Ein Wüstenstädtchen namens Bluff: Der Filmregisseur Bernhard Sinkel hat seinen ersten Roman geschrieben
Im Garten seines neuen Hauses wartete ein Bunker auf ihn. 20 Jahre lang hat Bernhard Sinkel, Filmregisseur und Drehbuchautor, am Starnberger See gelebt. Als er sich letzten Herbst entschloss, nach München zu ziehen, fand er in Schwabing ein efeuberanktes Einfamilienhaus samt rückwärtigem Garten. Wenn die dürftigen Grünflecken moderner Reihenhäuser ihrer Form und Dimension wegen gern als Handtuchgärten bezeichnet werden, dann kann man den von Bernhard Sinkel wohl einen Lakengarten nennen: Ein Rechteck mit rund 20 Meter Seitenlänge und vielleicht sechs, acht Metern in der Breite. An dessen Ende befand sich eine merkwürdige Erhebung. Sie ließ Sinkel keine Ruhe, er grub und stieß auf Schutt, unter dem Schutt auf Beton. Bunkerbeton. Sinkel hat ihn freigelegt, hat Schaufel für Schaufel, Sack für Sack den Schutt aus dem Garten durchs Haus auf die Straße getragen. Als dann der Bunker in seiner grauen, gut mannshohen Masse nackt vor ihm stand, gab Sinkel ihm eine neue, betont friedliche Funktion als Geräteschuppen und richtete das ausgedehnte Flachdach als steingeflieste, schattige Gartenterrasse her. Was viel über Sinkel verrät. Er ist ein Mann, dem das Vergangene keine Ruhe lässt, ist einer, der gräbt, der im Schutt stochert und dabei, nicht immer zu Freude seiner Mitwelt, lang Vergessene wieder ans Licht zerrt. In den Siebzigern, als sich die jungen deutschen Regisseure noch gern Filmemacher nannten, wurde er auf diese Weise zu einem gefragten, zu einem gefeierten Mann. Zusammen mit seinem Koautor Alf Brustellin drehte er fast jährlich einen Film: „Lina Braake“, „Berlinger“, „Der Mädchenkrieg“ und die Adaption von Eichendorffs „Taugenichts“ brachten Erfolge in Serie. Ausgezeichnet mit Bundesfilmbändern in Silber und Gold, gefeiert mit dem Ernst-Lubitsch-Preis, gehörte Sinkel zu den Wichtigsten des Neuen Deutschen Films. Doch in den achtziger Jahren wurde das Kinopublikum immer jünger und mochte nicht mehr in der deutschen Vergangenheit der Nazi-Jahre wühlen, sondern lieber gut unterhalten werden. Zudem starb Brustellin 1981 bei einem Unfall. Plötzlich galt Sinkel, gerade mal Mitte 40, als ein sperriger, irgendwie überlebter Regisseur. Bittere Erfahrungen. Doch Sinkel wirkt nicht bitter. Mehr wie ein Mann, der viel nachdenkt, auch über sich, und der dabei ganz gern auf seiner unterbunkerten Terrasse in der Sonne sitzt. Regisseure müssen, heißt es oft, Diktatoren sein, die sich von niemandem, keinem noch so anmaßenden Produzenten, keinem noch so prätenziösen Schauspieler die Macht über ihren Film aus der Hand nehmen lassen. Aber Sinkel macht nicht den Eindruck eines besessenen Kämpfers, eher den eines bedächtigen Beobachters, der mehr Freude an der sorgsamen Vorarbeit für einen Film hat als an den Dreharbeiten selbst. Sein letzter Film „Der Kinoerzähler“, mit Armin Mueller-Stahl in der Hauptrolle, den er nach einer langen Arbeitsunterbrechung vor zehn Jahre realisieren konnte, wurde ihm, wie er sagt, „von der deutschen Filmkritik regelrecht in den Händen zerschlagen“. Die Besprechungen waren so verheerend, dass der Film kaum in die Kinos kam. Sein nächstes Projekt „Der Maestro“, das die Karriere eines Dirigenten im nationalsozialistischen und im Nachkriegsdeutschland beschreiben sollte, wurde von der Produktionsfirma nach mehrjähriger Vorbereitungszeit drei Wochen vor Drehbeginn abgebrochen. Andere Stoffe, mit denen sich Sinkel beschäftigte, fanden keine Interessenten mehr, Sinkel stand in der Filmbranche vor geschlossenen Türen. Am Nullpunkt einer ehemals glänzenden Laufbahn. Was macht ein Künstler, dem seine Arbeit verwehrt ist? Was tut ein Bildhauer, der sich mit einem Mal in eine Sandwüste versetzt sieht, fernab von jedem Fels oder Stein? Was ein Maler, den es in ein Land mit striktem Bilderverbot verschlägt, wo es weder Farben noch Leinwand für ihn gibt? Er versucht sich, so gut es geht, in einer anderen Kunst. Das zumindest ist der Weg, den Sinkel einschlug. Er hat einen der Stoffe, den er gern ins Kino gebracht hätte, zwischen zwei Buchdeckel gebracht. Er schrieb seinen ersten Roman, einen Thriller, „Bluff“, und konnte sich so auf dem Papier endlich einmal den Traum erfüllen, eine Geschichte ohne Rücksicht auf Budget, Technik, Wetter, Terminnot oder Besetzungsprobleme voll und ganz nach eigenen Vorstellungen fertig zu stellen. Auch dieses Buch führt in die deutsche Vergangenheit, aber diesmal nicht in die Jahre des Nationalsozialismus. Raoul, dem Held des Buches, wurde als Kind in der DDR übel mitgespielt. Er verfügt über ein gespenstisch präzises, fotografisches Gedächtnis. Um ihn und seine erstaunlichen Fähigkeiten nach Belieben bei Geheimdienstaktionen einsetzen zu können, lässt der Stasi-Offizier Kasunke Raouls Mutter im Gefängnis verschwinden. Der Junge wird von der Stasi regelrecht adoptiert – wofür es in der DDR traurige Beispiele gab. Nach der Wende erfährt Raoul vom Schicksal seiner Mutter und will Kasunke nicht ungeschoren davonkommen lassen. Doch der taucht unter, und erst zehn Jahre später, als Erwachsener, stößt Raoul wieder auf seine Spur – der er voller Vergeltungsgelüste, aber ohne rechten Plan folgt. „Rache“, sagt Sinkel, „der Gedanke an Rache hatte für mich immer eine beunruhigende, eine herausfordernde Bedeutung.“ Er setzt sich auf und wirkt nun gar nicht mehr wie ein gelassener Melancholiker. „In der Rache steckt natürlich der Gedanke, die Verantwortlichen für Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, die Vergangenheit eben nicht auf sich beruhen zu lassen, sondern gründlich abzurechnen. Schon „Lina Braake“ ist ein Film über eine kluge Rache. „Berlinger“ einer über den Verzicht auf Rache. Und „Bluff“ erzählt davon, wie schwer es ist, Rache an einem Mörder zu üben, wenn man selbst nicht die Mentalität eines Mörders hat.“ Das Buch folgt den Gesetzen seines Genres. Es will seine Leser unterhalten und in Atem halten, nicht mehr und nicht weniger. Und dennoch ist es auch ein Buch, das von politischen Verbrechen und deutscher Geschichte erzählt. Sinkel hat auf viele typisch literarische Mittel verzichtet, er breitet nicht die Gedanken seiner Figuren vor dem Leser aus und nimmt sich auch nicht das Recht heraus, als Erzähler die Handlung zu kommentieren. Wie es sich für einen Mann des Films gehört, arbeitet er stattdessen mit Dialogen, mit breit ausgemalten Bildern und Special Effects. Viele Szenen haben deshalb eine erstaunlich hohe visuelle Suggestivität, mit dem Buch in der Hand glaubt man in Kino zu sitzen. Einige andere wiederum wirken abrupt und psychologisch wenig motiviert, was auf der Leinwand vermutlich kaum auffallen würde – sich im Roman aber eben doch bemerkbar macht. Das Buch endet im Südwesten Amerikas, in einem kleinen Wüstenstädtchen namens Bluff. Sinkel entdeckte den Ort, als er dort wie einst als Regisseur die Landschaft nach Drehorten absuchte. Es ist ein modernes Westernnest, das ihm als Verehrer der Filme John Fords nicht mehr aus dem Kopf ging. Er brachte einen langen Videofilm von der Reise mit, den er im Computer selbst geschnitten hat. Seine Sehnsucht, Raouls Geschichte nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern zu erzählen, kann er nicht verbergen. Man sagt Thrillern gern nach, sie seien zynisch und blutrünstig. Sinkels Buch ist nichts davon. Auch hier gibt es Tote, doch man merkt den entsprechenden Szenen die Überzeugung ihres Autors an, dass es in der Geschichte viel zu oft die Falschen sind, die sterben müssen. So viel zumindest hat Sinkel mit Meistern des Genres, mit den großen Moralisten Eric Ambler oder John le Carré gemein: Es geht ihnen im heillosen Gewirr der Geheimdienstschlachten nicht um den spektakulären Schrecken, nicht um möglichst gigantische Dimensionen eines technologischen Terrors. Es geht ihnen vielmehr um das Unrecht, das ein Mensch dem anderen antut, und darum, wie Gewalt die Menschen verändert. Raoul, Sinkels Held, findet schließlich allen Versuchungen zum Trotz einen respektablen Weg, seine Rache zu üben. Es liegt auf der Hand, dass Sinkel angesichts seiner ins Stocken geratenen Filmkarriere gelegentlich auch in Versuchung ist, Genugtuung einzufordern bei bornierten Produzenten, engstirnigen Kritikern, desinteressierten Zuschauern. Er spricht ungern davon, aber er leugnet es nicht. Vielleicht ist sein Roman der respektabelste, der stolzeste Weg, mit Zurückweisungen fertig zu werden.
Bernhard Sinkel: „Bluff“. Roman Dtv, München 2003 277 S., 14,50 €