Wie komisch war Theodor W. Adorno?

Zum 100. Geburtstag des Philosophen: Ein Gespräch mit dem Satiriker und Zeichner Robert Gernhardt
Der Philosoph, Soziologe und Zeitkritiker Theodor W. Adorno, der am 11. September 2003 100 Jahre alt geworden wäre, war einer der prominentesten Vertreter der „Frankfurter Schule“, deren Kritische Theorie entscheidenden Einfluss auf das kulturelle Bewusstsein der Bundesrepublik hatte. Nach ihrem Vorbild wurde die „Neue Frankfurter Schule“ (NFS) benannt, deren Komische Praxis ihrerseits entscheidenden Einfluss auf das spaßkulturelle Bewusstsein der Bundesrepublik hat. Zu den prominentesten Angehörigen der NFS gehört der Lyriker, Satiriker und Zeichner Robert Gernhardt. Mit ihm sprach Uwe Wittstock.
Uwe Wittstock: Welches Verhältnis hat die Neue Frankfurter Schule zu Adorno und der Frankfurter Schule?
Robert Gernhardt: Die Frankfurter Schule ist natürlich viel ehrwürdiger und weit ernster zu nehmen als die NFS. Das Etikett „Neue Frankfurter Schule“ war ursprünglich nur ein Hilfsbegriff, um 1981 einer Münchner Ausstellung mit Arbeiten von Hans Traxler, F. K. Waechter und mir einen Titel zu geben. Das Etikett hat sich dann aber gut bewährt und durchgesetzt. Tatsächlich gab es wohl immer Bewunderung und Sympathie für die Frankfurter Schule bei den Angehörigen der NFS – also neben den drei genannten noch F. W. Bernstein, Bernd Eilert, Eckhard Henscheid, Peter Knorr und Chlodwig Poth.
Wittstock: Warum eigentlich? Die Mitglieder der NFS zählen sich doch mit Stolz zu den Spaßmachern, die nichts und niemanden ernst nehmen. Adorno und die Frankfurter Schule gehörten dagegen zu den Ernstmachern, die gravitätisch auftraten und schrieben.
Gernhardt: Die Frankfurter Schule war eine ernste Angelegenheit, sicher. Aber keine bierernste. Adorno hatte durchaus Sinn für Komik, was man ja nicht vielen Philosophen nachsagen kann. Zum Beispiel hat er, als er einmal darüber nachdachte, wer oder was sein Leitbild sein könne, sich für ein Wildschwein entschieden! Das war wohltuend ungravitätisch. Diesen Text findet man in seinem Büchlein „Ohne Leitbild“. Da schreibt er, er habe als Kind erlebt, wie die zahme „Wildsau vom Ernsttal“ angesichts der rot gekleideten Gattin des Postdirektors Stapf ihre Zahmheit verlor, die Frau über den Haufen rannte und mit ihr davon stob. Und dann heißt es: Hätte ich ein Leitbild, so wäre es diese Sau. Und das passt doch schön zum Arbeitsmotto der NFS: Die Sau rauslassen. Wittstock: Gibt es jenseits solcher Lebensmottos auch inhaltliche Verbindungen zwischen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und der kritischen Grundhaltung der Satiriker der NFS? Gernhardt: Dass sich die komischen Autoren und Zeichner der NFS ausgerechnet in Frankfurt zusammenfanden, ist sicherlich kein Zufall. Als die Satirezeitschrift „Pardon“ 1962 in Frankfurt gegründet wurde, hob sich diese Stadt bereits ab von anderen Gemeinwesen Deutschlands. Hier gab es den Generalstaatsanwalt Bauer …
Wittstock: … der damals in Frankfurt die Auschwitz-Prozesse vorantrieb …
Gernhardt: … und die Bank für Gemeinwirtschaft, die bereit war, in ein so windiges Unternehmen wie eine Satirezeitschrift Geld zu investieren, und es gab das Frankfurter Institut für Sozialforschung von Horkheimer und Adorno, die – aus dem Exil zurückgekommen – hier wieder Fuß fassen konnten. Das Klima der Stadt war kritischen Geistern sicher wohlgesonnener als beispielsweise Köln mit seinem Volkswartbund, München mit seiner CSU oder Berlin mit seinem Frontstadt-Bewusstsein. Dieses Klima wurde mitgeprägt von der Bereitschaft, alles in Frage zu stellen – was ja auch Adornos Schriften seiner amerikanischen Jahre durchzieht. Gerade diese Bereitschaft und Haltung hat die NFS darin bestärkt, ihr nachzueifern. Ich habe damals vor allem die kleinen Schriften Adornos gelesen, wie „Minima Moralia“, „Ohne Leitbild“, „Jargon der Eigentlichkeit“. Letztere waren sehr polemische Texte zum deutschen Geistesleben und zur Kultur der Adenauerzeit.
Wittstock: Damit hatten Sie ein gemeinsames Feindbild?
Gernhardt: Ich habe 1956 Abitur gemacht und hatte mich vorher jahrelang von den Lehrern mit einem völlig ungefilterten Jargon der Eigentlichkeit füttern lassen müssen. Im Kulturbetrieb war damals ja so ein grauenvoller Heidegger-Verschnitt im Umlauf. Der ging mir schon als Schüler auf die Nerven und reizte zu Scherzen: „Eines der Hauptanliegen deutschen Geistes war und ist …“ Diesen Jargon hat Adorno dann dialektisch durchlöchert und aus aufgeblasenen Begriffen wie „Anliegen“ oder „Leitbild“ die Luft raus gelassen. Das empfand ich als ausgesprochen wohltuend und erleichternd. Wittstock: War Adorno für Sie als Autor ein Vorbild? Gernhardt: In gewisser Hinsicht schon. „Minima Moralia“ handelt letztlich von dem Zweifel, ob man heute noch ein im moralischen Sinne „richtiges“ Leben führen könne. Adorno geht dabei nicht von aufgeplusterten Begriffen aus, sondern von ganz einfachen Dingen des Alltags: Von ihnen aus beschreibt er dann den seiner Meinung nach unübersehbaren Niedergang unserer Kultur. Dieses Verfahren, bei anspruchsvoller Zeitkritik immer von ganz alltäglichen Tatsachen auszugehen, halte ich bis heute für vorbildlich. Zu dem Hammersatz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ kommt Adorno eben nicht durch eine Reflektion über Auschwitz, sondern als er über die Schwierigkeiten nachdenkt, heutzutage „richtig“ zu wohnen. Egal wie man sich einrichtet, man macht es verkehrt, denn alles ist eingebunden in so fragwürdige Kategorien wie Mode und Privatbesitz. Wittstock: Das klingt recht dogmatisch. Müsste Sie das als Satiriker nicht zum Widerspruch reizen? Gernhardt: Nein, in den „Minima Moralia“ ist Adorno nicht wirklich dogmatisch. Er ist zwar der Meinung, dass man sich nicht mehr „richtig“ einrichten oder „richtig“ kleiden kann. Gefällt ihm aber irgendein Kleidungsstück, ist er zu den aberwitzigsten intellektuellen Volten bereit, um es philosophisch zu rechtfertigen. So rehabilitiert er beispielsweise den Pantoffel – „Schlappe, slippers“ – als emanzipatorisches Kleidungsstück. Der Pantoffel, schreibt er, sei ein Denkmal des Hasses gegen das Sichbücken. Man kann nämlich in ihn hineinschlüpfen, ohne den aufrechten Gang aufzugeben. Solche Bereitschaft zur Übertreibung hat mir Adorno sehr lieb gemacht.
Wittstock: Ist das nicht eher unfreiwillig komisch?
Gernhardt: Sicher, aber solche unfreiwillige Komik ist die Kehrseite der Tatsache, dass Adorno es als einer von wenigen Philosophen des letzten Jahrhunderts verstanden hat, echte Hammersätze in die Welt zu setzen. Wer außer ihm hat so viele erinnerungsfähige Sentenzen geprägt wie er. „Das Ganze ist das Unwahre“ oder „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ oder „Bei manchen ist es schon eine Frechheit, wenn sie „ich“ sagen“. Solche Sätze sind hängen geblieben und an ihnen können sich, weil sie so herrlich übertrieben sind, ganze Generationen abarbeiten. Aber mit derartigen Übertreibungen geht der Autor immer das Risiko unfreiwilliger Komik ein. Deshalb ist Adorno eben manchmal vorn rüber gefallen und manchmal hinten rüber. Trotzdem macht ihn gerade diese Risikobereitschaft zu einem großen Autor. Die Aufgabe jedes Philosophen ist es, behaupte ich, mindestens einen solchen Hammersatz zu prägen. Und wie viele Kollegen Adornos gibt es, die meterweise Bücher geschrieben haben, ohne dass sich die Allgemeinheit an einen einzigen Satz von ihnen erinnert?

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