„Wie viel Vögel“

 Das erstaunliche Debüt von Franziska Gerstenberg

Vieles in diesem Buch ist wirklich außerordentlich schön und gelungen. Der Anfang der Geschichte „Glückskekse“ zum Beispiel: „Marianna zu küssen war das eine. Marianna hatte einen blonden Zopf, dunkle Brauen und dunklen Flaum auf der Oberlippe. Ihr Körper war schwer und fest wie mit Puderzucker bestäubter Stollen.“ Drei einfache, kurze Sätze und sofort hat man als Leser nicht nur eine Figur vor Augen, blond und kräftig, mit Zopf und Flaum, sondern man glaubt den Körper dieses Mädchens regelrecht unter den Händen zu spüren, verführerisch wie ein Kuchenleib zur Weihnachtszeit. Und als spannungssteigernde Zugabe klingt außerdem noch an, dass diese Geschichte von mehr handeln wird, als von einer erotischen Begegnung: „Marianna zu küssen war das eine.“ Neben diesem einen muss man sich ganz offenbar noch auf etwas anderes gefasst machen. Und diese Erwartung trügt nicht. Ein solcher Auftakt ist wirklich sehr schön, ist gekonnt, ist handwerklich perfekt. Franziska Gerstenberg, gerade mal fünfundzwanzig Jahre alt, legt ihr erstes Buch vor „Wie viel Vögel“, einen Band mit fünfzehn Erzählungen, doch keine der Geschichten wirkt wie die einer Anfängerin. Die Autorin weiß genau, was sie tut, sie ist nicht naiv, sie setzt ihre Mittel sehr bewusst und zielsicher ein. Ihre Geschichten sind immer klar und gut gebaut, schlank und durchdacht, und manchmal sind sie noch mehr als das, manchmal entfalten sie, wie jene drei Anfangssätze einen eigenen Zauber. Dann zieht man beim Lesen im Geiste den Hut vor Franziska Gerstenberg und beglückwünscht sie zu ihrem prächtigen Talent. Sie erzählt fast ausschließlich von jungen, unsicheren, noch unfertigen Menschen. Von einem Paar beispielsweise, das drauf und dran ist, getrennte Wege zu gehen, sich zuvor aber noch eine Frist von fünf Tagen in Amsterdam gibt. Oder von zwei Freundinnen, die halb ängstlich, halb mitleidlos beobachten, wie die Ehen ihrer Eltern zu zerbröckeln beginnen, und die eine Wette abschließen, welche zuerst geschieden werden wird. Oder von einer zurückgezogen lebenden Frau, die gelegentlich mit den Handwerkern schläft, die in ihre Wohnung Rohre und Waschmaschinen reparieren, die aber mit ihrer Verführungskunst ausgerechnet an jenem Handwerker scheitert, der sehr symbolträchtig ihre Wohnung zur Außenwelt hin aufbricht, um eine neue Tür zum Balkon einzusetzen. Schon allein weil sich Franziska Gerstenberg auf solche schwankenden, noch unentschiedenen Menschen konzentriert, wirkt die Welt in ihrem Buch wie durchdrungen von diffuser Unruhe und Ratlosigkeit. So etwas wird dann in Rezensionen gern als literarisches Psychogramm einer orientierungslosen Jugend hingestellt, als Porträt einer gefährdeten Generation. Doch die Erzählungen sind, was sehr sympathisch ist, viel bescheidener. Sie spüren einzelne Menschen nach, nicht der Haltung ganzer Jahrgänge, Menschen, die sich an die ersten wichtigen Weggabelungen ihres Lebens herantasten, und die einfach noch nicht wissen, welche Richtung sie dort einschlagen werden. Eine Schwäche allerdings scheint diese kühl und klug kalkulierende Autorin bislang noch zu haben: Ihre Geschichten sind nicht sonderlich stimmungsstark. Sie entwickeln bei aller Anschaulichkeit und Lebendigkeit wenig Atmosphäre. Es macht Spaß sie zu lesen, aber es bleibt wenig von ihnen in Erinnerung, sie richten sich eher an den Verstand als an die Sinne. Doch dann stolpert man beim Lesen plötzlich wieder über einen dieser Sätze, bei dem einfach alles stimmt, einer wie die drei zu Anfang der Geschichte „Glückskekse“, und man denkt, Hut ab, was für ein Talent, was für ein Versprechen.

Franziska Gerstenberg: „Wie viel Vögel“. Erzählungen Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main 2004 229 Seiten, 18,90

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