Martin Heckmanns Sprach- und Revolutionsdrama „Kränk“ in Frankfurt uraufgeführt
„Die Sprache ist“, schrieb Karl Marx, „das praktische Bewusstsein“. Muss also ein Revolutionär, wenn er unser Bewusstsein radikal erneuern möchte, gar nicht die ökonomischen Verhältnisse umstürzen, wie Marx einst dachte, sondern schlicht eine neue Sprache erfinden? Christof, der Held aus Martin Heckmanns starkem Stück „Kränk“ – das jetzt im Kleinen Haus in Frankfurt uraufgeführt wurde – ist so ein Rebell, der die ganze Welt verändern will, damit sie endlich zu seinen Träumen passt: „Ich möchte mir vorstellen können, was über mich hinausgeht. Ich möchte erwarten können, was mir fremd ist. Ich möchte ein anderer werden als jemals einer war.“ Also schwärmt Christof von einem anderen Sprachsystem, sprich: Denksystem, nennt es Kränk, sich selbst Ernk und geht mit all dem seinem Vater gewaltig auf die Nerven. Der nämlich hält, wie sich das für den typischen Bühnen-Repräsentanten der herrschenden Ordnung gehört, zunächst eisern fest am Bestehenden und schwelgt mit Vorliebe in den fadesten Phrasen: „Die Freude ist auf meiner Seite“. Seine Frau Iris hat er mit solchem verbalen Schwach- und Starrsinn bereits in den Wahn und eine Irrenanstalt getrieben (wo sie bezeichnenderweise Sprachübungen macht) und möchte sie jetzt gern durch die nächste Dame namens Doris ersetzen. Dem hält Christof alias Ernk natürlich seine Utopie alias Kränk entgegen, tut sich mit dem Mädchen Rosa zusammen und probt mit ihr den Widerstand gegen die alte, verkommene Generation. Bis zu diesem Punkt wirkt Heckmanns Stück wie eine in expressionistische Wortfetzen gehüllte Variation auf Büchners „Leonce und Lena“: ein junges, kluges, verspieltes Liebespaar im Kampf gegen die erstarrten Bewusstseinsverhältnisse. Doch Heckmanns ist nicht von gestern und deshalb geht er über das bekannte Muster noch einen entscheidenden Schritt hinaus. Der Vater seines Stückes nämlich gewinnt trotz allen Starrsinns Gefallen am flotten Aufbegehren seines Sohnes, ja es schließt sich kurzerhand dessen Jugendbewegung an und spielt selbst Kränk. Wie ein neoliberaler Wirtschaftsideologe übernimmt er die ehemals revolutionär gedachte Idee der pausenlosen Innovation, „des permanenten Neu“, „des radikalen Änders“ für seine Zwecke: Du möchtest, könnte er seinen Sohn fragen, ein anderer werden als jemals einer war? Bitte sehr, verwirkliche Dich selbst, gründe Deine Ich-AG. Heckmanns hoch konzentrierter Text wird von der Regisseurin Simone Blattner in Frankfurt ebenso schwung- wie wirkungsvoll entfaltet. Sie gibt dem Stück einen präzisen Rhythmus und macht die rapiden Wortwechsel der Figuren auf diese Weise durchsichtig und gut verständlich. Doch ihre Inszenierung ist nie lehrstückhaft oder dozierend. Sie betont vielmehr mit einigen ganz einfachen und doch hinreißenden Einfällen die komischen Aspekte des Stückes – was ihm nur gut tut. Kurz: Mit einem Minimum an Aufwand erreicht sie ein Maximum an Effekt. Ähnliches gilt für die Schauspieler, die ihren intellektuell zugespitzten Rollen ein Menge Lust und Leben einhauchen. Babett Arens Auftritt als aus dem Tritt geratene, in die Anstalt abgeschobene Sprechmaschine ist virtuos witzig und virtuos erschütternd zugleich. Rainer Frank spielt einen Sohn, der aus tiefster innerer Not zu seiner Rebellion getrieben wird und Joachim Nimtz einen Vater, der aus tiefster innerer Zufriedenheit nie eine Chance hat, seinen Sohn zu verstehen. Der eigentliche Star des Abends aber ist der Autor. Martin Heckmanns wurde 2001/2002 von „Theater heute“ zum Nachwuchsautor des Jahres ausgerufen und sein – ebenfalls von Simone Blattner uraufgeführtes – Stück „Schieß doch, Kaufhaus!“ von vielen Kritikern über den grünen Klee gelobt. In „Kränk“ kreuzt er jetzt das Revolutionstheater von Heiner Müllers mit dem Sprachexperimentaltheater von Ernst Jandls. Und voilà: Was unter seinen Händen aus dieser gewagten Mischung entsteht, ist kein bizarrer Bastard, sondern ein kraftvoller, wohlgestalteter Sprössling, der zu den schönsten Hoffnungen Anlass gibt.