Sten Nadolnys grandioser „Ullsteinroman“
Ich habe schon lange kein Buch mehr gelesen, das so intelligent, so sorgfältig gearbeitet, so hinreißend gut geschrieben und zugleich so anrührend ist wie Sten Nadolnys „Ullsteinroman“. Es ist ein Buch, das man sich auf der Zunge zergehen lassen kann – das man sich aber auch in Ruhe auf der Zunge zergehen lassen muss, weil es nämlich beim schnellen Schlingen im Hals stecken zu bleiben droht. Aus einem einfachen Grund: Es erzählt die Geschichte des legendären Verlegers Leopold Ullstein und seiner Familie. Ullstein, 1826 in Fürth geboren, hatte vier Geschwister. Er heiratete zweimal, seine beiden Frauen schenkten ihm zehn Kinder, die wiederum Familien gründeten und ihn mit 26 Enkeln beglückten. Das ergibt zusammen in nur drei Generationen über 50 Personen – von den Eltern Ullsteins, seinen Freunden und Konkurrenten, den Tanten, Onkeln, Vettern und Basen ganz zu schweigen. Kurz, im „Ullsteinroman“ geht es mitunter zu, als würde in einer Grunewald-Villa ein riesiges Familienfest gefeiert. Aus allen Salons, Zimmern, Kammern, Fluren und Stuben quellen lauter Ullsteins, ihre Ehepartner an der Hand und Kinder auf dem Arm. Natürlich, Nadolny ist ein kluger, ein erfahrener Autor, der genau weiß, wann er seinen Stoff behutsam straffen oder auch kühn kürzen muss, um nicht in der Materialflut zu versinken. Dennoch sollte man sich für die Lektüre dieser 500 Seiten Zeit nehmen und häufiger mal im fünfteiligen Stammbaum am Ende des Buches nachschlagen, damit man angesichts dieser fruchtbaren Familie den Überblick nicht verliert. Wer dazu bereit ist, wird vom „Ullsteinroman“ reich belohnt und zugleich aufs Beste unterhalten. Nadolny ist nämlich eine bestechende Mischung gelungen aus einer detailreichen Familienbiografie, einem historischen Roman von beträchtlicher Dramatik und einer 150 Jahre umspannenden Kulturgeschichte des deutsch-jüdischen Großbürgertums. Aufstieg und Untergang des Hauses Ullstein führen, so wie sie in diesem Roman erzählt werden, einige der stolzesten und einige der entsetzlichsten Kapitel deutscher Vergangenheit vor Augen in einer Plausibilität und Plastizität, der man sich nur schwer entziehen kann. Leopold Ullstein war der Sohn eines gläubigen Juden und wohlhabenden Papierhändlers. Im aufblühenden Berlin brachte er es im Beruf seines Vaters schnell zu beachtlichem Vermögen. Er war zudem ein belesener, aufklärerisch denkender Mensch, der seine religiösen Bindungen bald abstreifte. 1871 ließ sich Leopold Ullstein in den Berliner Stadtrat wählen und beschäftigte sich – sehr symbolträchtig – mit dem „Erleuchtungswesen“, also der Aufstellung von Straßenlaternen. Die Politik nahm ihn gefangen und ließ ihn nicht mehr los. Als er 1877 sein Mandat als Stadtverordneter verlor, mochte er auf seine politischen Ambitionen nicht verzichten und beschloss, künftig bedrucktes Papier zu verkaufen. Er erwarb erst das „Neue Berliner Tageblatt“, dann die „Berliner Zeitung“, die er zur Keimzelle eines liberalen, streitbaren Verlagsimperiums machte. Die Meisterschaft des Schriftstellers Nadolny zeigt sich auch daran, dass er sich nicht darauf beschränkt, die Stationen der Erfolgsgeschichte Ullsteins nur nachzuerzählen. Vielmehr versucht er zu zeigen, auf welche Weise ein Erfolg von dieser Größenordnung möglich werden konnte. Wie schon in seinen beiden schönsten Romanen „Die Entdeckung der Langsamkeit“ (1983) und „Selim“ (1990) spürt Nadolny den spezifischen Qualitäten nach, die eine Führungspersönlichkeit seiner Meinung nach auszeichnen müssen: nämlich die unbedingte Bewunderung für Menschen mit außergewöhnlichen Talenten und die Fähigkeit, solche Menschen dauerhaft an sich zu binden. So war Leopold Ullsteins größter Erfolg letztlich wohl nicht verlegerischer, sondern familiärer Natur. Er sorgte für eine exzellente Ausbildung seiner fünf Söhne und verstand es, sie entsprechend ihrer sehr unterschiedlichen Begabungen so in seinem Konzern einzusetzen, dass sie den Verlag bis weit über seinen Tod hinaus ohne jeglichen brüderlichen Zwist von Triumph zu Triumph führen konnten. 1903 erst wurde der Buchverlag Ullstein gegründet. Aus Anlass seines hundertsten Geburtstages hat Sten Nadolny dieses Buch geschrieben. Sein Programm war, wie das aller Ullstein-Zeitungen, geprägt durch das Nebeneinander von gediegener Information, einem scharfen, großstädtischen Witz und der Abwesenheit jeglicher Berührungsängste vor einträglichem Entertainment. Erst Ende der zwanziger Jahre zerbricht der Familienfrieden. Die dritte Generation giert nach der Macht im Konzern, doch Franz Ullstein, der drittälteste Sohn des Gründers, steht ihr im Weg. Nachdem er die dreißig Jahre jüngere Rosie Goldschmidt geheiratet hat, eine der mythischen femmes fatales der Weimarer Republik, wird er brutal aus dem Verlag gedrängt. Der Skandal ist da, die folgenden jahrelangen Streitigkeiten schwächen die Widerstandskräfte des Hauses, das schließlich von den Nationalsozialisten übernommen, „arisiert“ wird. Wie lebensklug, ja weise dieses Buch ist, erweist sich auch daran, dass es Nadolny gelingt, die internen Konflikte der Ullsteins präzise zu schildern, ohne sich deshalb zum Richter über die Beteiligten aufzuschwingen. Sten Nadolny macht die Ullsteins, wie sich das für einen großen Erzähler gehört, aus ihrer Lebenssituation begreifbar und verschafft ihnen so, was auf Erden wohl nur in gelungenen Romanen zu haben ist: epische Gerechtigkeit. Viel zu spät entschließen sich die Ullsteins dann zur Emigration. Zwei aus dem Clan kommen der Deportation nach Polen durch Selbstmord zuvor, zwei andere sterben mit ihren Familien in Auschwitz. Die übrigen erreichen das englische, amerikanische oder brasilianische Exil buchstäblich ohne einen Pfennig Geld – vertrieben von einem Land, deren Presse ihnen Unerhörtes verdankt.
Sten Nadolny: „Ullsteinroman“ Ullstein Verlag, München 2003 496 S., 24,- €