„Eine Familie, irgendwie“

 Tony Earley erzählt fast wahre Geschichten
Stammte dieses Buch von einem deutschen Autor, wäre seine Veröffentlichung heute und hier zu Lande ein heikles Unterfangen. Gut möglich, dass manche Verlage das Risiko scheuen und den Band vorsichtshalber ablehnen würden. Denn der Amerikaner Tony Earley hat, wie es im Untertitel heißt, „Fast wahre Geschichten“ über die eigene Familie geschrieben. Er legt dabei großen Wert auf Authentizität und schont oder schönt seine Angehörigen nicht. Es kommt also allerlei zur Sprache, was empfindsame Gemüter als abträgliche Darstellung ihrer Person empfinden könnten. Bedenkt man, wie Gerichte in München und Berlin derzeit mit den Romanen „Esra“ von Maxim Biller und „Meere“ von Alban Nicolai Herbst umspringen, erfüllte auch Earleys Band „Eine Familie, irgendwie“ alle Voraussetzungen für ein umfassendes Verbot. Denn natürlich werden in dem Buch die Persönlichkeitsrechte etlicher potentieller Kläger verletzt und Earley unternimmt keinerlei Versuch, die Übereinstimmung zwischen seinen Figuren und ihren lebenden Vorbildern als zufällig oder unbeabsichtigt auszugeben: „Gedächtnis und Phantasie erscheinen mir“, schreibt er im Vorwort, „als verschiedene Namen für ein und dieselbe menschliche Eigenschaft“. Entschiedener kann man Literatur nicht von dem im Gedächtnis des Autors gespeicherten Bild der Realität abhängig machen – und also auch von der Freiheit des Autors, dieses Bild ohne juristische Befürchtungen formulieren zu dürfen. In jüngster Zeit wurden Biller und Herbst öffentlich mitunter kuriose Vorschläge gemacht, wie sie ihre Bücher hätte schreiben können, ohne die Rechte der jeweiligen Klägerinnen zu verletzen – ganz so als sei es eine künstlerisch abwegige Idee, ‚fast wahre’ Geschichten erzählen zu wollen. Am Beispiel der eindrucksvollen Storys von Earley lassen sich dagegen die besonderen und schwer ersetzbaren ästhetischen Qualitäten eines eng am Tatsächlichen orientierten Erzählens studieren. Earley ist in den Appalachen North Carolinas aufgewachsen und fängt das bäuerliche Milieu der „Blauen Berge“ suggestiv ein. Die Landschaft gilt als eine der ärmsten und abgeschlossensten der USA. Da die Existenzbedingungen dort ungewöhnlich hart sind, blieben vor allem die – milde formuliert – am wenigsten flexiblen und aktiven Menschen in der Region. Bis tief ins 20. Jahrhundert hinein, konnte man in diesem Gebirgszug noch Verhältnisse antreffen, die deutlich an das Leben der Einwanderer 200 Jahre zuvor erinnerten. Tony Earley ist erst 1962 geboren und die Appalachen wurden inzwischen durch, wie er schreibt, „Straßenbauprojekte, das Radio und den Versandhauskatalog von Sears-Roebuck bis in die finstersten Täler“ hinein verändert. Dennoch spürt er in seinen Geschichten, was ihnen eine hohe innere Spannung und Glaubwürdigkeit verleiht, dem Erbe der einfachen, auf kargen, isolierten Farmen lebenden Vorfahren im eigenen Leben nach. Er fühlte sich ihnen nie rundum zugehörig, wurde von den Großeltern immer als „quare“, als seltsam oder komisch bezeichnet, und kann sich doch von seinen Angehörigen und seiner Heimat nicht wirklich lösen. In der vielleicht schönsten Erzählung lässt er die vier Generationen überspannende Historie seiner Familie vor dem Hintergrund der Diele eines Hauses, das sein Urgroßvater baute, wie auf einer Theaterbühne abschnurren. Und macht zugleich kenntlich, wo die Widersprüche zwischen den Gesetzen sinnstiftender Fiktion und den sinnfernen Fakten liegen: „In Wirklichkeit ist die Diele schlicht ein Raum von einundvierzig Fuß Länge, neun Fuß und zwei Inches Höhe und gut sechs Fuß Breite, durch den meine Familie seit vierundachtzig Jahren läuft. Von allen Wirklichkeiten, die wir in der Diele versammelt und verwahrt haben, macht mir die folgende am meisten zu schaffen: Geschichten aus dem Leben enden selten so, wie wir es uns wünschen. Sie sind einfach irgendwann zu Ende.“ Earley ist alles andere als naiv, er glaubt keineswegs Leben und Literatur, Geschehnis und Geschichte in eins setzen zu können. Doch nutzt er, ähnlich wie J.D. Salinger, den er verehrt, die vielfach betonte Authentizität seiner Erzählungen, um die Leser wieder empfänglich zu machen für Szenen und Effekte, die sonst abgenutzt oder unglaubwürdig wirkten. Bei Earley ist dies vor allem der Einbruch des Wunderbaren in die alltägliche Welt: Wenn er zum Beispiel in der gleicher Nacht wie seine Mutter von der toten Schwester träumt, oder wenn er im letzten Moment vom Selbstmord abgehalten wird, weil er glaubt, in einem dunklen Nebenraum der Kirche Gott zu begegnen, dann nimmt Earley solche melodramatischen Auftritten durch seinen federnden ironischen Ton jede Peinlichkeit, verleiht ihnen aber zugleich einen eigentümlichen Ernst, da er immer klarstellt, dass solche Szenen nicht erfunden sind. Earleys Geschichten erschienen, von „The Oxford American“ über „Harper’s“ bis zum „New Yorker“ in einigen der besten amerikanischen Zeitschriften. Schon an einem solchen Ort hätten sie, angesichts des neuen persönlichkeitsrechtlichen Purismus hier zu Lande nicht gedruckt werden können, sobald eine der dargestellten Personen Anstoß nähme. Was dann gegen jene Personen, nicht aber gegen die Geschichten spräche. Earleys Band macht nicht zuletzt kenntlich, worauf die deutsche Literatur wird verzichten müssen, wenn die jüngste Rechtsprechung sich auf Dauer durchsetzt.

Tony Earley: „Eine Familie, irgendwie“. Fast wahre Geschichten Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2003 176 Seiten, 18,00 €

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