„Landnahme“

In Christoph Heins neuem Roman ist alles wie immer – und doch gibt das Buch Rätsel auf
Christoph Hein, der im April seinen sechzigsten Geburtstag feiert, kann sich über mangelnde Anerkennung nicht beklagen. Er ist ein gern gespielter Theaterautor, ein hoch geschätzter Essayist und ein vielfach preisgekrönter Erzähler. Für diesen Erfolg gibt es gute Gründe, denn Hein hat ein Talent, das in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht allzu weit verbreitet ist: Er versteht es, aus dem gewöhnlichen Leben gewöhnlicher Zeitgenossen gut lesbare, kluge Geschichten zu destillieren. Seit er vor über zwanzig Jahren mit der Novelle „Der fremde Freund“ bekannt, ja berühmt wurde, hat er mit fünf Romanen und einem Erzählungsband ein imponierendes Gesellschaftspanorama der DDR und in Ansätzen auch des wiedervereinigten Deutschlands entworfen. Man muss Christoph Hein heute zu den wichtigsten Schriftstellern seiner Generation zählen. Zugegeben, ein großer Sprachartist ist er nie gewesen. Doch das sind, bedauerlicherweise, viel zu viele Erzähler nicht. Hein schreibt ein schlichtes, aber meist dichtes Deutsch und pflegt eine auffällige Vorliebe für Rollenprosa: Anstatt seine Figuren von außen zu beobachten, schlüpft er gern in ihre Haut, lässt sie über manche ihrer Geschäfte, Gedanken, Gefühle plaudern und über manche andere schweigen – und natürlich verrät ihr Schweigen weit mehr über sie, als ihre so bereitwillig erteilten Auskünfte. Gewöhnlich sind es keine starken und mutigen Menschen, die Hein zu seinen Helden macht, sondern eher ernüchterte, desillusionierte Charaktere, die vor ihren Verletzungen in Zynismus und Bitterkeit flüchten. Sie würden, so behaupten sie, nur zu gern für eine bessere Welt kämpfen. Aber müde und verzagt wie sie sind, machen sie es sich doch lieber im Unglück bequem und finden sich ab mit der angeblich unrettbar bösen Welt. In beidem, im immerfort spürbaren Verständnis dieses Autors für die Schwächen seiner Figuren, wie in seinem immerfort spürbaren Appell an die Leser, es diesen Figuren ja nicht gleichzutun, schwingt bis heute etwas mit von Heins Herkunft aus einer Pfarrerfamilie. Fast alle diese Zutaten finden sich auch in seinem neuen, seinem bislang umfangreichsten Roman „Landnahme“: Da ist der Versuch, ganze Jahrzehnte der DDR-Geschichte aus einer Alltagsperspektive nachzuerzählen. Da sind die Durchschnittsfiguren, die selbst wortreich über ihre Durchschnittsnöte berichten. Da sind die kleinen seelischen Kränkungen, die aus den Menschen mit der Zeit kleinliche, kranke Seelen machen. Alles ist da, alles ist wie immer bei Hein – und dennoch stimmt in diesem Roman wenig zusammen. Er wirkt oberflächlich, flüchtig und lieblos zusammengeschustert. Er ist, um es gleich deutlich zu sagen, rundum missglückt, er ist die Bankrotterklärung eines routinierten Erzählers. Im Mittelpunkt des Buches, das keinen Mittelpunkt hat, steht Bernhard Haber. Er ist der Sohn eines aus Schlesien vertriebenen Tischlers, den es nach dem Krieg in die fiktive sächsische Kleinstadt Bad Guldenberg verschlägt. In diesem Ort, der auffällige Ähnlichkeiten mit dem sächsischen Bad Düben hat, wo Christoph Hein einen Großteil seiner Jugend verbrachte, siedelte Hein bereits seinen Roman „Horns Ende“ (1985) an. Fünf Menschen aus Guldenberg dürfen diesmal zu Wort kommen: Zwei ehemalige Schulkameraden Bernhards, eine Jugendfreundin, eine Schwägerin und ein Geschäftsfreund. Sie alle berichten hauptsächlich von sich selbst und nur nebenher über Bernhards gut vier Jahrzehnte überspannende Karriere vom Außenseiter des Städtchens zu einer ihrer einflussreichen Persönlichkeiten. Hein scheint mit seinem Roman noch einmal die seit Balzacs Zeiten geläufig gewordene Ansicht exemplifizieren zu wollen, dass sich hinter jedem großen geschäftlichen Erfolg letztlich ein großes Verbrechen verberge. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn Hein zu diesem Zweck ein Minimum an erzählerischer Fantasie aufwendete. Doch die Konstruktion seiner Fabel ist erschütternd anspruchslos: Kaum hat Bernhards Vater, der Vertriebene, seine erste Tischlerwerkstatt eröffnet, die den eingesessenen Handwerkern des Ortes naturgemäß ein Dorn im Auge ist, fällt sie schon einem Brandanschlag zum Opfer. Als sich Bernhard davon nicht abschrecken lässt und ebenfalls Tischler wird, fliegt auch in seiner Arbeitshalle ein Brandsatz durchs Fenster – woraufhin er sich in wüsten Verdächtigungen gegen einen Konkurrenten ergeht, dessen Werkstatt dann prompt genauso in Flammen aufgeht. Ist es übertreiben, wenn man sich davon an banale Heimatfilmchen erinnert fühlt, in denen verfeindete Bauerntölpel einander gegenseitig die Höfe über den Köpfen anzünden? Ob Christoph Hein tatsächlich glaubt, mit einer so bescheidenen Konstruktion den sozialen Spannungen bei der Integration von Vertriebenen in die DDR-Gesellschaft literarisch gerecht zu werden? Und schließlich: Ist es wirklich glaubwürdig, dass die Polizei keinem dieser Anschläge – samt einem möglichen Mord an Bernhards Vater – auf die Spur kommt? Ist Bad Guldenberg eine Stadt perfekter Verbrecher? Gemessen an diesem provozierend grobschlächtigen Austausch von Molotow-Cocktails ist jedenfalls Balzacs Schilderung, wie Anfang des 19.Jahrhunderts einer Druckerei im provinziellen Angoulême von der Konkurrenz das Lebenslicht ausgeblasen wird, von wahrhaft berauschender Subtilität. Vielleicht wäre das alles nicht so schlimm, wenn Hein mit seinem Helden eine fesselnde, farbige, psychologisch vieldeutige Figur entworfen hätte. Doch Bernhard ist ein durch und durch dumpfer, beschränkter Charakter. Auf die Zurückweisung, die ihm als Vertriebenenkind entgegenschlug, reagiert er mit kleinen, heimtückischen Racheakten, ansonsten aber fügt er sich kaltblütig und ohne wahrnehmbare innere Konflikte in die schäbige Guldenberger Gesellschaft ein. Verglichen mit den früheren Helden Christoph Heins, die noch in ihrer Wehleidigkeit den Wunsch nach Stärke, noch in ihrer Gemeinheit die Sehnsucht nach Güte spürbar machten, ist Bernhards Persönlichkeit flach wie ein Tischlerhobel. Auch die fünf Gewährsleute, die über Bernhards Leben Auskunft geben, sind eher eindimensionale Naturen. Hein gelingt es kaum, sie durch ihre Sprache zum Leben zu erwecken, ihnen Individualität zu verleihen. Und wenn er es dennoch versucht, wie bei seinem ersten Erzähler namens Nicolas, dann stellt er damit die Geduld seiner Leser auf eine gnadenlose Probe: Denn dieser Nicolas erweist sich als ein unglaublich geschwätziger Pedant, der kaum etwas zu sagen hat, dafür aber das wenige, das er berichtet, oft zwei- oder dreimal fast wortgleich wiederholt. Hat der Leser diese herbe Prüfung hinter sich, stößt er auf eine seltsam profillose, kaum fassbare Erzählerin, die sich selbst erst als besonders begriffsstutzig, dann als besonders schlagfertig darstellt: „Mir fiel keine Entgegnung ein, jedenfalls nicht sofort, sondern immer erst Stunden später“. Einige Seiten weiter aber behauptet sie: „Ich sah gut aus und war immer tipptopp angezogen, und auf den Mund gefallen war ich nicht. Wenn das letzte Wort gefallen war, wenn irgendwas zu einem Abschluss gekommen war, dann konnten alle darauf wetten, dass mir noch eine Bemerkung einfiel, die ich laut verkünden musste“. Kann es sein, dass Hein über die Figuren, die er hier munter plappern lässt, nie gründlicher nachgedacht hat? Dass er sich keine Mühe gab, ihnen konzise Persönlichkeiten zu verleihen? Ärgerlich an diesem Roman ist zudem, dass Hein über das spezifische Schicksal eines Vertriebenen in der DDR – das er selbst teilt, er wurde 1944 in Schlesien geboren – nichts Bemerkenswertes mitzuteilen hat. Aus den Erzählungen der fünf Berichterstatter ist wenig über Bernhards Seelenleben, kaum etwas über das seines Vaters und nichts über den Rest der Familie zu entnehmen. Nie ist vom Verlust der Heimat oder von Trauer um sie die Rede. Und wie wenige Möglichkeiten die offiziell Um- oder Aussiedler genannten Vertriebenen in einem totalitären sozialistischen Land hatten, ihre Interessen und ihren Kummer politisch zu artikulieren, kommt nicht mal am Rande vor. Wie dürftig dieses neue Buch Heins letztlich ist, wird deutlich, wenn man es neben seinen alten, ebenfalls in Bad Guldenberg spielenden Roman „Horns Ende“ hält, oder besser noch neben seinen Prosaband „Von allem Anfang an“, in dem Hein von der eigenen Jugend in der sächsischen Provinz berichtet. In beiden Büchern wird die Atmosphäre der fünfziger Jahre, die geistige und seelische Enge vieler Menschen dieser Zeit, der Irrwitz der sozialistischen Diktatur und das lähmende Dahindämmern des weltverlorenen Kurortes mit ungleich größerer Intensität veranschaulicht. „Landnahme“ wirkt dagegen wie ein matter Abklatsch, wie eine kümmerliche Selbstkopie ohne künstlerischen Ehrgeiz. Weshalb ein erfahrener Erzähler wie Christoph Hein einen solchen Roman abliefert, ist ein Rätsel. Mag sein, dass ihn die seit zwei Jahren rumorende Debatte um die Leiden der deutschen Vertriebenen dazu verführt hat, seine Hauptfigur mit einem biographischen Hintergrund auszustatten, der ihn nicht wirklich interessierte, und den er deshalb nicht mit der nötigen literarischen Ernsthaftigkeit entfaltete. Mag sein, dass Hein mit seinem Talent, empfindsame und resignierte Menschen zu schildern, letztlich an seiner Hauptfigur Bernhard Haber gescheitert ist – denn die erweist sich zwar als dümmlich und hohl, aber auch als durchsetzungsfähig und erfolgreich. Doch im Grunde sind solche Spekulationen müßig. „Landnahme“ ist ein zäher, sprachlich oft erbärmlich schwacher, einfallsloser Roman. Wer gern etwas von Christoph Hein lesen möchte, sollte lieber zu einem seiner früheren Bücher greifen. Oder einfach auf das nächste warten.

Christoph Hein: „Landnahme“. Roman
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004 357 Seiten, 19,90 €.

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