlich beim schnellen Schlingen im Hals stecken zu bleiben droht. Aus einem einfachen Grund: Es erzählt die Geschichte des legendären Verlegers Leopold Ullstein und seiner Familie. Ullstein, 1826 in Fürth geboren, hatte vier Geschwister. Er heiratete zweimal, seine beiden Frauen schenkten ihm zehn Kinder, die wiederum Familien gründeten und ihn mit 26 Enkeln beglückten. Das ergibt zusammen in nur drei Generationen über 50 Personen – von den Eltern Ullsteins, seinen Freunden und Konkurrenten, den Tanten, Onkeln, Vettern und Basen ganz zu schweigen. Kurz, im „Ullsteinroman“ geht es mitunter zu, als würde in einer Grunewald-Villa ein riesiges Familienfest gefeiert. Aus allen Salons, Zimmern, Kammern, Fluren und Stuben quellen lauter Ullsteins, ihre Ehepartner an der Hand und Kinder auf dem Arm. Natürlich, Nadolny ist ein kluger, ein erfahrener Autor, der genau weiß, wann er seinen Stoff behutsam straffen oder auch kühn kürzen muss, um nicht in der Materialflut zu versinken. Dennoch sollte man sich für die Lektüre dieser 500 Seiten Zeit nehmen und häufiger mal im fünfteiligen Stammbaum am Ende des Buches nachschlagen, damit man angesichts dieser fruchtbaren Familie den Überblick nicht verliert. Wer dazu bereit ist, wird vom „Ullsteinroman“ reich belohnt und zugleich aufs Beste unterhalten. Nadolny ist nämlich eine bestechende Mischung gelungen aus einer detailreichen Familienbiografie, einem historischen Roman von beträchtlicher Dramatik und einer 150 Jahre umspannenden Kulturgeschichte des deutsch-jüdischen Großbürgertums. Aufstieg und Untergang des Hauses Ullstein führen, so wie sie in diesem Roman erzählt werden, einige der stolzesten und einige der entsetzlichsten Kapitel deutscher Vergangenheit vor Augen in einer Plausibilität und Plastizität, der man sich nur schwer entziehen kann. Leopold Ullstein war der Sohn eines gläubigen Juden und wohlhabenden Papierhändlers. Im aufblühenden Berlin brachte er es im Beruf seines Vaters schnell zu beachtlichem Vermögen. Er war zudem ein belesener, aufklärerisch denkender Mensch, der seine religiösen Bindungen bald abstreifte. 1871 ließ sich Leopold Ullstein in den Berliner Stadtrat wählen und beschäftigte sich – sehr symbolträchtig – mit dem „Erleuchtungswesen“, also der Aufstellung von Straßenlaternen. Die Politik nahm ihn gefangen und ließ ihn nicht mehr los. Als er 1877 sein Mandat als Stadtverordneter verlor, mochte er auf seine politischen Ambitionen nicht verzichten und beschloss, künftig bedrucktes Papier zu verkaufen. Er erwarb erst das „Neue Berliner Tageblatt“, dann die „Berliner Zeitung“, die er zur Keimzelle eines liberalen, streitbaren Verlagsimperiums machte. Die Meisterschaft des Schriftstellers Nadolny zeigt sich auch daran, dass er sich nicht darauf beschränkt, die Stationen der Erfolgsgeschichte Ullsteins nur nachzuerzählen. Vielmehr versucht er zu zeigen, auf welche Weise ein Erfolg von dieser Größenordnung möglich werden konnte. Wie schon in seinen beiden schönsten Romanen „Die Entdeckung der Langsamkeit“ (1983) und „Selim“ (1990) spürt Nadolny den spezifischen Qualitäten nach, die eine Führungspersönlichkeit seiner Meinung nach auszeichnen müssen: nämlich die unbedingte Bewunderung für Menschen mit außergewöhnlichen Talenten und die Fähigkeit, solche Menschen dauerhaft an sich zu binden. So war Leopold Ullsteins größter Erfolg letztlich wohl nicht verlegerischer, sondern familiärer Natur. Er sorgte für eine exzellente Ausbildung seiner fünf Söhne und verstand es, sie entsprechend ihrer sehr unterschiedlichen Begabungen so in seinem Konzern einzusetzen, dass sie den Verlag bis weit über seinen Tod hinaus ohne jeglichen brüderlichen Zwist von Triumph zu Triumph führen konnten. 1903 erst wurde der Buchverlag Ullstein gegründet. Aus Anlass seines hundertsten Geburtstages hat Sten Nadolny dieses Buch geschrieben. Sein Programm war, wie das aller Ullstein-Zeitungen, geprägt durch das Nebeneinander von gediegener Information, einem scharfen, großstädtischen Witz und der Abwesenheit jeglicher Berührungsängste vor einträglichem Entertainment. Erst Ende der zwanziger Jahre zerbricht der Familienfrieden. Die dritte Generation giert nach der Macht im Konzern, doch Franz Ullstein, der drittälteste Sohn des Gründers, steht ihr im Weg. Nachdem er die dreißig Jahre jüngere Rosie Goldschmidt geheiratet hat, eine der mythischen femmes fatales der Weimarer Republik, wird er brutal aus dem Verlag gedrängt. Der Skandal ist da, die folgenden jahrelangen Streitigkeiten schwächen die Widerstandskräfte des Hauses, das schließlich von den Nationalsozialisten übernommen, „arisiert“ wird. Wie lebensklug, ja weise dieses Buch ist, erweist sich auch daran, dass es Nadolny gelingt, die internen Konflikte der Ullsteins präzise zu schildern, ohne sich deshalb zum Richter über die Beteiligten aufzuschwingen. Sten Nadolny macht die Ullsteins, wie sich das für einen großen Erzähler gehört, aus ihrer Lebenssituation begreifbar und verschafft ihnen so, was auf Erden wohl nur in gelungenen Romanen zu haben ist: epische Gerechtigkeit. Viel zu spät entschließen sich die Ullsteins dann zur Emigration. Zwei aus dem Clan kommen der Deportation nach Polen durch Selbstmord zuvor, zwei andere sterben mit ihren Familien in Auschwitz. Die übrigen erreichen das englische, amerikanische oder brasilianische Exil buchstäblich ohne einen Pfennig Geld – vertrieben von einem Land, deren Presse ihnen Unerhörtes verdankt.

Sten Nadolny: „Ullsteinroman“ Ullstein Verlag, München 2003 496 S., 24,- €

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Wie komisch war Theodor W. Adorno?

Zum 100. Geburtstag des Philosophen: Ein Gespräch mit dem Satiriker und Zeichner Robert Gernhardt
Der Philosoph, Soziologe und Zeitkritiker Theodor W. Adorno, der am 11. September 2003 100 Jahre alt geworden wäre, war einer der prominentesten Vertreter der „Frankfurter Schule“, deren Kritische Theorie entscheidenden Einfluss auf das kulturelle Bewusstsein der Bundesrepublik hatte. Nach ihrem Vorbild wurde die „Neue Frankfurter Schule“ (NFS) benannt, deren Komische Praxis ihrerseits entscheidenden Einfluss auf das spaßkulturelle Bewusstsein der Bundesrepublik hat. Zu den prominentesten Angehörigen der NFS gehört der Lyriker, Satiriker und Zeichner Robert Gernhardt. Mit ihm sprach Uwe Wittstock.
Uwe Wittstock: Welches Verhältnis hat die Neue Frankfurter Schule zu Adorno und der Frankfurter Schule?
Robert Gernhardt: Die Frankfurter Schule ist natürlich viel ehrwürdiger und weit ernster zu nehmen als die NFS. Das Etikett „Neue Frankfurter Schule“ war ursprünglich nur ein Hilfsbegriff, um 1981 einer Münchner Ausstellung mit Arbeiten von Hans Traxler, F. K. Waechter und mir einen Titel zu geben. Das Etikett hat sich dann aber gut bewährt und durchgesetzt. Tatsächlich gab es wohl immer Bewunderung und Sympathie für die Frankfurter Schule bei den Angehörigen der NFS – also neben den drei genannten noch F. W. Bernstein, Bernd Eilert, Eckhard Henscheid, Peter Knorr und Chlodwig Poth.
Wittstock: Warum eigentlich? Die Mitglieder der NFS zählen sich doch mit Stolz zu den Spaßmachern, die nichts und niemanden ernst nehmen. Adorno und die Frankfurter Schule gehörten dagegen zu den Ernstmachern, die gravitätisch auftraten und schrieben.
Gernhardt: Die Frankfurter Schule war eine ernste Angelegenheit, sicher. Aber keine bierernste. Adorno hatte durchaus Sinn für Komik, was man ja nicht vielen Philosophen nachsagen kann. Zum Beispiel hat er, als er einmal darüber nachdachte, wer oder was sein Leitbild sein könne, sich für ein Wildschwein entschieden! Das war wohltuend ungravitätisch. Diesen Text findet man in seinem Büchlein „Ohne Leitbild“. Da schreibt er, er habe als Kind erlebt, wie die zahme „Wildsau vom Ernsttal“ angesichts der rot gekleideten Gattin des Postdirektors Stapf ihre Zahmheit verlor, die Frau über den Haufen rannte und mit ihr davon stob. Und dann heißt es: Hätte ich ein Leitbild, so wäre es diese Sau. Und das passt doch schön zum Arbeitsmotto der NFS: Die Sau rauslassen. Wittstock: Gibt es jenseits solcher Lebensmottos auch inhaltliche Verbindungen zwischen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und der kritischen Grundhaltung der Satiriker der NFS? Gernhardt: Dass sich die komischen Autoren und Zeichner der NFS ausgerechnet in Frankfurt zusammenfanden, ist sicherlich kein Zufall. Als die Satirezeitschrift „Pardon“ 1962 in Frankfurt gegründet wurde, hob sich diese Stadt bereits ab von anderen Gemeinwesen Deutschlands. Hier gab es den Generalstaatsanwalt Bauer …
Wittstock: … der damals in Frankfurt die Auschwitz-Prozesse vorantrieb …
Gernhardt: … und die Bank für Gemeinwirtschaft, die bereit war, in ein so windiges Unternehmen wie eine Satirezeitschrift Geld zu investieren, und es gab das Frankfurter Institut für Sozialforschung von Horkheimer und Adorno, die – aus dem Exil zurückgekommen – hier wieder Fuß fassen konnten. Das Klima der Stadt war kritischen Geistern sicher wohlgesonnener als beispielsweise Köln mit seinem Volkswartbund, München mit seiner CSU oder Berlin mit seinem Frontstadt-Bewusstsein. Dieses Klima wurde mitgeprägt von der Bereitschaft, alles in Frage zu stellen – was ja auch Adornos Schriften seiner amerikanischen Jahre durchzieht. Gerade diese Bereitschaft und Haltung hat die NFS darin bestärkt, ihr nachzueifern. Ich habe damals vor allem die kleinen Schriften Adornos gelesen, wie „Minima Moralia“, „Ohne Leitbild“, „Jargon der Eigentlichkeit“. Letztere waren sehr polemische Texte zum deutschen Geistesleben und zur Kultur der Adenauerzeit.
Wittstock: Damit hatten Sie ein gemeinsames Feindbild?
Gernhardt: Ich habe 1956 Abitur gemacht und hatte mich vorher jahrelang von den Lehrern mit einem völlig ungefilterten Jargon der Eigentlichkeit füttern lassen müssen. Im Kulturbetrieb war damals ja so ein grauenvoller Heidegger-Verschnitt im Umlauf. Der ging mir schon als Schüler auf die Nerven und reizte zu Scherzen: „Eines der Hauptanliegen deutschen Geistes war und ist …“ Diesen Jargon hat Adorno dann dialektisch durchlöchert und aus aufgeblasenen Begriffen wie „Anliegen“ oder „Leitbild“ die Luft raus gelassen. Das empfand ich als ausgesprochen wohltuend und erleichternd. Wittstock: War Adorno für Sie als Autor ein Vorbild? Gernhardt: In gewisser Hinsicht schon. „Minima Moralia“ handelt letztlich von dem Zweifel, ob man heute noch ein im moralischen Sinne „richtiges“ Leben führen könne. Adorno geht dabei nicht von aufgeplusterten Begriffen aus, sondern von ganz einfachen Dingen des Alltags: Von ihnen aus beschreibt er dann den seiner Meinung nach unübersehbaren Niedergang unserer Kultur. Dieses Verfahren, bei anspruchsvoller Zeitkritik immer von ganz alltäglichen Tatsachen auszugehen, halte ich bis heute für vorbildlich. Zu dem Hammersatz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ kommt Adorno eben nicht durch eine Reflektion über Auschwitz, sondern als er über die Schwierigkeiten nachdenkt, heutzutage „richtig“ zu wohnen. Egal wie man sich einrichtet, man macht es verkehrt, denn alles ist eingebunden in so fragwürdige Kategorien wie Mode und Privatbesitz. Wittstock: Das klingt recht dogmatisch. Müsste Sie das als Satiriker nicht zum Widerspruch reizen? Gernhardt: Nein, in den „Minima Moralia“ ist Adorno nicht wirklich dogmatisch. Er ist zwar der Meinung, dass man sich nicht mehr „richtig“ einrichten oder „richtig“ kleiden kann. Gefällt ihm aber irgendein Kleidungsstück, ist er zu den aberwitzigsten intellektuellen Volten bereit, um es philosophisch zu rechtfertigen. So rehabilitiert er beispielsweise den Pantoffel – „Schlappe, slippers“ – als emanzipatorisches Kleidungsstück. Der Pantoffel, schreibt er, sei ein Denkmal des Hasses gegen das Sichbücken. Man kann nämlich in ihn hineinschlüpfen, ohne den aufrechten Gang aufzugeben. Solche Bereitschaft zur Übertreibung hat mir Adorno sehr lieb gemacht.
Wittstock: Ist das nicht eher unfreiwillig komisch?
Gernhardt: Sicher, aber solche unfreiwillige Komik ist die Kehrseite der Tatsache, dass Adorno es als einer von wenigen Philosophen des letzten Jahrhunderts verstanden hat, echte Hammersätze in die Welt zu setzen. Wer außer ihm hat so viele erinnerungsfähige Sentenzen geprägt wie er. „Das Ganze ist das Unwahre“ oder „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ oder „Bei manchen ist es schon eine Frechheit, wenn sie „ich“ sagen“. Solche Sätze sind hängen geblieben und an ihnen können sich, weil sie so herrlich übertrieben sind, ganze Generationen abarbeiten. Aber mit derartigen Übertreibungen geht der Autor immer das Risiko unfreiwilliger Komik ein. Deshalb ist Adorno eben manchmal vorn rüber gefallen und manchmal hinten rüber. Trotzdem macht ihn gerade diese Risikobereitschaft zu einem großen Autor. Die Aufgabe jedes Philosophen ist es, behaupte ich, mindestens einen solchen Hammersatz zu prägen. Und wie viele Kollegen Adornos gibt es, die meterweise Bücher geschrieben haben, ohne dass sich die Allgemeinheit an einen einzigen Satz von ihnen erinnert?

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„Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“

 Botho Strauß reist auf der Spur der Träume
Seit gut einem Vierteljahrhundert besetzt Botho Strauß im Literaturbetrieb das Rollenfach des schwersensiblen Misanthropen. Von Zeit zu Zeit lässt er uns wissen, für wie „verbraucht und debil“ er unsere Gesellschaft hält, ja wie unzumutbar sie einem empfindsamen Geist letztlich ist, und dass er sie sich nach Möglichkeit weit vom Leibe hält. „Ich liebe die Menschen nicht…“, teilte er den Menschen in „Die Fehler des Kopisten“ (1997) mit, schob dann aber leise tröstend hinterher „…und kann doch keinen übersehen“. Keine schlechte Ausgangsposition für einen Schriftsteller. Von Schopenhauer über Strindberg bis Thomas Bernhard zeichnete sich mancher Große der Literatur durch soliden Weltekel aus und einen kalten Blick für die Schwächen seiner Zeitgenossen. Die innere Distanz schärfte ihre Wahrnehmung, und die verschärfte Wahrnehmung lieferte ihnen immer neue, immer schlagkräftigere Gründe für vermehrten Abscheu. Als Lieblingsziel seines Verachtungsfurors legte sich Botho Strauß den seiner Meinung nach mangelnden Sinn unserer Epoche für Religiosität und vernunftferne Seelenwelten zurecht. In immer neuen Angriffswellen geißelt er seither die Selbstgefälligkeit und Oberflächlichkeit seiner Mitmenschen, ihr angeblich fehlendes Verständnis für Traditionen und Tabus, für Sittlichkeit und Ehrfurcht vor dem Unbegreifbaren. Dem wortgewaltigen Zorn seiner Prosasammlungen verdanken wir einige höchst suggestive und zugleich bösartige Genrebilder aus unserem von Luxussorgen geplagten Leben. Ein Spitzenplatz unter den Chronisten des bundesdeutschen Kulturmilieus dürfte Strauß nicht mehr zu nehmen sein. Natürlich macht man sich mit so etwas Feinde. Doch da der Überdruss am Überfluss auf dem Medienmarkt gute Kurse erzielt, macht man sich zugleich auch eine Menge Freunde. Die damit sich abzeichnende Kontroverse um seine Arbeit wusste Strauß mit politischen Stellungnahmen munter zu befeuern. In den folgenden aufgeregten Lagerkämpfen wurde allerdings immer deutlicher, dass Strauß in den letzten Jahren intellektuell nicht mehr recht von der Stelle kam. Seine Reflexionen gingen allmählich über in ein Dauer-Räsonnement, das die vertrauten Argumente nicht mehr weitertrieb, sondern nur noch um und um wendete. Vielleicht hatte auch Botho Strauß deshalb das Gefühl, einen neuen Ansatz wagen zu müssen. Zumindest ist sein jetzt erschienener Prosaband „Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“ formal anders geworden als seine Vorgänger. Zum ersten Mal seit dem „Kongreß“ von 1989 legt Strauß nicht eine tagebuchartige Sammlung locker verbundener Gedanken, Porträts oder Szenen vor, sondern wieder eine von durchgehenden Figuren zusammengehaltene Textfolge. Eine Geschichte im traditionellen Sinne mit Fabel und Plot ist es deshalb noch lange nicht. Eher eine Art Traum-Theater voller überraschender Kontraste, abrupter Übergänge und dunkler, sehr dunkler Bezüge. Ein knapp fünfzigjähriger Mann, offenbar Mitinhaber einer ehemals florierenden, jetzt in die Krise geratenen Künstler-Agentur, bietet neben seiner üblichen Vermittlungsarbeit „psychologische Schulungsprogramme“ an. Eine seiner Kundinnen, Alice, wünscht in einer „finalen Begegnungsform“ unterrichtet zu werden, um künftig Männer besser „ins Aus“ setzen zu können, ja sie „auszupusten wie einen verblühten Löwenzahnstengel“. Ob der Unterricht bei der Schülerin Erfolg hat, bleibt offen, sicher ist, dass der Lehrer Erfolg bei seiner Schülerin hat. Er verbringt eine Nacht mit ihr, in der er allerdings „keinen ruhigen Schlaf“ findet: „Er wälzt den Kopf im Kissen und träumt von tausend Unbekannten, die alle auch noch in sein Leben treten wollen. Er jagt durch einen Sphärenwirbel nie gesehener Gesichter.“ Wer möchte, kann den neuen Prosaband als Logbuch dieser unruhigen Traumreise verstehen. Der Leser begegnet den merkwürdigsten Szenerien und Gestalten, er macht Abstecher zu Strauß‘ geliebtem mythischen Personal, zu wandelnden und sprechenden „Piktogrammen“, zu grell kostümierten Wesen, die aus Horror- oder Fantasy-Filmen entlehnt zu sein scheinen, zu entlegenen biblischen Gleichnissen (Matthäus Kap. 25, Vers 1-13) und vergessenen literarischen Schauplätzen. Das Buch soll bei all dem, wie es gegen Ende programmatisch heißt, nicht der Freudschen Traumlogik der Wunscherfüllung folgen, sondern soll die stabilen Konturen und Strukturen des Tages auflösen und verwischen. „Der Traum kann, was wir im Wachen als fest und fertig sahen, in einen offenen Gestaltwandel zurücksetzen. Er erfüllt lediglich das Verlangen nach der wiedergefundenen Unfertigkeit und Kindheit aller Zusammenhänge.“ Strauß verklammert all dies durch die regelmäßige Rückkehr in eine entvölkerte, verödete Großstadtszenerie. Die Wirtschaftskrise nämlich, die den erzählenden Künstler-Agenten samt Geliebter Alice und das Haus umschleichender Ehefrau Julia getroffen hat, hält die ganze Stadt, das ganze Land im Würgegriff. Sie sorgt dafür – was sich gegenwärtig erschreckend vertraut anhört – dass ehemals blühende Geschäfts- und Bürostraßen veröden, Bibliotheken schließen, Schwimmbäder verwahrlosen, Parkhäuser verfallen. Eine Kulissen-Landschaft, die sich in Strauß‘ gravitätischer Prosa rasch zur Metapher für innerseelische Verhältnisse auswächst: „Wir wohnen im Herzen einer evakuierten Welt! Unsere Räume innen und außen sind frei für die Wiederkehr uralter Sitten des Müßiggangs.“ Der wirtschaftliche Niedergang also als Chance zur Besinnung auf ein bedachtsameres und – um auf Strauß‘ Lieblingsthema zurückzukommen – wieder mehr auf Gott bedachtes Leben? Offen gesagt, das alles ist eine Menge Hin und Her für so ein kleines Buch. Aber Träume dürfen das, Träume sind chaotisch, wer wollte ihnen das verbieten. Dennoch die etwas ungeschützte Frage: Was soll das Ganze? Was soll es literarisch? Botho Strauß ist ein außerordentlich belesener, hoch intelligenter, ja gelehrter Autor, seine Vorlieben für manche Schriftsteller der Romantik sind nicht neu. Friedrich Schlegel, Novalis und andere machten sich vor rund 200 Jahren ähnliche Sorgen wie er um ihre damals schon modern genannte Welt. Eine rationalistische Vernunft schien ihnen die Menschen, die sich einst in der Religion geborgen fühlen konnten, mehr und mehr vom Glauben zu entfremden, Gott von der Natur zu trennen und die Idee von der Realität zu lösen: Zerfall, Spaltung, Absonderung wohin sie sahen. So entwarfen sie die Vision einer Kunst, in der Gefühl und Verstand, Dichtung und Wissenschaft, Poesie und Philosophie wieder verschmelzen – und glaubten gerade im Roman solche „größesten Disparaten“ zusammenbringen zu können. Wie ein solcher Versuch „größeste Disparate“ zusammenzubringen, wirkt auch „Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“. Das Konstruktionsprinzip des Buches huldigt nicht rationaler Analyse, sondern eher artistischer Synthese. Strauß hat ein Netz von Anspielungen, Verknüpfungen und Querverweisen über sein äußerst gegensätzliches Material geworfen, manche davon sind offensichtlich, andere gut verborgen, verwickelt und rätselhaft. Hut ab vor jedem, der von sich behaupten kann, diesen schmalen Band schon nach der zweiten oder dritten Lektüre bis in seine Feinheiten verstanden zu haben. Strauß liefert mit diesem Buch reichen Stoff für weitläufige germanistische Forschungen, fleißige Doktoranden werden es ihm danken. Hier nun ist vielleicht der Ort für ein persönliches Bekenntnis: Ich bin kein großer Freund literarischer Rätselbücher, wenn sie außer der unausgesprochenen Einladung an den Leser, sie zu enträtseln, nicht viel zu bieten haben. Nach meinem Eindruck verfügt „Die Nacht mit Alice…“ über wenig Ausstrahlungskraft, wenig Anmut, Scharfblick oder gar Spannung. Die Aussicht aber, ein aufwendig verschlüsseltes, ansonsten aber nicht reizvolles Buch wieder aufwendig zu entschlüsseln, hinterlässt bei mir rasch das Gefühl der Vergeblichkeit. Andere Leser sehen das anders. Botho Strauß mit Sicherheit, das ist sein gutes Recht. Ende der persönlichen Abschweifung. Eine der offensichtlichen Gemeinsamkeiten der so unterschiedlichen Episoden des Buches ist Strauß‘ Vorliebe für bedrohliche, finstere, mit dem üblichen Verstandes-Instrumentarium schwer begreifbare Sehnsüchte oder Taten. Warum möchte Alice Männer auspusten wie verblühten Löwenzahn? Warum ist sich Julia so sicher, dass ihr erster Mann ein heimliches „zweites Gesicht“ hat, um dann auf seinem Totenbett zu entdecken, dass dieses zweite Gesicht (ein altes romantisches Motiv variierend) ihre eigenen Züge trägt? Warum fühlt die vorletzte Mieterin eines fast aufgegebenen Wohnblocks „ein tiefes dunkles Bedürfnis“, sich von ihrem letzten, offenbar geistesgestörten Nachbarn „richten zu lassen“? Warum will ein Schauspieler plötzlich seine schöne Stimme loswerden? Undsoweiterundsofort. Den Figuren von Strauß steckt die Bosheit, die Lust auf Vernichtung und Selbstvernichtung direkt unter der Haut. Immer wieder bricht sie unversehens durch, züngelt hervor und erweist sich, anders als es in unserem, rundum sozialversicherten Wohlstandsalltag den Anschein hat, als letztlich unbeherrschbar. Strauß‘ Reise auf den Spur der Träume fördert im Menschen – und damit nähert er sich dann doch den Traumdeutungen Freuds an – vor allem das von der Zivilisation Verdrängte, Verbotene, nicht Zugelassene ans Licht. Und er versucht zu zeigen, auf welchen Schleichwegen diese zerstörerischen Seelenkräfte unser so selbstgewisses Tagesbewusstsein fest in den Griff nehmen. Das ist sicher alles richtig so, aber als Fazit für ein derart ambitioniertes Buch nicht gerade viel. Von der überwältigenden Magie erlebter Traumbilder bleibt Botho Strauß‘ Prosa zudem meilenweit entfernt. Sicher, Strauß ist und bleibt ein Stilist, auch in diesem Buch finden sich Passagen von beeindruckender sprachlicher Virtuosität. Doch sie sind selten, dazwischen drischt er viel Stroh. Ein wirklich neuer Ansatz in seinem Werk, der ihm neue schriftstellerische Möglichkeiten erschließt, ist „Die Nacht mit Alice…“ nicht. Es ist ein Buch wie ein Kaleidoskop, das nicht mit bunten Glasscherben, sondern mit verschwurbeltem Bildungsgut und prätentiösen Katastrophenfantasien vollgestopft wurde.

Botho Strauß: „Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“
Hanser Verlag, München 2003 168 Seiten, 17,90 €

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