„Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“

 Botho Strauß reist auf der Spur der Träume
Seit gut einem Vierteljahrhundert besetzt Botho Strauß im Literaturbetrieb das Rollenfach des schwersensiblen Misanthropen. Von Zeit zu Zeit lässt er uns wissen, für wie „verbraucht und debil“ er unsere Gesellschaft hält, ja wie unzumutbar sie einem empfindsamen Geist letztlich ist, und dass er sie sich nach Möglichkeit weit vom Leibe hält. „Ich liebe die Menschen nicht…“, teilte er den Menschen in „Die Fehler des Kopisten“ (1997) mit, schob dann aber leise tröstend hinterher „…und kann doch keinen übersehen“. Keine schlechte Ausgangsposition für einen Schriftsteller. Von Schopenhauer über Strindberg bis Thomas Bernhard zeichnete sich mancher Große der Literatur durch soliden Weltekel aus und einen kalten Blick für die Schwächen seiner Zeitgenossen. Die innere Distanz schärfte ihre Wahrnehmung, und die verschärfte Wahrnehmung lieferte ihnen immer neue, immer schlagkräftigere Gründe für vermehrten Abscheu. Als Lieblingsziel seines Verachtungsfurors legte sich Botho Strauß den seiner Meinung nach mangelnden Sinn unserer Epoche für Religiosität und vernunftferne Seelenwelten zurecht. In immer neuen Angriffswellen geißelt er seither die Selbstgefälligkeit und Oberflächlichkeit seiner Mitmenschen, ihr angeblich fehlendes Verständnis für Traditionen und Tabus, für Sittlichkeit und Ehrfurcht vor dem Unbegreifbaren. Dem wortgewaltigen Zorn seiner Prosasammlungen verdanken wir einige höchst suggestive und zugleich bösartige Genrebilder aus unserem von Luxussorgen geplagten Leben. Ein Spitzenplatz unter den Chronisten des bundesdeutschen Kulturmilieus dürfte Strauß nicht mehr zu nehmen sein. Natürlich macht man sich mit so etwas Feinde. Doch da der Überdruss am Überfluss auf dem Medienmarkt gute Kurse erzielt, macht man sich zugleich auch eine Menge Freunde. Die damit sich abzeichnende Kontroverse um seine Arbeit wusste Strauß mit politischen Stellungnahmen munter zu befeuern. In den folgenden aufgeregten Lagerkämpfen wurde allerdings immer deutlicher, dass Strauß in den letzten Jahren intellektuell nicht mehr recht von der Stelle kam. Seine Reflexionen gingen allmählich über in ein Dauer-Räsonnement, das die vertrauten Argumente nicht mehr weitertrieb, sondern nur noch um und um wendete. Vielleicht hatte auch Botho Strauß deshalb das Gefühl, einen neuen Ansatz wagen zu müssen. Zumindest ist sein jetzt erschienener Prosaband „Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“ formal anders geworden als seine Vorgänger. Zum ersten Mal seit dem „Kongreß“ von 1989 legt Strauß nicht eine tagebuchartige Sammlung locker verbundener Gedanken, Porträts oder Szenen vor, sondern wieder eine von durchgehenden Figuren zusammengehaltene Textfolge. Eine Geschichte im traditionellen Sinne mit Fabel und Plot ist es deshalb noch lange nicht. Eher eine Art Traum-Theater voller überraschender Kontraste, abrupter Übergänge und dunkler, sehr dunkler Bezüge. Ein knapp fünfzigjähriger Mann, offenbar Mitinhaber einer ehemals florierenden, jetzt in die Krise geratenen Künstler-Agentur, bietet neben seiner üblichen Vermittlungsarbeit „psychologische Schulungsprogramme“ an. Eine seiner Kundinnen, Alice, wünscht in einer „finalen Begegnungsform“ unterrichtet zu werden, um künftig Männer besser „ins Aus“ setzen zu können, ja sie „auszupusten wie einen verblühten Löwenzahnstengel“. Ob der Unterricht bei der Schülerin Erfolg hat, bleibt offen, sicher ist, dass der Lehrer Erfolg bei seiner Schülerin hat. Er verbringt eine Nacht mit ihr, in der er allerdings „keinen ruhigen Schlaf“ findet: „Er wälzt den Kopf im Kissen und träumt von tausend Unbekannten, die alle auch noch in sein Leben treten wollen. Er jagt durch einen Sphärenwirbel nie gesehener Gesichter.“ Wer möchte, kann den neuen Prosaband als Logbuch dieser unruhigen Traumreise verstehen. Der Leser begegnet den merkwürdigsten Szenerien und Gestalten, er macht Abstecher zu Strauß‘ geliebtem mythischen Personal, zu wandelnden und sprechenden „Piktogrammen“, zu grell kostümierten Wesen, die aus Horror- oder Fantasy-Filmen entlehnt zu sein scheinen, zu entlegenen biblischen Gleichnissen (Matthäus Kap. 25, Vers 1-13) und vergessenen literarischen Schauplätzen. Das Buch soll bei all dem, wie es gegen Ende programmatisch heißt, nicht der Freudschen Traumlogik der Wunscherfüllung folgen, sondern soll die stabilen Konturen und Strukturen des Tages auflösen und verwischen. „Der Traum kann, was wir im Wachen als fest und fertig sahen, in einen offenen Gestaltwandel zurücksetzen. Er erfüllt lediglich das Verlangen nach der wiedergefundenen Unfertigkeit und Kindheit aller Zusammenhänge.“ Strauß verklammert all dies durch die regelmäßige Rückkehr in eine entvölkerte, verödete Großstadtszenerie. Die Wirtschaftskrise nämlich, die den erzählenden Künstler-Agenten samt Geliebter Alice und das Haus umschleichender Ehefrau Julia getroffen hat, hält die ganze Stadt, das ganze Land im Würgegriff. Sie sorgt dafür – was sich gegenwärtig erschreckend vertraut anhört – dass ehemals blühende Geschäfts- und Bürostraßen veröden, Bibliotheken schließen, Schwimmbäder verwahrlosen, Parkhäuser verfallen. Eine Kulissen-Landschaft, die sich in Strauß‘ gravitätischer Prosa rasch zur Metapher für innerseelische Verhältnisse auswächst: „Wir wohnen im Herzen einer evakuierten Welt! Unsere Räume innen und außen sind frei für die Wiederkehr uralter Sitten des Müßiggangs.“ Der wirtschaftliche Niedergang also als Chance zur Besinnung auf ein bedachtsameres und – um auf Strauß‘ Lieblingsthema zurückzukommen – wieder mehr auf Gott bedachtes Leben? Offen gesagt, das alles ist eine Menge Hin und Her für so ein kleines Buch. Aber Träume dürfen das, Träume sind chaotisch, wer wollte ihnen das verbieten. Dennoch die etwas ungeschützte Frage: Was soll das Ganze? Was soll es literarisch? Botho Strauß ist ein außerordentlich belesener, hoch intelligenter, ja gelehrter Autor, seine Vorlieben für manche Schriftsteller der Romantik sind nicht neu. Friedrich Schlegel, Novalis und andere machten sich vor rund 200 Jahren ähnliche Sorgen wie er um ihre damals schon modern genannte Welt. Eine rationalistische Vernunft schien ihnen die Menschen, die sich einst in der Religion geborgen fühlen konnten, mehr und mehr vom Glauben zu entfremden, Gott von der Natur zu trennen und die Idee von der Realität zu lösen: Zerfall, Spaltung, Absonderung wohin sie sahen. So entwarfen sie die Vision einer Kunst, in der Gefühl und Verstand, Dichtung und Wissenschaft, Poesie und Philosophie wieder verschmelzen – und glaubten gerade im Roman solche „größesten Disparaten“ zusammenbringen zu können. Wie ein solcher Versuch „größeste Disparate“ zusammenzubringen, wirkt auch „Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“. Das Konstruktionsprinzip des Buches huldigt nicht rationaler Analyse, sondern eher artistischer Synthese. Strauß hat ein Netz von Anspielungen, Verknüpfungen und Querverweisen über sein äußerst gegensätzliches Material geworfen, manche davon sind offensichtlich, andere gut verborgen, verwickelt und rätselhaft. Hut ab vor jedem, der von sich behaupten kann, diesen schmalen Band schon nach der zweiten oder dritten Lektüre bis in seine Feinheiten verstanden zu haben. Strauß liefert mit diesem Buch reichen Stoff für weitläufige germanistische Forschungen, fleißige Doktoranden werden es ihm danken. Hier nun ist vielleicht der Ort für ein persönliches Bekenntnis: Ich bin kein großer Freund literarischer Rätselbücher, wenn sie außer der unausgesprochenen Einladung an den Leser, sie zu enträtseln, nicht viel zu bieten haben. Nach meinem Eindruck verfügt „Die Nacht mit Alice…“ über wenig Ausstrahlungskraft, wenig Anmut, Scharfblick oder gar Spannung. Die Aussicht aber, ein aufwendig verschlüsseltes, ansonsten aber nicht reizvolles Buch wieder aufwendig zu entschlüsseln, hinterlässt bei mir rasch das Gefühl der Vergeblichkeit. Andere Leser sehen das anders. Botho Strauß mit Sicherheit, das ist sein gutes Recht. Ende der persönlichen Abschweifung. Eine der offensichtlichen Gemeinsamkeiten der so unterschiedlichen Episoden des Buches ist Strauß‘ Vorliebe für bedrohliche, finstere, mit dem üblichen Verstandes-Instrumentarium schwer begreifbare Sehnsüchte oder Taten. Warum möchte Alice Männer auspusten wie verblühten Löwenzahn? Warum ist sich Julia so sicher, dass ihr erster Mann ein heimliches „zweites Gesicht“ hat, um dann auf seinem Totenbett zu entdecken, dass dieses zweite Gesicht (ein altes romantisches Motiv variierend) ihre eigenen Züge trägt? Warum fühlt die vorletzte Mieterin eines fast aufgegebenen Wohnblocks „ein tiefes dunkles Bedürfnis“, sich von ihrem letzten, offenbar geistesgestörten Nachbarn „richten zu lassen“? Warum will ein Schauspieler plötzlich seine schöne Stimme loswerden? Undsoweiterundsofort. Den Figuren von Strauß steckt die Bosheit, die Lust auf Vernichtung und Selbstvernichtung direkt unter der Haut. Immer wieder bricht sie unversehens durch, züngelt hervor und erweist sich, anders als es in unserem, rundum sozialversicherten Wohlstandsalltag den Anschein hat, als letztlich unbeherrschbar. Strauß‘ Reise auf den Spur der Träume fördert im Menschen – und damit nähert er sich dann doch den Traumdeutungen Freuds an – vor allem das von der Zivilisation Verdrängte, Verbotene, nicht Zugelassene ans Licht. Und er versucht zu zeigen, auf welchen Schleichwegen diese zerstörerischen Seelenkräfte unser so selbstgewisses Tagesbewusstsein fest in den Griff nehmen. Das ist sicher alles richtig so, aber als Fazit für ein derart ambitioniertes Buch nicht gerade viel. Von der überwältigenden Magie erlebter Traumbilder bleibt Botho Strauß‘ Prosa zudem meilenweit entfernt. Sicher, Strauß ist und bleibt ein Stilist, auch in diesem Buch finden sich Passagen von beeindruckender sprachlicher Virtuosität. Doch sie sind selten, dazwischen drischt er viel Stroh. Ein wirklich neuer Ansatz in seinem Werk, der ihm neue schriftstellerische Möglichkeiten erschließt, ist „Die Nacht mit Alice…“ nicht. Es ist ein Buch wie ein Kaleidoskop, das nicht mit bunten Glasscherben, sondern mit verschwurbeltem Bildungsgut und prätentiösen Katastrophenfantasien vollgestopft wurde.

Botho Strauß: „Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“
Hanser Verlag, München 2003 168 Seiten, 17,90 €

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