„Spieltrieb“

Juli Zeh erzählt von den Verwirrungen des Zöglings Ada
Juli Zeh, inzwischen dreißig Jahre alt, zählt zu den Hoffnungen der deutschen Literatur. Für ihren ersten Roman „Adler und Engel“ hat sie 2001 viel Lob und Preis eingeheimst. Er ist, schreibt ihr Verlag, inzwischen in zwanzig Sprachen übersetzt worden und ein Welterfolg. Im Jahr darauf publizierte sie den Reisebericht „Die Stille ist ein Geräusch“ – eine unvoreingenommene und schon deshalb eminent politische Reportage über einen längeren Aufenthalt in Bosnien. Ein wenig irritierend ist, dass dieses Buch auf der Homepage der Autorin (www.juni-zeh.de) inzwischen als Roman bezeichnet wird. Ihr neues Buch „Spieltrieb“ belegt, dass es Juli Zeh weder an literarischen Kenntnissen noch an Selbstbewusstsein mangelt. Es ist eine Hommage an Robert Musil und man wird den Eindruck nicht los, als versuche die Autorin – nähme man sie tatsächlich beim Wort – wie Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ den geistesgeschichtlichen Standort ihres Zeitalters zu bestimmen, oder zumindest ein intellektuelles Profil der heute jungen Generation zu entwerfen. Aber natürlich achtet Juli Zeh darauf, dass man sie nicht wirklich beim Wort nehmen kann. Der Roman „Spieltrieb“ erzählt, wie Musils Geschichte über den „Zögling Törless“, von den Verwirrungen und Nöten der Pubertät. Ada, Schülerin eines Gymnasiums in Bonn, ist fünfzehn, blond, klug bis altklug und nicht sehr schön. Alev, ein achtzehnjähriger Mitschüler, ist Halbägypter, impotent und ein ziemlicher Widerling, hat aber eine große Ausstrahlung zumal auf Mädchen. Die beiden finden Gefallen aneinander, halten sich für brillante „Urenkel der Nihilisten“, bilden sich ein, weder Werte noch Emotionen zu kennen und ihre Umwelt ganz nach Laune manipulieren zu können. Als Gegenstand ihres Spieltriebs kommt ihnen Smutek gerade recht. Er stammt aus Polen, ist ihr Deutschlehrer, ein engagierter Pädagoge und scheinbar glücklich verheiratet. Doch Ada gelingt es, ihn auf den Gymnastikmatten der Sporthalle zu verführen, damit Alev ihn bei den streng verbotenen Leibesübungen mit der minderjährigen Schutzbefohlenen überraschen und fotografieren kann. Mit den Bildern erpressen die beiden ihren Lehrer erst um kleinere, dann um größere Geldbeträge, vor allem aber zwingen sie ihn, weiter regelmäßig mit Ada zu schlafen und Alev immer neue verräterische Bilderserien schießen zu lassen. Die beiden sind bei all dem ganz verzückt über die eigene Kaltschnäuzigkeit und geben sie als das Resultat der geistigen Situation unserer Zeit aus: In immer neuen Anläufen beteuern sie, die Speerspitze einer neuen, coolen Generation zu sein, die mit ihrem seelenlosen Verhalten gleichsam das Fazit der gesamten Philosophiegeschichte bis heute zieht. Derart verblasenen Ideen passen natürlich gut zu Ada und Alev: Zu ihrer pubertären Verunsicherung, die sie hinter Selbstüberschätzung verstecken, und zu ihrer mit ein wenig Bildungsgerümpel notdürftig getarnten Ahnungslosigkeit. Dennoch wird ihr Gerede durch ständige Wiederholung natürlich nicht richtiger. Offen gestanden, auf mich wirkte es bald schon recht ermüdend, zumal die Ideen der beiden sich nicht sehr von jenen Thesen unterscheiden, die in den handelsüblichen Reportagen über die „Jugend von heute“ bemüht werden. Auch das Romanmotiv „Erpressung wegen kompromittierenden Fotos“ erscheint mir inzwischen ungefähr so abgedroschen wie das der gefälschten Briefe in den Romanen und Theaterstücken des 18. Jahrhunderts. Doch damit noch nicht genug: Juli Zeh lässt auch die übrigen Figuren den Buches nur selten über etwas anderes als die Grundfragen der Philosophie sprechen oder nachdenken. Folglich ist nicht nur regelmäßig vom Nihilismus und den Werteverfall im Bewusstsein unserer jüngsten Generation die Rede, sondern alle paar Seiten auch vom Gottesbeweis oder dem Wesen der Dinge, vom Sinn des Lebens oder dem Weltgeist, von dem Nichtvorhandensein der Seele oder der Frage nach der menschlichen Willensfreiheit. Natürlich ist Juli Zeh zu klug, als dass sie ihren Lesern all dies ohne jede literarische Brechungen servierte. Geschickt versteht sie beispielsweise anzudeuten, dass es mit Adas Emotionslosigkeit nicht so weit her ist, wie es Ada sich selbst einredet. Es sind winzige Details, fein verstreute Hinweise, kleine, aber leuchtende Anhaltspunkte, die klar machen, welche Anstrengung es das Mädchen kostet, nicht zu fühlen, was sie fühlt. Sie ist keineswegs so ungewöhnlich wie sie glaubt, sondern schlicht ein vom Erwachsenwerden überfordertes Kind. Bei den anderen Figuren ist es ähnlich. Immer wieder mal lässt Juli Zeh spüren, dass man deren philosophische Auf- und Ausbrüche nicht für bare Münze nehmen darf. Und das ist auch gut so, denn viele ihrer Überlegungen sind offenkundig banales und billiges Zeug – keine intellektuellen Juwelen, sondern der vielfach abgefingerte Modeschmuck unserer zeitkritischen Diskurse. Doch damit landet der Roman „Spieltrieb“ zwischen Baum und Borke: Er spielt nur mit der Vorstellung, in der Person Adas eine Art Frau ohne Eigenschaften zu erschaffen und so etwas wie das geistige Panorama unserer Zeit zu entwerfen. Zugleich gibt Juli Zeh zu verstehen, dass sie es mit diesem hochfliegenden literarischen Vorhaben gar nicht so ernst meint, und dass die langen, überhitzten Reflexionen ihrer Figuren letztlich eher als Symptome der Epoche und nicht an deren Analysen zu verstehen sind. Doch weshalb ein Leser unter diesen Voraussetzungen über hunderte von Seiten hinweg den weitgehend unoriginellen, wenig erhellenden Gedanken dieser Figuren folgen sollte, sagt sie nicht. So ist der Roman sowohl als Satire auf das kulturkritische Geschwätz der Gegenwart, wie auch als Geschichte über die Wirrnisse der Pubertät letztlich viel zu weitschweifig. Schade.

Juli Zeh: „Spieltrieb“. Roman
Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2004 566 Seiten, 24,90 €

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Weltgeschichte, alltäglich

Barbara Honigmann erzählt vom Doppelagenten Kim Philby, ihrer Mutter und dem antifaschistischen Adel der DDR
Dies Buch ist ein kleines Wunderding: Ein schöner, kluger, überaus eindringlicher Essay, in dem Barbara Honigmann lauter Gegensätze zusammenzwingt, die sonst fast unvereinbar sind. Sie berichtet über Ungeheuerlichkeiten von buchstäblich historischer Dimension – rückt sie den Lesern aber in ihrer alltäglichen, unsensationellen Erscheinungsform vor Augen. Weiterlesen

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Jedes Buch war für ihn Bekenntnis

Der Schriftsteller Franz Fühmann und das Leben in politischen Extremen – Aus Anlass seines 20. Todestages

Vielleicht ist Franz Fühmann, der am 8. Juli vor 20 Jahren in Berlin starb, der bedeutendste Schriftsteller der DDR gewesen. Er war in Westdeutschland nie bekannt, geschweige denn populär, und sein Werk scheint inzwischen auch in Ostdeutschland, wo er eine zentrale Rolle im literarischen Leben spielte, allmählich der Furie des Verschwindens anheim zu fallen. Doch kann man an Fühmanns Schicksal einige Probleme der Intellektuellen im 20. Jahrhundert geradezu exemplarisch ablesen. Und die Radikalität, mit der er sich diesen Problemen gestellt hat, mit der er sie immer wieder zum Gegenstand seiner Arbeit gemacht hat und mit der er sie gegen Ende seines Lebens mehr und mehr überwand, verleiht seinem Werk einen Rang, den in der Literaturgeschichte der DDR ansonsten wohl nur Heiner Müller und Christa Wolf, Volker Braun und Sarah Kirsch erreichen. Fühmanns Lebensthema war der Totalitarismus des Denkens. Er war ein Gläubiger, der sein Leben und Schreiben immer eng auf große, weltumfassende Entwürfe der Geistesgeschichte bezog, auf die, um es mit postmodernen Begriffen zu sagen, Metaerzählungen des Jahrhunderts. So konnte es nicht ausbleiben, dass seine Biografie gezeichnet war von den Ab- und Umbrüchen, von den Konfrontationen und Katastrophen eben dieses Jahrhunderts. Doch allen Wandlungen zum Trotz versuchte er sich selbst immer treu zu blieben. Halbheiten gestattete er sich nie, er war stets aufs Ganze aus. Und eben dies macht den Wert und die Wahrhaftigkeit seine Prosa aus – und zugleich aus heutiger Sicht deren problematischen Kern. 1922 als Sohn deutschsprachiger Eltern in einer böhmischen Kleinstadt geboren, wuchs er in einer Atmosphäre inbrünstiger Religiosität auf. Im Alter von zehn Jahren trat er in das Jesuiteninternat Kalksburg bei Wien ein. Doch das drakonische Regiment der Schule hatte beim Zögling Franz andere als die erwünschten Folgen. Er entschied sich mit einer Entschlossenheit, die für ihn symptomatisch bleiben sollte: Als überzeugter Atheist stieg er „eines Abends über die Parkmauer“ und floh in seine Heimatstadt. Unter dem Einfluss seines nationalsozialistischen Vaters wurde er daraufhin Mitglied einer Jugendorganisation der Sudetenfaschisten und besuchte das Gymnasium „in Stiefeln und Braunhemd“. Noch vor Kriegsbeginn trat er der SA bei und blieb bis zur Kapitulation ein treu ergebener Soldat Hitlers. Als sowjetischen Kriegsgefangener besuchte er eine der berüchtigten Antifa-Schulen, auf der man ihn zu einem begeisterten Anhänger Stalins umerzog. Von Schuldgefühlen wegen seiner Vergangenheit getrieben und von der Hoffnung gelenkt, zum Aufbau einer grandiosen Zukunft beitragen zu können, wurde er Bürger der DDR und zählte in den fünfziger und sechziger Jahren zu den Autoren, auf die sich die SED blind verlassen konnte. Aber die Kluft zwischen den Idealen und der Wirklichkeit des sozialistischen Staates blieb ihm nicht verborgen: Von dem Zwiespalt zerrissen, versank er in lebensbedrohliche Krisen, bevor er sich zu einem der klügsten und konsequentesten literarischen Kritiker der DDR entwickelte. Viele Generationsgefährten Fühmanns haben, angesichts der rapiden politischen Umschwünge, die ihre Leben durchzogen, die eigenen Erinnerungen an ihre Biografie im Nachhinein oft unbewusst begradigt. Die verführerische Kraft unseres Gedächtnisses zur gnädigen Legendenbildung half ihnen, Brüche in der eigenen Vergangenheit, der eigenen Persönlichkeit auszublenden. „Jeder Mensch“, schrieb Max Frisch, „erfindet sich eine Geschichte, die er dann, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält.“ Denn: „Anders bekommen wir unsere Erlebnismuster, unsere Ich-Erfahrung nicht in den Griff.“ Doch Fühmann wollte sich mit solchen besänftigenden Manipulationen an seinen Erinnerungen nicht abfinden. Sein Leben lang legte er in seiner literarischen Arbeit gegen enorme innere Widerstände Rechenschaft über seine persönliche und die deutsche Vergangenheit ab. So wurde sein Werk ein Monument jener Fähigkeit zu trauern, die von Psychoanalytikern gern eingefordert wird, die aber nur unter größten seelischen Strapazen zu leisten ist. Für Fühmann verwob sich Politisches und Poetisches immer zu einem undurchdringlichen Geflecht, jeder Text war für ihn zugleich Bekenntnis. So griff die Politik des Jahrhunderts massiv in seine Arbeit ein. Ein eklatantes Beispiel dafür ist das frühe Ende seiner lyrischen Produktivität. Von Jugend an schrieb er Gedichte, seine in der DDR veröffentlichten Lyrikbände standen im Bann der Volksmärchen: Sie teilten das Leben ein in Gut und Böse, Schwarz und Weiß – so wie Fühmann zu dieser Zeit noch die ideologischen Lager mit eindeutigen moralischen Zuordnungen versah. Als ihn 1956 Chruschtschows Geheimrede über die Verbrechen Stalins aus diesem Glauben aufstörte, musste er sein dualistisches Weltbild revidieren. Und als ihm Marcel Reich-Ranicki nachwies, wie tief seine Gedichte noch immer von platten Nazi-Mythen und schwülstigem Nazi-Pomp geprägt waren, obwohl er sich inzwischen als Sozialist verstand, verstummte er als Lyriker. Bis zu seinem Tod gelang ihm kein Gedicht mehr. Auch in seinen ersten Prosaarbeiten, die Mitte der fünfziger Jahre erschienen, war dieser simplifizierende Moralismus spürbar. Es waren dramatisch zugespitzte Novellen, in denen er seine Kriegserfahrungen verarbeitete und mit denen er zu einem gefeierten, viel gelesenen, prominenten Autor in der DDR aufstieg. Er war, wie der Literaturhistoriker Peter Demetz schrieb, „ein Manichäer ohne Gott und Teufel, fühlend und denkend in gespannten Polaritäten und lange unwillens, das Relative, Halbe, Graue und Wiederholbare des Alltags zu sehen oder gar darüber zu schreiben. Es war immer alles auf die Spitze und zu schicksalsträchtigen Konfrontationen fortgetrieben.“ Dennoch sind einige der frühen Erzählungen von großer sprachlicher Schönheit und zeugen von beträchtlichem psychologischem Verständnis: In „Das Judenauto“ (1962) erlebt ein siebenjähriger Junge verwirrt und beunruhigt seine ersten erotischen Gefühle. Allein gelassen mit diesen in seiner katholischen Umwelt streng beschwiegenen Empfindungen, flieht er in Tagträume, die ihn vor seinen Mitschülern blamieren. Die Schuld für beides, sowohl für die verunsichernden Gefühle wie für die Blamage, sucht er reflexhaft bei jenen Kräften, von denen er immer schon hörte, die hätten „alles Schlechte gemacht, was es auf der Welt gibt“: den Juden. Mit welchen suggestiven erzählerischen Mitteln hier 20 Jahre vor Klaus Theweleits „Männerphantasien“ demonstriert wird, wie aus der Verleugnung sexueller Bedürfnisse ein brutaler Rassismus entspringen kann, ist bis heute beeindruckend. Fühmanns Zweifel am realen Sozialismus wurden im Laufe der sechziger Jahre immer quälender. Doch als ehemaliger Nationalsozialist hielt er sich nicht für berechtigt, an jenen Kommunisten Kritik zu üben, die großen Anteil daran gehabt hatten, Hitlers Regime zu beenden. Diese Zerrissenheit reichte tief: Fühmann betäubte sich jahrelang mit Alkohol. Doch auch in dieser Phase seines Lebens wurde die Politik zum Wendepunkt. Als die Truppen des Warschauer Paktes im Sommer 1968 den Prager Frühling gewaltsam beendeten, konnte Fühmann seine Sucht überwinden – denn nun, da wieder einmal deutsche Panzer durch die Tschechoslowakei rollten, konnte er sich endlich eingestehen, dass er in den Mächtigen der DDR insgeheim Diktatoren sah und also mit seinen seelischen Konflikten ins Reine kommen. „Ich war“, schrieb er später, „im letzten Stadium des Deliriums und habe dann erst die Kraft zum Absprung gefunden, und zwar unter der Maßgabe, dass ich mir sagte: Jetzt ist die letzte Chance, die dir gegeben ist, wirklich ein bewusstes Leben anzufangen, was bedeutet: zunächst einmal bewusst dein Leben zu durchdenken.“ Die folgenden Bücher Fühmanns kommen einer psychotherapeutischen Selbstanalyse gleich. Durch sie machte er sich nicht nur sein eigenes, vom Totalitarismus verführtes Denken bewusst, sondern beschrieb die Mechanismen einer faschistischen Erziehung jenseits aller Theorien mit bezwingender poetischer Kraft: Mit seinen Erzählungen „Der Jongleur im Kino“ (1970), seinem Ungarntagebuch „22 Tage oder Die Hälfte des Lebens“ (1973) und schließlich seinem Opus Magnum, dem Essay „Der Sturz des Engels“(1982) ließ er endgültig das ideologische Bewusstsein, das die Literatur in beiden Teilen Deutschlands lange prägte, hinter sich und entwickelte eine formal hoch anspruchsvolle und doch immer anschauliche, sinnliche Prosa. Aus einem literarischen Manichäer, der nur eine Wahrheit kannte, wurde ein Schriftsteller, der eine Vielfalt der Perspektiven auf die Wahrheit in jeden Satz zu zwängen versuchte. Er, der zuvor in politischen Extremen gelebt hatte, wollte nun das Wort „auch“ in einem großen Essay feiern, weil es mit seiner Hilfe möglich werde, die unterschiedlichsten Lebensentwürfe und Weltanschauungen nebeneinander gelten zu lassen. Schon 1980, als die DDR noch zehn Jahre zu leben hatte, Fühmann aber nur noch vier, schrieb er an Konrad Wolf: „Unsre Gesellschaft ist pluralistisch, Gottseidank ist sie es, bloß offiziell will man das eben nicht wahrhaben. Die verschiedenen Moralen sind nicht auf 1 Nenner zu bringen, na Gottseidank, und so etwas wie die „moralischen Anschauungen unserer Werktätigen“ gibt es nicht, oder es sind immer die Repräsentanzen des Muffigen, Spießigen, Kleinkarierten.“ Ein deutlicheres Bekenntnis zur offenen Gesellschaft hat es in der Literatur der DDR nicht gegeben. Die Kulturfunktionäre des Landes setzten ihm nicht zuletzt deshalb nach Kräften zu. Im Testament hielt Fühmann fest, dass kein offizieller Vertreter der DDR an seinem Grab sprechen dürfe. Heute sind nur noch wenige Bücher Fühmanns lieferbar (eine achtbändige, autorisierte Gesamtausgabe liegt bei Hinstorff in Rostock vor). Umso schöner, dass Elke Heidenreich ihre Popularität einsetzt, um auf diesen Schriftsteller hinzuweisen: Sie liest auf einer neuen CD seine „Märchen auf Bestellung“ (Hinstorff, ca. 12,90 EUR) – kleine Prosawunderwerke, die Kindern eine Menge Vergnügen machen und Erwachsenen eine Menge Anlass zum Nachdenken verschaffen.

Dieser Artikel erschien in der „Welt“ vom 10. Juli 2004

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Das geheime Königreich

Elke Heidenreich und Christian Schuller verführen seit zehn Jahre Kinder zur Oper – und haben darüber jetzt ein Opern-Verführbuch gemacht  

Wer in der Kölner Oper während der Pause sein Sektglas spazierentragen möchte, hat nicht unbegrenzt Auslauf. Denn mitten im Foyer scheint ein Musikdampfer angelegt zu haben: Ein Holzbau wie ein Mississippi-Steamer, knallbunt, mit Treppe am Heck und hohen schlanken Säulen. Im Innern dann eine blaue Tribüne mit roten Holzbänken fürs Publikum, dazu eine kleine Bühne und hinter oder über der Bühne Platz für Musiker. Fertig ist die Kölner Kinderoper, in der Regisseur Christian Schuller und seine Text-Facharbeiterin Elke Heidenreich in den letzten zehn Jahren zwanzig Opern vor Menschen meist sehr geringen Lebensalters aufgeführt haben. Ausverkauft ist fast immer, die Begeisterung groß, doch nachgeahmt wird das Erfolgsrezept andernorts bislang nicht. Jetzt haben Christian Schuller und Elke Heidenreich über das erste Jahrzehnt ihrer Kinderoper einen prachtvollen Bildband gemacht („Das geheime Königreich. Oper für Kinder“), eine Werbeschrift für das Glück, junge Leute in die Welt der Oper zu locken.</em> Uwe Wittstock: Warum ist das übliche Opernpublikum so alt? Christian Schuller: Das hat zwei Gründe. Zum einen trägt die neue, junge Opernmusik in Deutschland meist elitäre Züge. Sie wendet sich, dazu hat leider Adorno beigetragen, oft nur an ein eingeweihtes Publikum. Zum anderen sind viele bürgerliche Traditionen, zu denen auch der Opernbesuch der Eltern mit ihren Kindern gehörte, nach dem Krieg oder spätestens in den sechziger Jahren abgebrochen. In den Städten, in denen es eine lange höfische Operngeschichte gibt, wie München und Wien, oder in Hamburg mit seinem selbstbewussten Bürgertum, findet man auch heute junge Leute in den Aufführungen. In den Städten ohne solche Tradition leider seltener. Oper wurde oft als verstaubt, als teuer und schwer verständlich hingestellt, das hat Hemmschwellen für viele, nicht nur junge Leute aufgebaut. Wir sehen das hier bei uns in der Kinderoper: Viele Eltern kommen mit ihren Kinder zum ersten Mal in die Oper – und denen gehen dann die Augen und Ohren auf, wie schön Oper ist. Wittstock: Oper zielt auf viele Sinne zugleich: mit Musik, Gesang, Bühnenhandlung, Text. Nicht aus Zufall war es ein Opernkomponist, der den Begriff Gesamtkunstwerk prägte. Eigentlich müssten gerade junge Menschen der sinnlich überwältigenden Oper regelrecht die Türen einrennen. Elke Heidenreich: Denke ich auch. Aber ist leider nicht so. Ich war jetzt zum ersten Mal in Bayreuth. Da sind nur alte Leute. Dabei war Wagner zu seiner Zeit so was wie ein Hollywood-Magier. Es ist gewaltig, was er da auf die Bühne bringt, ganz großes Kino. Die Oper gilt als schwierig und steif. Schon die Frage: Was zieht man zur Oper an, schreckt Leute ab. Ich habe mal eine Freundin mitgenommen, die noch nie in der Oper war. Als ich sie abholte, war sie so was von aufgedonnert, hatte drei Stunden beim Friseur verbracht. Dabei ist das nicht mehr wie früher: Man braucht kein Abendkleid mit passendem Täschchen. Schlichte Sachen reichen. Wittstock: Dient nicht vieles, von dem, was Sie gerade genannt haben, gezielt der sozialen Abgrenzung? Die hohen Eintrittspreise, die feierliche Garderobe, das eigentümlich gravitätische Gehabe während der Pause? Heidenreich: Muss alles nicht mehr sein. Man braucht weder feierliche Kleidung noch gravitätisches Verhalten. Auch das mit den hohen Preisen stimmt nicht mehr. Es gibt immer billige Karten, ich war für zwölf Euro in der Mailänder Scala. Die Oper hat schlechte PR, sie ist viel besser, ungezwungener und zugänglicher als ihr Ruf. Schuller: Selbst an elitären Veranstaltungsorten wie den Salzburger Festspielen oder der Ruhrtrienale können Sie heute Karten zwischen zehn und dreißig Euro bekommen. Das kann kein Hindernis mehr sein. Viel eher scheint es mir hier um eine soziale Scheu zu gehen: Manche Menschen meiden die Oper, weil sie glauben, dass dort vor allem Leute hingehen, unter denen sie sich nicht wohl fühlen. Dabei ist das Publikum in der Oper inzwischen sehr gemischt. Wittstock: Oft wird Oper wie ein kunstreligiöses Hochamt zelebriert. Da muss sich niemand wundern, wenn Kinder ungern hingehen. Heidenreich: Mit den Kindern in unserer Kinderoper machen wir andere Erfahrungen. Wenn wir die wirklich packen mit der Geschichte und der Musik, sperren sie weit die Augen auf. Und wenn dann der wunderliche alte Lehrer vor den Vorhang tritt und sagt, jetzt wollen wir mal in den verzauberten Garten gehen, und sehen was dort geschieht, dann stehen die Kinder wie Schlafwandler auf und folgen ihm in den Garten auf der Bühne. Sie lassen sich begeistern und wollen dann immer wiederkommen. Wittstock: Im 19. Jahrhundert ist es viel unfeierlicher in der Oper zugegangen, lebendiger, volksfestartiger. Wäre so etwas auch heute denkbar? Heidenreich: Damals wurde in der Oper geflirtet und gevögelt! Schuller: In Paris ärgerten sich die Komponisten immer, weil sie in ihre Opern für den zweiten Akt ein Ballett einbauen mussten. Die Balletttänzerinnen konnten Ausbildung und Leben damals oft nur über spendable Herren finanzieren, die als Dank ein wenig Zuwendung ihrer Tänzerin erwarteten. Deshalb waren die Mädchen dann im ersten Akt bei ihrem Gönner in der Loge. Heidenreich: Und im zweiten Akt konnten die Herren ihr Mäuschen auf der Bühne tanzen sehen. Aber auch heute noch geht es in anderen Ländern in der Oper viel freier zu als bei uns. Ich war in Italien oft in der Oper, auch in der Provinz. Da fliegen die Sitzkissen auf die Bühne, wenn die Leute sich ärgern. Oper ist dort immer noch Volksfest. In Deutschland hat Oper oft etwas von Weihefestspiel. Muss man sich aber nicht von einschüchtern lassen. Oper ist schön, macht Freude und dafür ist sie da. Wittstock: Warum wollen sie gerade die Kinder in die Oper holen? Heidenreich: Die Kunstform Oper braucht ja eine Zukunft. Wenn wir jetzt nicht anfangen die Kinder, die von Fernsehen bis Internet so viel Ablenkung haben, in die Oper zu holen, wird es da irgendwann sehr leer sein. Ich bin in den fünfziger Jahren aufgewachsen und hatte nichts als ein Radio und einen miesen Plattenspieler. Da bin ich natürlich ins Theater, in die Oper und ins Kino gegangen, das war für mich das große Glück. Die Kinder heute kommen vor lauter Schule und Computerspielen gar nicht mehr mit Oper in Berührung. Wenn man sie aber erst mal hingeführt hat und sie wissen, das macht mir Spaß, dann bleiben sie dran. Darum geht es uns, wir wollen zur Oper verführen. Wittstock: Welche Kompromisse muss man in Kauf nehmen, wenn man Oper für Kinder macht? Heidenreich: Eigentlich nur einen. Die Geschichte der Oper muss dem kindlichen Erfahrungshorizont angemessen sein. Eine Handlung um Liebe und Tod versteht jedes Kind, die „Götterdämmerung“ nicht. Bei der Musik aber muss man auf keinen Fall Kompromisse machen. Niemals niedliches Gedudel für Kinder! Sondern die Musik genau so, wie sie komponiert wurde. Schuller: Ein Schulbus unterscheidet sich von einem Bus für Erwachsene ja auch nicht, weil er nur drei Räder und ein Lenkrad aus Marzipan hat. Er ist genau so ausgestattet wie ein normaler Bus, aber er hält an Stationen, die für Kinder gemacht sind. Wittstock: Aber eine Kinderoper sollte nicht länger dauern als eine Stunde, oder? Schuller: Das war früher unser Limit, richtig. Aber wenn unsere Aufführungen mal siebzig Minuten oder mehr haben, werden die Kinder trotzdem nicht unruhig. Meist sind es ja Schulkinder und die haben schon Übung im Stillsitzen. Die meisten Stücke, die wir ausgewählt haben, sind Einakter, die sind keinen Takt länger als sechzig Minuten. „Das geheime Königreich“ von Ernst Krenek zum Beispiel. Ich wollte auf keinen Fall, wie in anderen Häusern, die „Zauberflöte“ für Kinder in gekürzter Fassung machen. Ich habe ausschließlich Stücke aus den Archiven geholt und den Straub runtergeschüttelt, von deren musikalischer Substanz ich unbedingt überzeugt war. Wittstock: Frau Heidenreich, Sie haben für die Kinderoper die Libretti einiger Opern modernisiert. Würden sie das auch mit Opern für Erwachsene machen? Heidenreich: Na klar. Wagners Sprache ist dringend überholungsbedürftig. Der Meister hat das Gesamtkunstwerk mit seiner Sprache geschaffen, aber „Nun zäume dein Ross, reisige Maid! Bald entbrennt brünstiger Streit…“, ist nicht das, was ich heute noch hören will. Schuller: An der Wiener Hofoper wurde 1863 nach 77 Proben Wagners „Tristan“ für unspiel- und unsingbar erklärt. Heute haben wir viel mehr Erfahrung mit dem Stück und können es mit nur sechs Orchesterproben auf die Bühne bringen. Unser technisches Know-how im Umgang mit Musik und Gesang hat sich geändert, warum sollen wir nicht unser geändertes sprachliches Know-how nutzen und andere Worte finden. Es wäre sehr im Sinne des Meisters, wenn wir seine Sprache modernisierten. Aber damals, zu seiner Zeit, war seine Musik für die Sänger nur mit dieser Sprache singbar, weil die Musik so neu, so fremd war. Heidenreich: Christian hat hier an der Kölner Oper, nicht an der Kinderoper, Mozarts „La finta Giardiniera“ inszeniert und ich habe auf seine Bitte hin das Libretto behutsam ein bisschen entstaubt. Die Arien wurden im Original gesungen, aber es gibt da auch viele Dialoge, die habe ich in heutiges Deutsch gebracht. Das war sehr umstritten, es gab viel Buh aber auch viel Bravo. Wittstock: Sie bringen fast nur Opern des 20. Jahrhunderts in die Kinderoper, nicht Mozart, Rossini, Verdi. Warum? Schuller: Ich wollte unbedingt aus dem schmalen gewohnten Opernrepertoire ausbrechen und den vielen wunderbaren neuen Opern eine Stimme geben. Viele Komponisten sind von den Nazis um ihre Chancen gebracht worden, die wollte ich aus den Archiven befreien. Und das ist bestens gelungen, die Kinder haben das mit Begeisterung aufgenommen. Wir haben mal „Das Kind und der Zauberspuk“ von Maurice Ravel gemacht. Erst kamen die Kinder mit ihrer Schulklasse. Aber vielen hatte es so gut gefallen, dass sie noch einmal mit ihren Eltern kamen. Und drei der Schülerinnen hatten sich so mit der Prinzessin des Stückes identifiziert, dass sie als Prinzessinnen verkleidet zur Aufführung kamen. Heidenreich: Das war so schön, so ein Erfolgsgefühl für uns. Das gibts sonst nur bei Harry Potter. Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 29. September 2007 Elke Heidenreich, Christian Schuller: „Das geheime Königreich“. Oper für Kinder Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007 208 Seiten, 24,90 € ISBN 978-3-462-03959-7

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Elke Heidenreich – vertraut wie eine Nachbarin

„Lesen!“ Auf den ersten Blick könnte man den Titel von Elke Heidenreichs Literatursendung als Imperativ missverstehen. Und wer lässt sich schon gern Befehle erteilen? Dass der Titel heute stattdessen in jedermanns Ohren ganz selbstverständlich nach schwärmerischem Elan klingt, liegt allein an der Person Elke Heidenreichs. Zwar spricht sie, zugegeben, im Stakkato eines Maschinengewehrs, aber alles Bedrohliche, alles schulmeisternde Säbelgerassel ist ihr fremd. Sie ist eine Begeisterte und sie teilt Begeisterung mit. Ja, Bildung und Vergnügen. Ihr kauft man beides ab. Und deshalb ist sie wohl, neben Marcel Reich-Ranicki, die Einzige, die zurzeit Lesen zum kollektiven Ereignis für das ganze Land machen kann. Wenn sie am kommenden Dienstag im ZDF ihre Zuschauer auffordert, in diesem Sommer über ihre Lieblingslektüre abzustimmen, so ist das mehr als die neue Casting-Show: Deutschland sucht das Superbuch. Vielmehr ist es nach dem Vorbild der BBC-Sendung „The Big Read“ eine Ermutigung an jeden Einzelnen, sich zu seiner Lese-Subjektivität zu bekennen – und zugleich eine Chance, etwas über die tatsächliche Bewusstseinslage der Lesenation zu erfahren. „The Big Read“ – für die Sendung in Großbritannien stimmten zwei Millionen Menschen ab, und für fast alle Titel, die es auf die Ehrentafel der 100 beliebtesten Bücher schafften, stiegen danach die Auflagezahlen merklich an. Platz eins eroberte hier Tolkiens „Herr der Ringe“, aber schon der zweite Platz ging an Jane Austens „Stolz und Vorurteil“, also an einen veritablen Klassiker. Überhaupt waren unter den Top 20 mit Tolstoi, Charles Dickens, Salinger, Joseph Heller, Orwell, Charlotte und Emily Brontë eine Menge Autoren vertreten, die über jeden Kitschverdacht erhaben sind. Keine Liste, derer man sich schämen musste. Das Ergebnis der deutschen Abstimmung, das am 6. August von Elke Heidenreich und Moderator Johannes B. Kerner als „Unsere Besten – Das große Lesen“ in einer Freitagabend-Show präsentiert wird, dürfte erhellender werden als die meisten literatursoziologischen Theorien der letzten Jahrzehnte. Es ist Elke Helene Heidenreich nicht an der Wiege gesungen worden, dass sie dereinst zur einflussreichsten Literaturvermittlerin Deutschlands aufsteigen würde. 1943 als Tochter eines Automechanikers und Tankstellenbesitzers geboren, repräsentiert sie heute die besten Seiten jener Achtundsechziger, die sich selbst einmal Spontis nannten. Ihre lustbetonte Neugier, ihre Unerschrockenheit vor Autoritäten, ihre unbedingte Authentizität und vor allem ihr Witz, ihre Schlagfertigkeit verleihen ihr heute auf dem Bildschirm eine Glaubwürdigkeit, die kein anderer ihrer Generation und schon gar kein jüngerer Literaturkritiker erreicht. Sie hat sich das hart erarbeitet. Sie hat Drehbücher, Erzählungen, Romane und für „Brigitte“ jahrelang Kolumnen geschrieben, hat fürs Radio Kabarett als Else Stratmann gemacht, hat Kindersendungen, Literaturmagazine und Talkshows moderiert. Heute ist sie ihren Zuschauern so bekannt, so vertraut wie eine Nachbarin. Mit Elke Heidenreich hat der priesterliche Gestus, mit dem Literatur hier zu Lande so gern zelebriert wurde, unübersehbar sein Ende gefunden. Reich-Ranicki ist, bei all seinem zirzensischen Talent, noch immer eine kritische Autorität. Wenn Elke Heidenreich von Kleist, Brecht, Grass plaudert, ist es wie der Lesetipp einer guten Freundin – die einen geduldig daran erinnern will, dass das Lesen zu den größten Vergnügungen der Menschheit gehört.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 2. Juli 2004

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„Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft“

Der große Pop-Schwindel oder: Benjamin von Stuckrad-Barre schreibt weiter
Manchmal macht das literaturkritische Geschäft hier zu Lande einen reichlich kleinkarierten Eindruck. Benjamin von Stuckrad-Barre kann davon ein Lied singen. Als er – gerade unbekümmerte 23 Jahre alt – mit seinem Roman „Soloalbum“ vornehmlich jüngere Leser zum Johlen und zum Kreischen brachte, schickten ihn einige Platzanweiser unseres Literaturbetriebs umgehend an den Katzentisch: Er sei, teilten sie ihm mit, gar kein Autor, sondern ein Popautor und sein Buch keine Literatur, sondern Popliteratur. Die hochkulturelle Ab- und Ausgrenzungsmaschinerie ratterte was das Zeug hielt. Natürlich war solcher Zurückweisungseifer für Stuckrad-Barre lästig – aber auch lustig. Denn was könnte werbewirksamer sein, als ausgerechnet von dem oft als betulich und bräsig geltenden Literaturbetrieb wegen erwiesener Frischheit, Forschheit, Frechheit mit der Warnaufschrift „Pop“ versehen zu werden? Trotzdem hat er immer wieder mal versucht, die mit diesem Etikett verbundenen Missverständnisse aus der Welt zu schaffen. Wenn Pop das Bewusstsein seiner Figuren präge, dann sei das „ein Abbild der Realität von Kultur hier zu Lande“. Da Pop große Bereiche unseres Alltags beherrsche, müsse sich das auch „niederschlagen in zeitgenössischer Literatur. Ich verstehe die Aufregung nicht.“ Geholfen hat das natürlich nicht. Auch im Literaturbetrieb sind die Markenzeichen längst mächtiger geworden als die bezeichneten Marken. Im endlosen Geplapper über Pop oder Nicht-Pop geriet immer mehr aus dem Blick, wie wenig Stuckrad-Barre mit seinen Büchern letztlich aus dem Rahmen unserer Gegenwartsliteratur fällt. Er ist eben kein Epigone des britischen Erzählers Nick Hornby, wie so viele Kritiker behaupteten, als „Soloalbum“ erschien. Hornby nämlich schreibt Gesellschaftsromane in bester angelsächsischer Tradition, seine Bücher bemühen sich darum, soziale Gegenwart am Beispiel einer Vielzahl von handelnden Personen zu schildern. Stuckrad-Barre dagegen kennt in seinen Romanen – wie die meisten Schriftsteller hier zu Lande – nur eine einzige Hauptfigur. Sie mag heißen oder aussehen wie sie will, hinter ihr verbirgt sich immer der Autor selbst. Egal wie viele Popgruppen Stuckrad-Barre auflistet, egal wie viele Markennamen er über die Seiten verstreut, letztlich geht es in seinen Büchern doch um die eigene Person. Wie schon so viele Pastorensöhne unter den deutschen Dichtern vor ihm betreibt er schreibend vor allem Introspektion und Gewissenserforschung. Wer nach Vorbildern für sein „Soloalbum“ Ausschau hält (oder für seine Geschichte „Vom Netz“), wird wohl eher bei Botho Strauß’ Liebeskummer-Erzählung „Die Widmung“ fündig als bei Hornbys „High Fidelity“. Und wer wissen möchte, welcher Autor ihm Anregungen lieferte für sein wortreiches Dauergranteln, für sein ewiges Rohrspatzschimpfen über die unausrottbare Dummheit der Welt, dürfte nicht ganz falsch liegen, wenn er in Thomas Bernhards Romanen blättert. Was Stuckrad-Barre jedoch, neben seinen Entertainer-Qualitäten bei Live-Auftritten, von Anfang an heraushob aus der Konkurrenz der deutschen Nachwuchsautoren, war sein Witz und seine Sprachkraft. Während Romane über Liebesunglück üblicherweise von tiefschwärzester Melancholie durchweht werden, machte er aus dem Helden seines „Soloalbums“ eine derart hemmungslos in den eigenen Weltschmerz vernarrte Figur, dass sie gleich wieder herzerfrischen komisch wirkte. Dazu schüttelte er den deutschen Wortschatz kräftig durch, machte aus abgefingerten Substantiven taufrische Adjektive, verwandelte schale Adjektive in schrille Verben und zwang flüchtigste, coolste Umgangssprache in präzise abgezirkelten Zeilen, dass es nur so eine Freude war. Doch leider ist von diesen Qualitäten im jetzt erschienenen Buch mit dem so poetischen Titel „Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft. Remix 2“ nicht viel geblieben. In den letzten Wochen hat Stuckrad-Barre jedem, der nicht schnell genug weiterzappte, über alle Medienkanäle wissen lassen, dass er in den vergangenen Jahren diversen Süchten verfallen war. Unglücklicherweise hat ihn das offenbar nicht nur persönlich, sondern auch professionell beeinträchtigt. Sein neuer Band ist ein konturloses Gewürfel aus Reportagen, Interviews, Tagebuch-Häppchen, Rezensionen und endlos langen Listen (siehe WELT vom 24.5.). In ein paar wenigen Abschnitten blitzt etwas auf von seinem Talent: Wenn Stuckrad-Barre etwa in einem Begleittext zu einer Brahms-CD von seiner Musikschulzeit erzählt, dann gewinnt diese Erinnerung an die für ihn ja nicht so weit zurückliegende Jugend eine anrührende Intensität. Die meisten anderen Stücke jedoch sind Verlegenheitsarbeiten ohne literarischen Wert. Früher ging Stuckrad-Barre seine Themen und auch seine Gegner gern direkt an mit schnörkelloser polemischer Wucht. Er trat auf als die Abteilung Attacke, als der Uli Hoeneß der deutschen Gegenwartsliteratur. Das machte nicht immer einen sonderlich überlegten Eindruck, hatte aber immer den Vorzug entschiedener Klarheit und fröhlicher Unverzagtheit. Der neue Band nimmt sich im Vergleich dazu linkisch und verdruckst aus. Wenn Stuckrad-Barre zum Beispiel einen Waffeninspektor porträtiert, der im Irak gearbeitet hat, begibt er sich auf für ihn unübersehbar fremdes, politisches Terrain. Prompt wirken seine gewohnt hektischen Reporterspielchen deplaziert und sein Wunsch „Entschuldigung, könnten wir dann jetzt mal eine Bombe sehen?“ nicht komisch, sondern dümmlich. Über die neuen CDs von Westbam und Grönemeyer sondert er unverfälschten Kritikerkitsch ab. Und wenn er dazu noch Tagebuch-Aufzeichnungen veröffentlicht, in denen er hingebungsvoll den zarten Verästelungen der eigenen Künstlerseele nachspürt, glaubt man endgültig supersausensible Debütantenprosa aus Klagenfurt zu lesen. Klar, Stuckrad-Barre geht es zurzeit nicht besonders gut. Aber den Lesern aus Mitleid sein Buch empfehlen? Das wäre wohl auch keine Lösung. Er selbst hat nie viel Mitleid gezeigt mit den popeligen Prominenten, über die er gewöhnlich schreibt. „Bisschen interessanter werden“ hat er dem einen oder anderen als Rat mit auf den Weg gegeben, „und ab und zu mal kein Interview geben, das könnte auch nicht schaden“. Guter Tipp.

Benjamin von Stuckrad-Barre: „Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft. Remix 2“
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004 485 Seiten, 12,90 €

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Verschrobenheit ist eine Tugend

Wilhelm Genazino, der sich selbst einen Tagträumer nennt, bekommt den Büchnerpreis 2004

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino ist ein literarischer Einzelgänger. Ihm den Büchnerpreis zuzusprechen, also die nach wie vor renommierteste literarische Auszeichnung des Landes, ist eine geradezu demonstrative Entscheidung. In Zeiten fast allwöchentlicher Literaturskandale hebt die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt damit einen zurückhaltenden, alles andere als skandalträchtigen Autor hervor, dessen Bücher immer von literarischer Begabung zeugten – aber auch von einer oft ermüdenden Monotonie waren. Man hat Genazino gern einen literarischen Flaneur genannt, einen poetischen Stadtwanderer, der seine Figuren gern ruhe- und auch ein wenig ziellos durch die Straßen unserer Gegenwart streifen lässt. Es ist nicht das wohl organisierte Leben einer modernen Gesellschaft, das seine Helden auf ihren einsamen Ausflügen interessiert. Ihr Blick fällt vielmehr regelmäßig auf die unbedeutenden Randerscheinungen, die beiseite geschobenen Reste, auf funktionslose Details oder verunglückte kleine Gesten unbekannter Passanten. Derlei Tagträumereien hat Genazino als einen unverzichtbaren Bestandteil der schriftstellerischen Arbeit schlechthin bezeichnet. Und sicher hat er recht damit, dass sie ein unverzichtbarer Bestandteil seiner schriftstellerischen Arbeit sind. Anders jedoch als Walter Benjamin etwa, der als Großstadtflaneur in der metropolitanen Flut flüchtiger Impressionen schwelgte, litten Genazinos Helden lange unter dem für sie mausgrauen Wust trister Normalität. Da Genazino zudem in seinen frühen Romanen streng darauf achtete, auch nicht die geringste Spannung aufkommen zu lassen, war die Lektüre seine Bücher kein Vergnügen für jedermann. Erstmals machte er zwischen 1977 bis 1979 mit der „Abschaffel“-Trilogie auf sich aufmerksam. Drei Romane, die das zurückgezogene, freudlose Leben eines subalternen Büroangestellten auf nahezu 600 Seiten vor dem Leser ausbreiteten. Verschrobenheit ist, das machen diese Bücher dem Leser sofort klar, für Genazino eine unbestreitbare Tugend. Das abgesonderte und absonderliche Dasein der Hauptfigur Abschaffel wurde von den Kritikern gern als – so hieß das im Jargon der Zeit – Folge entfremdeter Lebens- und Arbeitsverhältnisse interpretiert. Doch Genazino zielte mit seiner Prosa nicht auf eine sozialkritische Literatur der Arbeitswelt. Ihm ging es, so zeigten seine folgenden Romane, vielmehr darum, in der Tradition der literarischen Moderne schreibend Wirklichkeitsbereiche auszukundschaften, die von unserem Alltagsbewusstsein üblicherweise ausgeblendet werden. Doch ganz allmählich begannen Genazinos Figuren neben den schäbigen und faden Aspekten des Lebens auch dessen heitere und lockende Seiten zu entdecken. Natürlich war Genazino immer ein viel zu intelligenter Autor, um sich der Illusion hinzugeben, die Welt seit tatsächlich so miesepetrig wie seine Helden sie sehen. Vielmehr ließ er den Leser mal mehr, mal weniger deutlich spüren, dass diese Figuren sich, weil sie sich als Außenseiter empfinden, in eine unglückliche Mixtur aus Über- und Unterlegenheitsgefühlen ihren Mitmenschen gegenüber hineinsteigern: in eine fatale Mischung aus Welt- und Selbstverachtung. Mit seinen ungleich frischeren und beschwingteren Büchern „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001) und „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ (2003) hat Genazino dann ein entschieden neues Kapitel seiner Arbeit aufgeschlagen. Zwar leiden auch die Helden dieser Bücher an einem recht neurotischen Verhältnis zu ihrer Umwelt, aber sie betrachten sich mit spürbar zunehmender Selbstironie als die Neurotiker, die sie sind – was die Lektüre ihrer Leidensgeschichten weitaus vielschichtiger und nebenbei auch vergnüglicher macht. Zudem wird das Schreiben für sie zu einem klugen Mittel der Selbstheilung und -rettung. Vor allem aber ist Wilhelm Genazino in diesen beiden späten Romanen zu einer zuvor nie erreichten Perfektion des Erzählens vorgestoßen. Er hat ein bewundernswertes Gespür für stimmungsstarke, suggestive Details entwickelt, die den Leser mit wenig Aufwand in eine andere Welt entführen können. Und sein jüngster Roman „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ ist dann mehr geworden, als nur die Selbsterforschung eines Sensibilisten: Es ist zugleich ein begeisternd intensives Porträt der späten Adenauer-Ära – ein Stück literarische Geschichtsvergegenwärtigung wie es hier zu Lande leider viel zu selten geschrieben wird.

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Gesammelte Klosprüche

Benjamin von Stuckrad-Barre kommt im Literaturbetrieb an  
Das war schon ein Riesenspaß, als Benjamin von Stuckrad-Barre vor sechs Jahren mit seinem „Soloalbum“ an den Start ging. Vielleicht fehlte dem damals 23-Jährigen noch das eine oder andere, um ein beeindruckender Schriftsteller zu sein. Aber Sprachkraft, Temperament und Mut zur Provokation hatte er mehr als genug. Seine Lesungen waren kleine Rebellionen gegen den oft so vermufften deutschen Literaturbetrieb. Nicht als bedeutungsvoll Pfeife schmauchender, Rotwein schlürfender, unter der Baskenmütze weg die Welt erklärender Dichtergutmensch trat er auf, sondern programmatisch als „reisender Mitarbeiter der Unterhaltungsindustrie“, der zu aller erst die Freude seiner Zuhörer an der Show mitsamt CD-Musikeinlage und Publikumsbeteiligung im Auge hatte. Mancher Literaturbetriebsratsvorsitzender tat ihm dann auch den Gefallen und schimpfte ihn öffentlich „Schnösel“ oder „Popliterat“. Womit ein werbewirksamer Generationsgraben aufgerissen und Stuckrad-Barre die so überaus dankbare Rolle des jugendlichen Outcasts zugeteilte wurde. Was er natürlich genoss und nach Kräften unterstützte, indem er sich zu einer Art James Dean des wahren Pop stilisierte, der herzzerreißend litt an den Erwachsenen und ihren verblödeten Medien. Seither ist es zwar nicht ruhiger um Stuckrad-Barre geworden – aber literarisch scheint er nicht mehr vom Fleck zu kommen. Selbst eher dürftige Fingerübungen und Reportagen hat er zwischen Buchdeckel gepackt, hat die Öffentlichkeit millimetergenau über sein Verhältnis zu Anke Engelke unterrichtet und wurde von Udo Lindenberg aus dem Schnee gerettet oder auch nicht. Entwickelt sich Stuckrad-Barre zu einem One-hit-wonder? Ein lesenswertes Buch, und danach nur noch dieses peinliche Fuchteln für die Kameras, damit ihn das Publikum nicht vergisst? Sein jüngstes Projekt „Ich war hier“ zeugt zumindest von staunenswerter künstlerischer Rat- und Belanglosigkeit. Das Malheur ist jetzt gleich multimedial zu besichtigen, nämlich sowohl im Fernsehen (NDR, 7. Juni; 3Sat, 13. Juni) als auch als 170-seitiger Teil seines heute erscheinenden Buches „Remix 2“ (Kiepenheuer & Witsch, 12,90 EUR). Überall, so fiel Stuckrad-Barre auf, hinterlassen Menschen schriftliche Zeugnisse ihrer Anwesenheit: Sie kratzen auf Schulbänke, sprayen auf Hauswände, kritzeln in Gästebücher, beschmieren Klotüren. Stuckrad-Barre betrachtet dies – wie viele vor ihm – als eine „menschliche Variante des Revierbepinkelns“, sammelt an Schriftspuren ein, was er kriegen kann, lässt sich dabei filmen und bläht mit den notierten Listen sein Buch auf. Aber obwohl er unter diese kümmerlichen Aufzeichnungen noch allerlei Interviews mit Schriftsachverständigen mischt, bleibt der Erkenntnisgewinn minimal. Zumal Stuckrad-Barre auf eine Analyse des zusammengeklaubten Materials weitgehend verzichtet. Warum gibt sich ein talentierter Autor mit so etwas ab? Stuckrad-Barre scheint sich hier eher an seine Kommentatoren als an Leser zu wenden. Moritz Baßler, der Cheftheoretiker des deutschen Pop-Romans, zählte ihn unlängst zu den „Neuen Archivisten“, die aus ihrer Wirklichkeit am liebsten in Form von Katalogeinträgen, Aufzählungen oder langen Listen berichten. Prompt und brav liefert Stuckrad-Barre nun also haufenweise Listen ab. Seine Interpreten wird es so glücklich machen, wie alle anderen gleichgültig lassen. Denn derart lendenlahme Wichtigtuereien in Buchform gibt es dutzendweise von subventionsgepäppelten Nachwuchsautoren. Nach nur sechs Jahren ist Stuckrad-Barre also mitten im einst so verachteten Literaturbetrieb angekommen: der Rebell als Riegenturner

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Wo man Dichter wie Könige bestattet

Ein Gespräch Marcel Reich-Ranicki über das schwierige Verhältnis zwischen deutscher und polnischer Literatur 
Polen ist das größte und bevölkerungsreichste Land, das 2004 der EU beigetreten ist. Marcel Reich-Ranicki wurde 1920 im polnischen Włocławek geboren, verbrachte seine Jugend in Berlin und lebte nach der Deportation durch die Nazis 20 Jahre in Warschau. Neben anderen Auszeichnungen erhielt er den Samuel-Bogumił-Linde-Preis, der für Verdienste um die deutsch-polnischen Literaturbeziehungen verliehen wird.

Uwe Wittstock: Polen und Deutschland sind Nachbarländer, deren Vergangenheit, milde gesagt, sehr konfliktträchtig war. Seit 2004 sind sie gemeinsam unterm Dach der EU zu Hause. Wird dieser Beitritt das Verhältnis Polens zur Deutschland verändern?
Marcel Reich-Ranicki: Ich verstehe von Politik wenig. Ich bin einmal in meinem Leben einer Partei beigetreten, gleich nach dem Krieg, und das war doch ein Fehler. Seither nehme ich zu politischen Fragen öffentlich nicht Stellung. Wenn Sie wissen wollen, was sich durch diesen Beitritt im kulturellen Verhältnis der beiden Länder ändern wird, so antworte ich: Als Kritiker bin ich für die Literatur der Vergangenheit und der Gegenwart zuständig. Nicht für die der Zukunft. Dass ich mich hier auf Prophezeiungen einlasse, ist ausgeschlossen.
Wittstock: Bleiben wir bei der kulturellen Vergangenheit: In Ihrem Buch „Erst leben, dann spielen. Über polnische Literatur“ (Wallstein Verlag) schreiben sie, die Polen hätten lange unter der Teilung ihres Landes gelitten und in den Schriftstellern die Repräsentanten ihrer Nation gesehen. Gibt es da nicht Ähnlichkeiten zur deutschen Situation? Im 18. und 19. Jahrhundert litten die Deutschen unter der Kleinstaaterei, bis vor 15 Jahren unter der Teilung zwischen Bundesrepublik und DDR. In beiden Phasen gab es repräsentative Schriftsteller, von denen sich viele den Zusammenhalt der Kulturnation erhofften.
Marcel Reich-Ranicki: Das ist schon eine Parallele – doch sie gilt nur bedingt. Die Polen haben in politischer Hinsicht von den polnischen Schriftstellern viel mehr erwartet als die Deutschen je von den ihrigen erwarteten. Polen war fast 150 Jahre lang nicht nur geteilt, sondern unter den Nachbarländern (darunter Preußen) aufgeteilt. Es war politisch nicht existent. In dieser Situation wurden die Schriftsteller für die Polen zu den wichtigsten Repräsentanten der Nation. Es gab keine Minister, keine Präsidenten, keine Könige. Die Einzigen, die das Leiden und die Hoffnung der Nation ausdrücken konnten, waren die Schriftsteller. Also haben sie ihre größten Schriftsteller Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki schließlich bestattet wie die Könige: In der königlichen Gruft im Schloss Wawel in Krakau. Diesen beiden großen Romantikern ist (zusammen mit einem dritten) im Polnischen eine besondere Berufsbezeichnung vorbehalten. Sie werden „Wieszcz“ genannt, was so viel bedeuten wie „Die Seher“.
Wittstock: Wo sehen Sie den Unterschied zur deutschen Situation?
Reich-Ranicki: In Deutschland gab es im 18. und 19. Jahrhundert keinen Mangel an deutschen Fürsten, sondern eine Überfülle. Bis vor 15 Jahren gab es zwei deutsche Länder mit zwei Regierungen. In dieser Situation gerieten manche Schriftsteller in die Rolle von Identifikationsfiguren, die den Zusammenhalt der Kulturnation garantieren sollten. Aber das ist nicht mit der Rolle zu vergleichen, die Schriftsteller für die Polen spielten.
Wittstock: Gibt es nennenswerten Einfluss der polnischen Literatur auf die deutsche? Oder der deutschen auf die polnische?
Reich-Ranicki: Nein, was die polnischen Schriftsteller geschrieben haben, war den deutschen meist herzlich egal. Und andersrum ist es etwas ähnlich: Die Schriftsteller Polens haben sich immer stark mit dem beschäftigt, was gerade in Frankreich geschrieben wurde und was die Literaten dort diskutierten. Viele polnische Autoren lebten in Paris im Exil. Paris war lange Zeit das Zentrum der polnischen Kultur. Wittstock: Als Sie in Polen lebten: Wie groß war das Interesse polnischer Leser an deutscher Kultur? Reich-Ranicki: Als ich 1938 nach Polen kam, kannte dort – außer ein paar Germanisten – niemand die Namen Fontane, Raabe, Storm oder Gottfried Keller. Die einzigen, die man kannte, waren Goethe, Schiller, Heine, während Hölderlin, Herder, Eichendorff und fast die ganze deutsche Romantik dort unbekannt waren. Gelesen wurden vom großen jüdischen Publikum in Polen deutsche Romanciers wie Feuchtwanger, Werfel, Remarque, Wassermann, Stefan Zweig. Das geistige Zentrum der nicht-jüdischen Polen war Paris, die geistigen Zentren der polnischen Juden waren Berlin und Wien. Ich habe dann in den fünfziger Jahren, in meiner Zeit als Lektor und Kritiker in Polen, dabei geholfen, einige deutsche Erzähler des 19. Jahrhunderts erstmals zu übersetzen und zu publizieren. Doch die polnischen Leser interessierten sich, ebenso wie ihre Schriftsteller, weit mehr für die französischen Autoren von Balzac bis Proust. Nein, die Polen haben die deutsche Literatur nie ins Herz geschlossen.
Wittstock: Woher die Begeisterung der Polen für die Franzosen?
Reich-Ranicki: Es ist immer leichter, Sympathie für ein Volk zu empfinden, zu dessen Land es keine gemeinsame Grenze gibt. Meist gibt es dann nämlich auch keine politischen Konflikte. Mit Preußen und Russland hatten die Polen immer wieder Konflikte. Wenn das Verhältnis der Polen zu diesen Ländern nicht unbeschwert ist, darf man sich darüber also nicht wundern. Zudem: der Franzose Napoleon hat viel für Polen getan. Und er hat Krieg gegen die Deutschen und die Russen geführt – das trug ihm in Polen viele Sympathien ein. Das alles wirkt fort bis heute. Sie dürfen nicht vergessen, im Zweiten Weltkrieg wurde ein Fünftel der polnischen Bevölkerung ermordet. Meist von Deutschen.
Wittstock: Als sie nach Deutschland kamen, haben Sie die polnische Literatur hier bekannt zu machen versucht. Wie groß war die Resonanz auf Ihre Bemühungen?
Reich-Ranicki: Gar nicht so gering, aber sie ging bald wieder vorüber. Von meiner Anthologie „Sechzehn polnische Erzähler“ (1962) wurden zwei Auflagen verkauft. Doch das hat nichts daran geändert, dass es bis heute nur einen Polen gibt, der in Deutschland so bekannt ist wie die großen englischen und französischen Romanciers: Józef Korzeniowski. Der schrieb seine Bücher allerdings in englischer Sprache unter dem Pseudonym Joseph Conrad. Der beste Teil der polnischen Literatur ist aber die Lyrik. Und ausländische Lyrik ist nirgends wirklich populär. Zumal eine solche, die, wie die polnische, sehr schwer zu übersetzen ist.

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„Der Untenstehende auf Zehenspitzen“

 Botho Strauß erklärt haarklein, was alles falsch läuft
Inzwischen ist es schon zur lieben Gewohnheit geworden: Alle drei, vier Jahre liefert der hingebungsvolle Welt- und Menschenverächter Botho Strauß einen Packen mit Notizen ab über die Gedankengespinste, denen er in letzter Zeit in uckermärkischer Abgeschiedenheit nachhing. Wir, sein Publikum draußen im Lande an den Bücherregalen, kuscheln uns dann in die meist nicht so abgeschiedenen Lesesessel und lassen uns von ihm rund zweihundert Seiten lang haarklein erklären, was denn alles falsch läuft in unserer verderben, verlotterten, verblödeten Epoche. Ich muss sagen, ich habe dieses Ritual immer gemocht. Strauß ist ein wirklich eigensinniger, finessenreicher, hinreißend skurriler Grantler. Die Energie, mit der er nach immer neuen Anlässen für seinen Zorn fahndet, ist ebenso bewundernswert wie komisch. Und Strauß hat zudem keine Scheu, die Arien seines Unmuts zu den waghalsigsten Slogans zuzuspitzen. „Es gibt eine Kraft der Abwehr von Gegenwart, die einer Zeitgenossenschaft erst Gewicht verleiht“, heißt es jetzt in seinem neuen Buch. Oder: „Nichts ist vergangener als eine vergangene Jahreszeit!“ Oder: „Alle Lust will Öffentlichkeit.“ Wer, außer Strauß, hat heute noch den Mut, alles was ihm so durchs Hirn hüpft, derart ungeschützt und fanfarenhaft unter die Leute zu trompeten? Natürlich muss man sich immer wieder mal im Sessel zurücklehnen und klar machen, dass Strauß das alles vielleicht so ernst und apodiktisch meint, wie er es schreibt, wir Leser es aber ein wenig lockerer angehen dürfen. Niemand hat Strauß bislang mehr geschadet als seine blindwütigen Anhänger, die um jedes seiner Worte derart viel Weihrauch schwenken, dass die Schwaden dem Autor mitunter schwer zu Kopfe steigen. Strauß ist alles andere als ein systematischer Denker – und in seinen besseren Momenten will er es auch nicht sein. Er liefert Fragmente, Gedankensplitter, kleine Einfälle, und er liefert sie, wenn man genau hinschaut, mit einer sympathischen Freude am Selbstwiderspruch: „Nichts, was du weißt“, bescheinigt er sich selbst, „stimmt mit dem, was du sonst noch weißt, überein.“ So erinnert jedes neue Buch von Strauß beim ersten Lesen an eine rasante Schlittenfahrt bei stockfinsterer Nacht: Man weiß nie, was kommt. Manchmal freie Strecke, manchmal wirres Unterholz. Das hält wach, das trainiert die Reflexe. Wären diese glatt polierten Strauß-Slogans, kann man zum Beispiel fragen, nicht ebenso plausibel, wenn man sie in ihr blankes Gegenteil verkehrt? „Es gibt eine Kraft der Abwehr von Vergangenheit, die einer Zeitgenossenschaft erst Gewicht verleiht“. Oder: „Nichts ist gegenwärtiger als eine vergangene Jahreszeit!“ Oder (was das spezifische Mitteilungsbedürfnis dieses Autors besonders schön beschriebe): „Alle Unlust will Öffentlichkeit“. Nein, wer sich aus Strauß’ lockerer Gedankenprosa ein festes Weltbildchen zusammenzimmern will, tut es auf eigene Gefahr. In seinem neuen Buch nimmt sich Strauß beispielsweise zwei Lieblingsbegriffe unserer Zeit zur Brust: Demokratie und Kommunikation. Er zaust sie kräftig durch, lässt wenig gute Haare an ihnen – und das ist natürlich erfrischend, weil es immer erfrischend ist, wenn unbefragte Leitvokabeln mal ins Zwielicht gerückt werden. Doch Strauß ist ein viel zu rhapsodischer, sprunghafter Denker, als dass man darin mehr sehen sollte als geistige Lockerungsübungen für Zwischendurch. Ein Beispiel: Für Strauß, den Dichter, wird eine Metapher bereits zum Argument. Wenn er etwa die Bedeutung des Mythos für die Kultur unserer Zeit beschreiben will, leiht er sich dazu ein Bild aus der Astronomie: „In der Kultur war der Urknall die Sprengung des Mythos. In unzähligen Subtanzen fliegt er um uns und durch uns hindurch. Die zunehmende Entfernung vom gesprengten Einen, dem religiösen Glutkern, wird angeblich nie wieder rückgängig.“ Und dann dreht Strauß den Spieß um, und folgert flott aus seiner Metapher, welche Zukunft der Kultur bevorstehe: „Neuere Theorien über das Schicksal des Universums legen nahe, dass es nie wieder kontrahieren, nie wieder ineins, zu seiner Gänze zusammenstürzen wird. Mit anderen Worten, auch unser ins Unendliche auseinanderfliegende, hinausgestreute Geist müsste wie das All irgendwann zum Stillstand kommen, auskühlen und veröden.“ Für solche atemberaubenden Manöver habe ich Strauß immer geliebt. Sie entbehren jeder Logik, entspringen allein dem tiefen Wunsch und Wille des Autors, verraten mithin eine Menge über ihn und dazu noch über das ungebrochene Fortleben magischer Denkformen in unserem angeblich so rationalen Zeitalter. Denn, seien wir ehrlich, auf solchen verschwurbelten Bahnen bewegen sich nicht nur Geistesblitze von Strauß, sondern vermutlich das meiste, was jedem von uns durch den Kopf schießt. Es wird in der Literatur jedoch nur selten so offen und ungeniert präsentiert wie eben hier. Ein Rätsel bleibt, weshalb Strauß von seiner Fan-Gemeinde angesichts solcher nicht eben Vertrauen erweckender gedanklicher Präzisionsarbeit zu einer Art Weltorakel stilisiert wird. Vielleicht steckt dahinter der Köhlerglaube, jemand, der in die Einsamkeit zieht, komme damit als Eremit der Wahrheit automatisch näher. Ein Rätsel auch, weshalb Strauß – der ja kein dummer Mann ist – sich immer wieder in enervierende Predigerposen wirft und in nietzschehaften Wahrlich-ich-aber-sage-Euch-Ton verfällt. Klar, er will sich mit diesem Pathos sprachlich von der vermeintlich dauerironischen Gegenwart absetzen. Schön, schön. Aber gehören nicht Inhalt und Form im Reich der Literatur zu den untrennbaren Siamesischen Zwillingen? Will sagen: Erhebt Strauß mit seinem Weltgeist-Tonfall unter der Hand nicht doch Ansprüche, von denen er weiß, dass er sie – wie alle – nicht mehr erfüllen kann? Ich glaube, an guten Tagen ist sich Strauß über all das klar. Er schaut über die Uckermark und gesteht sich ein, dass er keineswegs unbegrenzte Fernsicht genießt. Vielmehr verliert sich sein Blick im neuen Buch auffällig häufig im Nebel – und das ist, wie Landschaftsschilderungen bei Strauß oft, getrost symbolisch zu verstehen. Der Eremit sieht die Dinge nicht zwangsläufig klarer, er ist nur allein mit seinen Unklarheiten. Ewige Grantler treten naturgemäß auf der Stelle. Im Grunde möchten sie, wie Genet einmal sagte, dass die Welt so schlecht bleibt, wie sie ist, damit sie weiter gegen sie sein können. Von dieser Haltung scheint sich Strauß jedoch im neuen Buch gelegentlich frei machen zu wollen. Er, der sich selbst gern als konservativer, wenn nicht reaktionärer Zeitkritiker feiert, stimmt plötzlich ein verhaltenes Loblied auf die „Fortschrittsoptimisten“ an und belächelt alle „Niedergangsdiagnostiker“. Oder er, der sonst den Verlust kulturellen Zusammenhänge beklagt, lässt sich zu einer Hymne auf das postmoderne Durcheinander hinreißen: „Vielleicht kommt aber der natürliche Artenreichtum des Geistes gegenwärtig üppig und ungeschönt wie selten zum Vorschein. Er lässt sich nicht an tendenzielle Normen binden, wie es die klassische Beschreibung geschichtlicher Perioden versuchte, vor allem solcher mit erklärtem metaphysischen, nationalen oder utopischen Ziel.“ Für solche Unbekümmertheit gegenüber dem eigenen Image muss man ihn natürlich erst recht mögen. Ob er ernstlich zu anderen Zielen aufbricht, ist die Preisfrage, die dann in drei, vier Jahren der nächste Packen mit Notizen beantwortet. Es bleibt spannend.

Botho Strauss: „Der Untenstehende auf Zehenspitzen“ Hanser Verlag 2004 169 Seiten 17,90 €

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