Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über Holocaust, Vertreibung und die ersten Jahre in Deutschland sowie über Ulrike Meinhof
Uwe Wittstock: Sie haben die Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass sehr gelobt. Nicht nur mit diesem Buch, aber auch mit ihm kam eine lebhafte Diskussion um die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs in Gang. Hat denn die deutsche Literatur Ihrer Meinung nach bei der Darstellung dieser Leiden etwas versäumt?
Marcel Reich-Ranicki: Nein, man kann nicht sagen, die deutsche Literatur habe hier völlig versagt. Ich habe, als die Diskussion um Bombenkrieg und Vertreibung in der Literatur begann, Volker Hage vom „Spiegel“ darauf aufmerksam gemacht, dass ein Autor in den Nachkriegsjahren sehr genau über die Leiden der Deutschen unter den Luftangriffen geschrieben hat. Von diesem Autor hatte er nie im Leben auch nur den Namen gehört: Gert Ledig. Sein Roman „Vergeltung“ beschreibt mit großer Anschaulichkeit das Bombardement einer deutschen Großstadt. Doch das Buch wurde bei seinem Erscheinen 1956 von den Kritikern abgelehnt und von den Lesern nicht gekauft. Und das ist nicht der einzige Fall. Auch Wolfgang Koeppen schrieb einiges über die Leiden der Deutschen im Krieg in „Tauben im Gras“ (1951). Das Buch, das ich zu den bedeutendsten deutschen Romanen nach 1945 zähle, ist nie beim breiten Publikum angekommen.
Wittstock: Aus welchem Grund?
Reich-Ranicki: Zunächst einmal: Auch in der deutschen Literatur der zwanziger Jahre spielte der Erste Weltkrieg zunächst keine große Rolle. Erst gegen Ende der Weimarer Republik kam Arnold Zweigs „Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927), Ludwig Renns Roman „Krieg“ (1928) und Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929). Viele Menschen, denen etwas Schreckliches zugestoßen ist, die es aber überlebt haben, wollen von diesem Schrecklichen zunächst einmal nichts mehr hören, sie wollen es verdrängen – meist aus psychologischen, nicht aus politischen Gründen. Ich kenne Juden, denen in Konzentrationslagern entsetzliche Dinge widerfahren sind, die aber, als in Frankfurt der Auschwitz-Prozess stattfand, nicht einmal die Prozess-Berichterstattung in den Zeitungen verfolgten. Die Menschen sind wohl erst zehn oder zwanzig Jahre nach Kriegsende bereit und in der Lage, sich in der Literatur mit den Schrecknissen eines Krieges zu beschäftigen, weil dann allmählich eine neue Generation nachwächst, die den Krieg nicht selbst erlebt hat, und die Älteren, die alles miterlebten, Distanz zu ihm gewonnen haben. Wittstock: Die Debatte um Bombenkrieg und Vertreibung begann aber erst jetzt, mehr als 50 Jahre nach Kriegsende. Warum haben sich die Deutschen nicht mit Ledigs Buch oder dem Koeppens beschäftigt? Oder etwa mit der Beschreibung der Flucht deutscher Zivilisten vor der Roten Armee in Christa Wolfs Buch „Kindheitsmuster“ (1976)?
Reich-Ranicki: Alles in allem glaube ich nicht, dass sich die deutschen Verleger Manuskripte auf annehmbarem Niveau über diese Themen hätten entgehen lassen. Aber es wurden offenbar keine geschrieben. Es hat doch eine Scheu gegeben bei den Autoren, nach allem, was die Deutschen den anderen Völkern angetan hatten, nun gleich mit der Gegenrechnung zu kommen und zu beschreiben, was den Deutschen angetan wurde. Man kann aber nicht allein den Schriftsteller oder der Literatur den Vorwurf machen, hier sei etwas versäumt worden. Man muss diesen Vorwurf auch an das Publikum richten, an die Bombardierten und Vertriebenen, sie haben sich um die wenigen Bücher, die über ihr Schicksal geschrieben wurden, nicht gekümmert.
Wittstock: Das Buch „Brand“ des Historikers Jörg Friedrich über den Bombenkrieg und sein jetzt erschienener Bildband „Brandstätten“ sind große Erfolge. „Brand“ wurde von bekannten Historikern und Schriftstellern sehr gelobt. Wird hier das Leiden der Deutschen im Krieg gegen die Verbrechen der Deutschen ausgespielt? Werden hier strategisch die Bilder vom zerbombten Deutschland gegen die Bilder von den KZs oder des Warschauer Gettos gestellt?
Reich-Ranicki: Nein, das meine ich nicht. Was sich in den KZs abgespielt hat, ist inzwischen vielfach beschrieben worden. Bombenkrieg und Vertreibung wurden dagegen viel seltener dargestellt. Es ist meiner Meinung nach vollkommen gerechtfertigt, auch diese Aspekte des Krieges in der Literatur zum Thema zu machen. Ich bin der Ansicht, dass es keine Themen gibt, die von der Literatur ausgeschlossen werden sollten. Dass Luftkrieg und Vertreibung in früheren Jahren tabuisiert wurden, mag verständlich sein, aber ich war damit nie einverstanden.
Wittstock: Sie sind bereits im Januar 1946 von Polen aus nach Berlin gereist. Welchen Eindruck machte die zerbombte Stadt auf sie im Vergleich zu Warschau?
Reich-Ranicki: Der Unterschied war sehr groß. Schon als ich Ende September 1939 nach dem Sieg der Wehrmacht über Polen Warschau von Osten her wieder betrat, war ich entsetzt. Ich hatte den Eindruck, die gesamte Stadt sei vernichtet, es gebe keine Häuser mehr, nur noch Ruinen. Tatsächlich war es zwar schlimm, aber nicht ganz so schlimm, wie ich zunächst vermutete. Doch das war erst der Anfang des Krieges, in den folgenden Jahren wurde die Stadt immer weiter zerstört. Verglichen damit war Berlin eine nur wenig zerstörte Stadt. Ich fuhr 1946 mit dem Auto nach Berlin hinein, ich sah den Alexanderplatz; ich sah Unter den Linden, sah das Brandenburger Tor, ich erkannte alles wieder. Von Warschau war ja fast nichts geblieben. Der Lebensstandard war damals in Berlin viel höher als in Warschau. Es gab Läden, es gab Waren, man konnte einkaufen. Es waren viele Häuser stehen geblieben, und die Wohnungen waren zum Teil glänzend möbliert.
Wittstock: Haben Sie in Polen in den letzten Kriegsmonaten und nach Kriegsende je Übergriffe der Polen auf deutsche Zivilisten beobachtet? Reich-Ranicki: Überhaupt nicht. Ich lebte damals in Warschau, und in Warschau gab es keine deutschen Zivilisten mehr. In Kattowitz, wo ich in dieser Zeit ganz kurz war, zehn, zwölf Tage, da habe ich einmal Polen gehört, die sagten: „Na, heute Abend knöpfen wir uns mal ein paar Deutsche vor.“ Da ging es darum, diesen Deutschen irgendwelche Habseligkeiten wegzunehmen: Schuhe, Anzüge, Pelze und so weiter. Ob diese Polen ihren Plan verwirklicht haben, das weiß ich nicht.
Wittstock: Sie waren damals Mitte zwanzig, hatten fünf Jahre brutaler Verfolgung hinter sich, fast alle Ihre Familienmitglieder und die Ihrer Frau waren ermordet worden. Den wenigen anderen überlebenden Juden ging es ebenso. Können Sie sich daran erinnern, welche Empfindungen die Überlebenden für Deutsche und Deutschland hatten? Schließlich gab es deutsche Kriegsgefangene im Land.
Reich-Ranicki: Dass es in Warschau deutsche Kriegsgefangene gab, habe ich erst Jahre später erfahren. Hermann Kant ist in diesem Lager gewesen, Anna Seghers hat das Lager einmal besucht, damals habe ich sie nicht gesehen. Was mich in den ersten Wochen nach meiner Befreiung interessierte, war allein der Krieg: Wie und wann wird er zu Ende gehen? Es gab keine Radios, die Deutschen hatten sie alle beschlagnahmt, die Zeitungen waren miserabel, ihnen war nur die sowjetische Sicht der internationalen Vorgänge zu entnehmen. Informationen zu bekommen, verlässliche Informationen und dazu das Überleben in der Stadt zu organisieren, Essen, Trinken, Heizung, Wohnung, mit all dem waren wir vollauf beschäftigt, da blieb wenig Zeit, über Deutsche nachzudenken.
Wittstock: War von der Vertreibung der Deutschen in Warschau nichts zu spüren?
Reich-Ranicki: Entschuldigen Sie bitte, die Leute, mit denen ich 1945 in Warschau zu tun hatte, interessierten sich wirklich nicht dafür, ob Deutsche vertrieben wurden und unter welchen Umständen. Sie müssen eins verstehen, was heute offenbar schwer zu verstehen ist: Die Leute, mit denen wir zu tun hatten, kamen alle aus der Sowjetunion. Das waren Leute, die aus Polen stammten, meist Juden, die mit der Roten Armee oder den polnischen Divisionen innerhalb der Roten Armee nach Polen kamen. Das waren Soldaten, die einen Weg von Tausenden von Kilometern zurückgelegt hatten, aus Inner-Asien, aus Samarkand oder Taschkent. Sie waren oft miserabel ausgerüstet, die Uniformen waren dürftig, die Verpflegung war oft schlecht. Diese Leute kamen nun nach Polen, in die Provinz Posen, nach Schlesien oder so. Und wenn die etwas zum Anziehen brauchten oder Hunger hatten, meinen Sie, die machten sich lange Gedanken? Die gingen in eine deutsche Wohnung, ein deutsches Haus und nahmen Pullover oder Schuhe oder Mäntel mit, was immer sie gerade brauchten. Einer dieser Soldaten hat mir mal gesagt, er habe sich bei Deutschen was geholt, und sagte dann noch: Sonst habe ich denen nichts angetan. Er hat sich gerühmt, dass er sie nicht erschossen hat, was er vielleicht auch hätte tun können. Dann gab es Leute, die, nachdem sie an der Weichsel angekommen waren, erfuhren, dass ihre ganzen Familien ermordet worden waren, von Deutschen ermordet, dass sie keine Eltern mehr hatten, dass sie keinen Bruder, keine Schwester mehr hatten. Glauben Sie, dass sich diese Leute lange Gedanken darüber machten, ob den Deutschen jetzt, bei der Vertreibung, möglicherweise ein Unrecht geschieht? Es war nicht der Zeitpunkt für großes Mitleid mit den deutschen Opfern dieses Kriegs. Denn sie dürfen eins nicht vergessen, was oft viele vergessen: Es waren die Deutschen, die diesen Krieg begonnen haben. Wittstock: Als Sie 1958 in die Bundesrepublik kamen: Wie gingen damals die Journalisten und Literaten, denen Sie begegneten, mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Judenverfolgung um?
Reich-Ranicki: Im Grunde tauchte das Thema in Gesprächen nicht auf. Ich habe das Thema auch nicht angeschnitten. Bitte stellen Sie sich meine Situation richtig vor: Ich kam 1958 nach Deutschland mit einem kleinen Koffer. Mein Sohn war vorläufig bei meiner Schwester in London untergebracht. Meine Frau hatte keine Erlaubnis, in England zu bleiben, sie ist deshalb nach Paris gegangen zu einer Tante. Wir hatten nichts, wir mussten kämpfen ums Dasein. Ich habe damals Rundfunksendungen geschrieben, um Geld zu verdienen, und habe für das miserable Honorar, das „FAZ“ und WELT zahlten, Rezensionen geschrieben, um mir einen Namen zu machen. Die Vergangenheit der Leute hat mich unter diesen Bedingungen nicht so sehr interessiert. Ich konnte die Menschen, die ich kennen lernte, doch nicht gleich fragen: Was haben Sie eigentlich im Krieg gemacht? Über diese Zeit wurde mir gegenüber allenfalls in Nebensätzen geredet, in Andeutungen. Selbst mein Freund Siegfried Lenz hat damals vor mir verheimlicht, dass er in der Napola (einer der „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten“ der Nazis) und dann Deserteur war. Ich habe das erst 20 Jahre später erfahren.
Wittstock: In einem Gespräch mit Joachim Fest sagten Sie einmal, Sie hätten damals keine Zeit gehabt, über die Vergangenheit nachzudenken, Sie hätten arbeiten müssen, da Sie ohne einen Pfennig nach Deutschland kamen. Dasselbe sagten auch Deutsche nach 1945: Sie müssten arbeiten, um das Land wieder aufzubauen, und konnten sich nicht den Luxus leisten, über Vergangenes nachzudenken. Alexander Mitscherlich brachte das auf die Formel von der „Unfähigkeit zu trauern“.
Reich-Ranicki: Es gibt dazu einen guten Satz von Rudolf Augstein. Er wurde gefragt, ob er während des Krieges als Soldat mit irgendwelchen Widerstandsaktionen zu tun hatte. Er antwortete: Ich war damals ganz und gar von einer anderen großen Aufgabe in Anspruch genommen, nämlich der zu überleben. Ich habe mir die Frage, die Sie jetzt stellen, selber kaum gestellt. Unter jüdischen Emigranten hieß es damals, es sei schwer, nach Deutschland zurückzureisen, denn wem könne man dort noch die Hand geben? Ich habe mir diese Frage nicht gestellt.
Wittstock: Sie veröffentlichten in Deutschland Ihre ersten Bücher im Piper Verlag. Ein Geschäftsführer dieses Verlages war Hans Rößner. Inzwischen haben Forschungen des Historikers Michael Wildt ergeben, dass Rößner seit November 1934 SA-Mitglied war und dann als Germanist für das Reichssicherheitshauptamt arbeitete. Welches Verhältnis hatten Sie zu Rößner? Hat er versucht, Einfluss auf Ihre Arbeit zu nehmen?
Reich-Ranicki: Das mit Rößner habe ich jetzt erst erfahren. Das war der Finanz- und Verwaltungschef des Piper-Verlags, er hatte mit dem Lektorat und der Zusammenarbeit mit den Autoren nichts zu tun. Er hatte auf die Inhalte meiner Bücher nicht den geringsten Einfluss.
Wittstock: Michael Wildt zitiert in seinem Buch „Generation des Unbedingten“ (Hamburger Edition) Briefe von Rößner an Hannah Arendt. Unter anderem bemühte sich Rößner, das Wort „Juden“ aus dem Untertitel des Buches von Hannah Arendt über Rahel Varnhagen zu entfernen.
Reich-Ranicki: Wahrscheinlich glaubte Rößner, das Buch über die Rahel Varnhagen werde sich mit dem Wort „Jüdin“ im Untertitel in Deutschland schlechter verkaufen. Aber mit dem Text des Buches hat er sich nicht befasst. Ich kann ihnen nur sagen, wie es bei mir war: Meine Lektoren in dem Verlag waren Reinhard Baumgart, dann Walter Hinderer und dann Otto F. Best. Nur mit diesen Lektoren habe ich über die Inhalte meiner Bücher verhandelt. Rößner hatte keinen Einfluss auf sie. Ich habe ihn mehrfach gesehen in dieser Zeit, aber ich bin doch nie auf die Idee gekommen zu fragen, was für eine Vergangenheit er habe. Das war damals nicht üblich. Es war eigentlich doch selbstverständlich, dass alle über ihre Vergangenheit nicht reden wollten, weil sie alle mehr oder weniger Nazis gewesen waren. Nicht gleich im Reichssicherheitshauptamt. Wenn ich das von Rößner gehört hätte, das hätte mir einen Schock versetzt.
Wittstock: Susan Sontag, die diesjährige Friedenspreisträgerin, erinnerte jetzt in ihrer Paulskirchenrede an ihren deutschen Lektor Fritz Arnold, Jahrgang 1916. Der habe in den siebziger Jahren zu Beginn ihrer Zusammenarbeit das Bedürfnis gehabt, ihr, der Amerikanerin jüdischer Herkunft, genau zu berichten, was er, der deutsche Wehrmachtssoldat, während des Zweiten Weltkrieges getan habe. Er hatte nicht einen einzigen Schuss abgefeuert. Haben sich in ähnlicher Weise Journalisten oder Autoren an Sie gewandt? Reich-Ranicki: Nein, niemals. Aber es sind andere Sachen passiert. Es haben sich Leute im Gespräch mit mir ein bisschen gerühmt, wegen irgendwelcher geringfügigen Kontakte mit Juden während der Nazi-Zeit. Wenn meine Frau und ich damals eingeladen waren, meist bei Leuten aus unserer Branche: Zeitung, Rundfunk, Verlage, da passierte mehr als ein Mal etwas, was für uns sehr bemerkenswert war. Am späteren Abend, so gegen elf Uhr abends, kam irgendeiner der Herren, nahm meine Frau oder auch mich in einen Winkel des Zimmers beiseite und sagte: Sie müssen wissen, ich bin während des Krieges ins Warschauer Getto gegangen, weil ich das sehen und weil ich den Menschen dort etwas Butter und Schmalz bringen wollte. Immer waren es beabsichtigte Wohltaten, die unsere Gesprächspartner ins Getto geführt hatten. Meine Frau fragte mich einmal: Wo kamen eigentlich all die Soldaten her, die gemordet haben, alle haben doch nur Butter gebracht? Ich muss Ihnen sagen, dass meine Frau und ich damals nicht so das Bedürfnis hatten, genau zu erfahren, was die Leute während des Kriegs gemacht hatten. Solche Gespräche waren, wenn sie denn mal geführt wurden, für uns immer sehr schwierig. Wir haben einen Abend erlebt bei Klaus Rainer Röhl in Hamburg, damals Ehemann von Ulrike Meinhof, seine Frau war dabei: Da hat Röhl eine Stunde lang über seine Erlebnisse in der HJ erzählt, und zwar mit ziemlich viel Nostalgie und Sentimentalität: Die Lagerfeuer und die Lieder, und wie sie so marschierten. Es war kein Schreckensbericht, sondern eher eine Erzählung nach dem Motto „Ach Gott, die Jugend, sie war doch so schön“.
Wittstock: Das spricht dafür, dass Röhls Bericht ehrlich war.
Reich-Ranicki: Ja, natürlich war er ehrlich. Wir kamen auch nicht auf die Idee, ihm das zu verübeln. Niemandem kann man seine schönen Jugenderinnerungen an die HJ verübeln – aber die Erinnerungen von meiner Frau und mir aus dieser Zeit sind eben ganz andere, und der Kontrast hat uns, Sie werden das verstehen, gelegentlich geschmerzt. Wittstock: Wer sprach sonst noch mit ihnen über die Nazi-Jahre? Reich-Ranicki: Kaum jemand. Selbst Walter Jens, der lange Jahre mein engster Freund war, hat mir nur wenig von seiner Vergangenheit berichtet: Er hat mir gegenüber nie erwähnt, dass er in der HJ war und später dann offenbar in der NSDAP. Jens hat sich auch nicht dafür interessiert, was ich erlebt hatte. Wenn ich ihm erzählte, dass es Konzerte im Warschauer Getto gab, hätte er ja nachfragen können, wie das möglich war. Er tat es nicht.
Wittstock: Gab es andere, die von sich aus nach Ihren Erfahrungen fragten? Reich-Ranicki: Die erste war Ulrike Meinhof. Das hat großen Eindruck auf mich gemacht. Sie war damals Journalistin und bat mich um ein Interview im Hamburger Café „Funk-Eck“ gegenüber vom NDR. Sie brauchte nur 30 Minuten Gespräch für ihre Sendung, aber sie sprach fast eine Stunde mit mir. Ich erzählte ihr von den Zuständen im Getto, vom Hunger, von der Angst und davon, dass es Menschenfressereien im Getto gegeben hatte, dass eine Mutter versucht hatte, die Leiche ihres Kindes zu essen. Nach dieser Stunde hatte Ulrike Meinhof Tränen in den Augen. Sie war die Erste, die sich in diesem Land für meine Vergangenheit interessierte.