Der vergessene Karton

Nach 60 Jahren tauchen Briefe auf, die Hans-Georg Gadamers Rolle im Dritten Reich neu beleuchten

Auch solche Gelehrtenzimmer gab es in Deutschland, seltsam und bezeichnend zugleich: Im November 1947 wechselte der Philosoph Hans-Georg Gadamer von der Leipziger Universität an die Frankfurter. Die Deutsche Reichsbahn stellte ihm für den Umzug einen gedeckten Güterwagen zur Verfügung, in dem er Schreibtisch, Bücher, Manuskripte verstaute. Doch angesichts der unsicheren Reise von der sowjetischen in die amerikanische Besatzungszone – Gadamers Frau Frida war zuvor an der Grenze vorübergehend verhaftet, persönliche Habe beschlagnahmt worden – setzte sich Gadamer zum Inventar seines Wissenschaftlerlebens mit in den Waggon. Da er sich mit Zigaretten und Schnaps reichlich ausgerüstet hatte, um jeden Grenzbeamten milde zu stimmen, erreichte er nach mehr als vier Tagen Fahrt sein Ziel ohne Verluste. Ein Hieronymus in rollender Studierstube, ein Philosoph am Beginn unseres nomadischen Zeitalters. In eine der Kisten, die damals mit ihm reisten, hatte Gadamer neben Familiendokumenten und Arbeitsunterlagen einige der wichtigsten Briefe der vergangenen zwanzig Jahre gepackt. In Frankfurt muß er den Karton wohl noch einmal geöffnet haben. Doch nachdem er 1949 einen Ruf an die Universität Heidenberg erhielt, verstaute er ihn im Keller des neuen Hauses und vergaß ihn dort offenbar. Erst über ein halbes Jahrhunderts später kam er wieder als Licht, als nach seinem Tod 2002 Gadamers wissenschaftlicher Nachlaß dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergeben wurde. Jetzt hat Ulrich von Bülow, der jenen feucht gewordenen „Leipziger Karton“ neben ausgedienten Elektrogeräten aus einem vergessenen Regal zog, die darin entdeckten Dokumente erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt – und eröffnete damit einen neuen Blick auf ein zentrales Kapitel deutscher Geistesgeschichte. Die Veranstaltungsreihe, in der von Bülow seine Funde jetzt in Marbach präsentierte, heißt „Zeitkapseln“ – nach jenen „Time Capsules“ genannten Pappschachteln, in denen Andy Warhol Papiere und Souvenirs für die Nachwelt sammelte. Treffender könnte ein Titel kaum sein, denn was jetzt vorgelegt wurde, wirkte tatsächlich wie die Flaschenpost aus einer anderen Epoche. Gadamer, der sich 1929 bei Martin Heidegger in Marburg habilitierte, schloß dort Freundschaft mit einer Handvoll fast gleichaltriger Forscher, die sich in einem so ungebrochenem Maße den Traditionen des deutschen Denkens und Dichtens verpflichtet fühlten, wie es heute kaum mehr vorstellbar ist. Karl Löwith und Gerhard Krüger, beide ebenfalls Heidegger-Schüler, gehörten diesem Freundeskreis ebenso an wie der Romanist Werner Krauss, der Philosoph Leo Strauss und der ehemalige Stefan-George-Anhänger Max Kommerell. Gemeinsam betrachteten sie sich Anfang der dreißiger Jahre als eine Generation im Aufbruch: „Sie fühlen offenbar wie ich“, schreibt Kommerell 1932 an Gadamer, „daß die alten Leute sehr alt werden und wir Jungen uns der Gleichstrebenden erinnern müssen.“ Doch schon kurz darauf, nach Hitlers Machtübernahme, bricht die Generationsgemeinschaft auseinander, die Juden Löwith und Strauss müssen emigrieren, und für die übrigen, die in Deutschland bleiben, beginnt eine Zeit der politischen Gewissensnöte. Gadamer zum Beispiel bekommt Gelegenheit, vorübergehend eine Professur in Kiel zu übernehmen – allerdings in Vertretung eines befreundeten jüdischen Professors, der nicht mehr lehren darf. Leicht dürfte es Gadamer nicht gefallen sein, in dieser, wie sein Biograph Jean Grondin schreibt, „delikaten Situation“ in die Position nachzurücken, doch mir Rücksicht auf seine weitere Karriere tat er es dennoch. An den hitlerfeindlichen Überzeugungen Gadamers und seiner Freunde kann nach den im „Leipziger Karton“ gefundenen Korrespondenzen kaum noch ein Zweifel mehr sein. Zwar läßt Kommerell am 27. März 1933 kurz nach dem „Tag von Potsdam“, an dem die Nazis ihre angebliche Verbundenheit mit preußischen Traditionen demonstrierten, noch gewisse Sympathien für das Dritte Reich erkennen. Doch schon ein Jahr später, als Hitlers Vizekanzler Franz von Papen in einer Rede an der Marburger Universität die Politik der Gleichschaltung und den Terror kritisiert, zeigt sich Gerhard Krüger von diesem, wie er schreibt, „welthistorischen Ereignis“ brieflich begeistert – und kann beim Briefempfänger Gadamer offenkundig gleiche Begeisterung voraussetzen. Anrührend ist es zu sehen, mit welcher Intensität sich Gadamer darum bemüht hat, die Beziehungen zu den ins Exil gezwungenen Freunden am Leben zu erhalten. Er besucht Leo Strauss in Paris und pflegt engen Briefkontakt mit Löwith, dem er 1926 die Patenschaft für seine Tochter Jutta angetragen hatte. 1935 bietet ihm Löwith von Rom aus an, diese Verbindung zu lösen, da er die entsprechenden Aufgaben „in der immer sinnloser und schiefer werdenden Lage eines im Ausland lebenden, dazu „nichtarischen“ Patenonkels“ ohnehin nicht erfüllen könne. Noch heute ehrt es Gadamer, wie er – im nationalsozialistischen Deutschland lebend – sich energisch bei Löwith dafür einsetzt, die Patenschaft nicht zu beenden, und so an der Freundschaft zu einem jüdischen, offen regimefeindlichen Intellektuellen im Ausland festhält. Auch für das Unverständnis, ja das Entsetzen, das Martin Heidegger unter seinen Marburger Schülern ausgelöste, als er sich 1933 zum Nationalsozialismus bekannte, finden sich in dem „Leipziger Karton“ neue Belege. Obwohl es für den im akademischen Betrieb noch keineswegs etablierten Gadamer beruflich höchst vorteilhaft gewesen wäre, reagierte er 1933 mit keinem Wort, als ihm Heidegger seine berüchtigte hitlerfreundliche Freiburger Rektoratsrede zusandte. Mehrere Jahre lang mied er jeden brieflichen Kontakt. Erst als ihm Kommerell 1936 berichtete, neue Vorträge Heideggers ließen erkennen, daß dieser seinen „Griff nach der Macht“ – der von Kommerell ganz selbstverständlich als „Krise“ bezeichnet wird – hinter sich gelassen habe, kommt es zu einer Wiederannäherung. Noch sind die Schätze, die der „Leipziger Karton“ enthielt, keineswegs vollständig erforscht. Sie verändern das Bild der Geistesgeschichte jener Zeit nicht grundlegend, aber sie verdeutlichen und konturieren es in beeindruckendem Maße. Und sie zeigen, wie in einer den finstersten Phasen deutscher Geschichte eine kleine, unbeirrbare Gruppe von Gelehrten rang um den Fortbestand der besten Seiten deutscher Kultur.

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Stadt in Opposition

Gespräch mit dem Publizisten Jürgen Manthey über Königsberg

In seinem Buch „Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik“ entwirft Jürgen Manthey das Porträt einer untergegangenen Stadt und entdeckt eine lange Zeit vergessene Traditionslinie bürgerschaftlichen deutschen Denkens im Osten Europas wieder. Mit Jürgen Manthey sprach Uwe Wittstock.

Uwe Wittstock: Vor 750 Jahren wurde Königsberg gegründet, vor 60 Jahren ist es von der Landkarte verschwunden. War die Stadt bei ihrer Gründung so etwas wie der Versuch, deutsche Kultur in den Osten Europas zu exportieren?
Jürgen Manthey: Kultur ist ein Wort, das zu sehr von heutigen Vorstellungen geprägt ist. Als die Stadt von Lübecker Kaufleuten gegründet wurde, geschah das auf dem Terrain des Deutschen Ritterordens, der 1225/26 von einem polnischen Teilfürsten zu Hilfe gerufen worden war, als Beistand im Kampf gegen die Prussen, die das später so genannte Ostpreußen ursprünglich besiedelten. Natürlich war das eine für die Zeit typische Landnahme, in Verbindung mit einer Christianisierung der letzten heidnischen Gebiete im Osten.
Wittstock: Wie muß man sich den Staat des Deutschen Ritterordens vorstellen?
Manthey: Die Ritter formten einen geistlichen Staat, der weltliche und militärische Aufgaben übernahm. Es war im Mittelalter der modernste Verwaltungsstaat Europas, ausgerichtet an dem Staatswesen des Stauferkaisers Friedrich II. mit Sitz in Sizilien. Die Ordensangehörigen kamen aus dem Reich ins spätere Ostpreußen. Sie konnten keinen persönlichen Besitz erwerben, alles war auf das Gedeihen des Staates ausgerichtet. Ämter wurden auf Zeit bekleidet, das galt selbst für den Hochmeister, den obersten Ordensritter, der später in Königsberg residierte.
Wittstock: Macht auf Zeit – das klingt demokratisch.
Manthey: Die Ordensleute waren in der Mehrzahl Adlige, aber sie kamen nicht in den Genuß der materiellen Vorteile wie Adlige woanders. Doch demokratisch ging es vor allem in Königsberg zu, wie gesagt, von Kaufleuten gegründet als eine Art Ableger von Lübeck. Der Orden wollte so viel Stadtsouveränität zunächst nicht akzeptieren, doch man arrangierte sich. Die Geschichte der Stadt wird bestimmt durch das anhaltende Spannungsverhältnis zwischen den staatlichen und den städtischen Interessen. Wichtig und folgenreich ist, daß die Konflikte, von Ausnahmen abgesehen, mit juristischen Mitteln, nicht mit Gewalt ausgetragen wurden, was das Rechtsbewußtsein der Bürger enorm stärkte.
Wittstock: Welche Rolle spielte Königsberg später in der deutschen Geistesgeschichte?
Manthey: Eine erstaunliche Rolle: Der Ordensstaat wurde 1525 reibungslos säkularisiert. Der letzte Hochmeister gründete, beraten von Luther, einen protestantischen Staat und erklärte sich zum Herzog. 1544 gründet eben dieser Herzog Albrecht eine Universität. Königsberg ist lange die einzige bedeutende Hafen- und Handelsstadt an der Küste mit einer Universität. Das wächst sich zu einem wichtigen Faktor bei der Ausbildung und Stärkung eines bürgerschaftlichen, ja republikanischen Geistes aus. Es ist kein Zufall, daß Kant Angebote auf weit besser bezahlte Professuren an anderen Universitäten ausschlägt. Das städtische Klima hält ihn hier, das Neben-, Gegen- und Miteinander von Gelehrtenrepublik, Kaufmannsgeist und, wenn man so will, Staatsklugheit. Das sind die „Königsberger Zustände“ über die sich 1842 Friedrich Wilhelm IV. beschwert: Königsberg stehe zur Monarchie in Opposition, seit es die Stadt gebe. Doch inzwischen sei es für ihn unerträglich, daß Königsberg durch seine in ganz Deutschland gelesenen Zeitungen eine bürgerliche Verfassung für Preußen fordere.
Wittstock: War Königsberg eine Hochburg des liberalen Denkens?
Manthey: Ja. Schon im Mittelalter machte die Stadt Front gegen den Adel. Die Stadt, erkannte die Leibeigenschaft nicht an und nahm geflohene Leibeigene auf. Aber selbst der ostpreußische Adel war lange Zeit liberaler als beispielsweise der brandenburgische. Die adligen Gutsbesitzer in Ostpreußen zahlten Steuern, sie waren für den Freihandel und zogen oft mit Königsberg an einem Strang im Kampf um zunächst ständische, später staatsbürgerliche Rechte. Erst nachher war auch der ostpreußische Adel stockreaktionär.
Wittstock: Gab es so etwas wie einen Geist von Königsberg?
Manthey: Unbedingt. Von hier aus nahm mit Kants Schriften die moderne Philosophie ihren Ausgang. In gewisser Weise hatte Gottsched den Boden bereitet, der Reformator des deutschen Theaters und Vater einer sehr rational ausgerichteten Dichtungstheorie. Von Hamann und Herder – und damit von Königsberg – gehen weit- und tiefreichende Impulse für die moderne Literatur aus. Kleist hat hier den größten, wichtigsten Teil seines Werks geschrieben. E.T.A. Hoffmann kommt aus Königsberg. Hannah Arendt bekennt, in ihrem Denken und Urteilen für immer von Königsberg geprägt zu sein. Kurz: Hier wirkte ein geistig aktives, nach Westen orientiertes, republikanisches Bürgertum. Dazu gehörte eine sehr rege jüdische Minderheit, die großen Einfluß auf das liberale Denken in der Stadt nahm. Wittstock: Welche Rolle spielt Königsberg in der preußischen Geschichte? Manthey: Die preußische Reformbewegung des 19. Jahrhunderts bekommt wesentliche Anstöße aus Königsberg. Nach der preußischen Niederlage gegen Napoleon 1806 kommt der Freiherr von Stein hierher und findet bei den Reformern am Ort bereits fertige Programme vor. Wir leben noch heute in Städten, deren Verfassung in wesentlichen Zügen von dem Königsberger Polizeidirektor Frey entworfen und 1808 in Königsberg verabschiedet wurde. Die Demokratiebewegung von 1848 hat ihren Schwerpunkt in Königsberg. Der erste Präsident des Paulskirchenparlaments, Eduard von Simson, stammt aus einer jüdischen Familie Königsbergs. Seit der Gründung der Sozialdemokratischen Partei ist diese in Königsberg besonders stark. Sie stellt in der Weimarer Republik den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun.
Wittstock: Wenn das Erbe Königsbergs so ausgesprochen liberal und demokratisch war, weshalb hat sich die liberale, demokratische Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg so wenig um Königsberg und seine Tradition bemüht?
Manthey: Der Erste Weltkrieg hatte gerade im Osten gravierende Folgen. Durch die Gebietsverluste an Polen entsteht auch in Ostpreußen ein sehr nationalistisches Klima, das die Nazis dann weiter anheizen. Insofern war die Erinnerung an das liberale Königsberg nach dem Zweite Weltkrieg in der Bundesrepublik überschattet durch das vergleichsweise kurze Kapitel nationalistischer Aufwallungen während der Weimarer Republik und der Hitlerjahre. Doch in den Schriften Kants, in dem riesigen Briefwechsel Hamanns oder bei Herder finden Sie nicht eine einzige abfällige oder hochmütige Bemerkung dem Osten gegenüber. Der Nationalismus entsteht erst viel später, und er entsteht im Reich. Königsberg war lange eine Drehscheibe zwischen Ost und West.
Wittstock: Wie beurteilen Sie die Situation in Königsberg/Kaliningrad und der russischen Exklave, die die Stadt umgibt, heute?
Manthey: Nach meinen Eindrücken orientiert sich mindestens die Hälfte der Bevölkerung, vor allem die Jugend, nach Westen. Sie nennen sich baltische Russen und haben weniger Interesse am 500 Kilometer entfernten russischen Kernland als an Reisen nach Polen und Litauen. Viele von ihnen lernen deutsch. Andererseits gibt es einen spürbaren Teil von sowjetisch geprägten Einwohnern, die Angst davor haben, daß Kaliningrad samt Umgebung nach Westen abdriftet. Wofür es, so weit ich sehen kann, nicht den geringsten Grund gibt.
Wittstock: Gibt es eine Zukunft für Kaliningrad, die an die Vergangenheit Königsbergs anschließt?
Manthey: Nein, das glaube ich nicht. Wenigstens im Augenblick nicht. Alle Entscheidungen werden in Moskau getroffen. Zur Zeit findet eher eine verstärkte Russifizierung statt. Um ein symbolträchtiges Indiz zu nennen: Im Vorhafen Kaliningrads, dem früheren Pillau, heute Stützpunkt der baltischen Flotte Rußlands, wurde kürzlich ein riesiges Denkmal für die Zarin Elisabeth errichtet. Und diese Zarin steht historisch für jene fünf Jahre, in denen die russischen Truppen während des Siebenjährigen Krieges Ostpreußen und Königsberg besetzt hatten. Ausgerechnet diese fünf Jahre russischer Besetzung und Herrschaft heute mit einem Denkmal zu feiern, halte ich nicht für ein versöhnliches Signal.

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Verborgene Verwandtschaft

Was Mediziner und Schriftsteller verbindet  

„Ich kenne keine bessere Schulung für den Schriftsteller“, behauptete Somerset Maugham, „als einige Jahre den Beruf eines Arztes auszuüben.“ Maugham wußte wovon er sprach, denn er war Arzt und Schriftsteller. Medizin hatte er studiert, um den „Menschen ohne Maske“ kennenzulernen – und er wurde einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Beide, so schrieb Marcel Reich-Ranicki einmal, Literaten und Mediziner seien „Fachleute für menschliche Leiden“, und so sei es nur naheliegend, daß es zwischen diesen Berufsgruppen erstaunlich viele Berührungspunkte gebe, ja so etwas wie eine verborgene Verwandtschaft existiere. Uwe Tellkamp, dessen Roman „Der Eisvogel“ auf der Leipziger Buchmesse nächste Woche zu den wichtigen und vieldiskutierten Neuerscheinungen zählen wird, bestätigt diese Regel wieder einmal: Schon seit er 2004 in Klagenfurt für ein Kapitel aus diesem Buch mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, gilt er als große Entdeckung, als ein vielversprechender junger Autor – und er arbeitet zugleich als Arzt in einer unfallchirurgischen Klinik. Tellkamp reiht sich damit ein in eine erstaunliche Zahl von Autoren, die eine medizinische Ausbildung hatten. So waren allein drei der größten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zugleich Ärzte: Gottfried Benn, der als Lyriker von europäischem Rang gestand, ihm sei seine „Existenz ohne diese Wendung zur Medizin und Biologie völlig undenkbar“. Alfred Döblin, der Medizin studierte, „weil ich Wahrheit wollte, die aber nicht durch Begriffe gelaufen und hierbei verdünnt und zerfasert war“. Und schließlich Arthur Schnitzler, der all seine Erzählungen und Stücke immer auch als Arzt schrieb, denn, so bekannte er: „Wer je Mediziner war, kann nie aufhören, es zu sein. Denn Medizin ist eine Weltanschauung.“ Tatsächlich ist die Ruhmestafel weltweit gefeierter Autoren, die zugleich als Ärzte arbeiteten, überraschend lang. Friedrich Schiller war ausgebildeter Regimentsmedikus, John Keats Wundarzt, Georg Büchner promovierter Anatom. Heinrich Hoffmann, der Vater des „Struwwelpeter“, leitete als Chefarzt die Frankfurter Irrenanstalt, Anton Tschechow meinte, „die Medizin ist meine gesetzliche Ehefrau, die Literatur meine Geliebte“. Und Louis-Ferdinand Céline studierte als Armenarzt in Pariser Vorstädten den Argot, den er dann in seinen – leider tief antisemitischen – Romanen zu Literatur veredelte. Eugène Sue steht ebenso auf dieser Liste wie Michail Bulgakow, Sir Arthur Conan Doyle, William Carlos Williams. Noch beeindruckender wird die Aufzählung, wenn man bedenkt, welche Schriftsteller zunächst Medizin studierten, sich aber noch vor dem Examen ganz der Literatur verschrieben: nämlich unter anderem Louis Aragon, Johannes R. Becher, Ludwig Börne, Bertolt Brecht, André Breton, Johann Gottfried Herder, Henrik Ibsen, Stanislaw Lem, Hermann Löns und August Strindberg. Auch unter den deutschen Autoren der Gegenwart sind die medizinisch-poetischen Doppelbegabungen keine Seltenheit: Sowohl der Dramatiker Heinar Kipphardt, wie der Romancier Ernst Augustin, der Popliteratur-Avantgardist Rainald Goetz und die Erzählerin Melitta Breznik genossen eine medizinische Ausbildung – alle in der Psychiatrie. Sogar ein klinisches Zentrum für Dichterärzte in Deutschland hat sich herauskristallisiert: In der Berliner Charité betrieb schon Döblin wissenschaftliche Forschungen, dort arbeiteten Gottfried Bermann-Fischer, der den S.Fischer Verlag durch die Nazi-Zeit brachte, und Peter Bamm, der in den Nachkriegsjahren Bestseller schrieb, hier standen Ernst Augustin und Kipphardt als Assistenzärzte am Krankenbett. Heute arbeitet Jakob Hein in der Charité als Nachwuchsmediziner, der zugleich als hoffnungsvoller Nachwuchsautor gilt. Solche Häufungen sind kein Zufall. Unter den Schriftstellern der deutschen Literaturgeschichte ließen sich allenfalls noch Geistliche oder Lehrer in ähnlich großer Zahl nachweisen wie Ärzte. Diese beiden Berufsstände neigen allerdings dazu, die Menschen unter dem Blickwinkel zu betrachten, wie sie sein sollten. Mediziner dagegen betrachten sie eher von dem Gesichtspunkt aus, wie sie sind. Mit anderen Worten: Theologen und Pädagogen entwerfen gern Rezepte, wie ein vorbildliches Leben zu führen wäre. Ärzte dagegen halten sich als Naturwissenschaftler lieber nicht an Utopien. Statt dessen benennen sie die traurigen Tatsachen des Daseins, Tatsachen, über die, wie Uwe Tellkamp in seinem Roman schreibt, „zu diskutieren der Arbeit des Chirurgen ähneln würde, die schmerzhaft und gefürchtet, aber notwendig ist“. Es ist wohl der kühle, der beobachtende, der diagnostische Blick, der manche Menschen zu Ärzten macht, und manche Ärzte dann – literarische Neigungen und Fähigkeiten vorausgesetzt – zu Schriftstellern werden läßt. Zudem noch liefert ihnen der ärztliche Beruf, wenn sie denn als Autoren an der gesellschaftlichen Realität interessiert sind, manchen brisanten und literarisch verwertbaren Stoff frei Haus. „Ich fand meine Kranken“, schrieb Döblin im Rückblick auf sein Leben, „in ihren ärmlichen Stuben liegen; sie brachten mir auch ihre Stuben in mein Sprechzimmer mit. Ich sah ihre Verhältnisse, ihr Milieu; es ging alles ins Soziale, Ethische und Politische über.“ Ohne die Patientenschicksale, denen Döblin in seiner Praxis begegnete, wäre „Berlin Alexanderplatz“ mit Sicherheit ein anderes, vermutlich ein schwächeres Buch geworden. Doch das ärztliche Studium ist für einen Schriftsteller, zumal wenn es sich um einen gefährdeten, seelisch nicht hundertprozentig stabilen Menschen handelt, auch mit Risiken verbunden. „Es war eine Rieseneselei von mir“, schreibt Arthur Schnitzler als junger Mann, „Mediziner zu werden, und es ist leider eine Eselei, die nicht wieder gut zu machen ist.“ Denn all die Krankheiten, die er während seines Studiums kennenlernte, glaubte er bald schon an sich selbst diagnostizieren zu können. Das Phänomen ist nicht unbekannt: Bei vielen Medizinstudenten werden, sobald sie ihre klinische Ausbildung beginnen, ähnliche Symptome beobachtet – die ihre Professoren dann gern ironisch als „Morbus clinicus“ bezeichnen. Bei dem äußerst empfindsamen Schnitzler jedoch ging dieses Leiden weit über das gewöhnliche Maß hinaus. Immer wieder klagte er in seinen Tagebüchern über „meine Hypochondrie, die zuweilen wie ein schwerer schmerzlicher Nebel über dem ganzen Grund meines Wesens liegt“ und verzeichnete handfeste „Todesangst-Anfälle“. Aber die Besessenheit, mit der er noch die geringste Mißempfindungen an sich registrierte, war eben zugleich die Grundlage seines schriftstellerischen Talents, Menschen noch bis in ihre verborgenen Regungen hinein beschreiben zu können. Ein Talent, daß ihm neidvolle Anerkennung selbst von so berufener Seite wie der Sigmund Freuds eintrug: Er habe, schrieb Freud 1922 an Schnitzler, „den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition – eigentlich aber infolge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja, ich glaube, im Grunde ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher.“ Mitunter sind dichtende Ärzte allerdings für ihre Patienten nicht ungefährlich. Als Schiller an seinem ersten Stück „Die Räuber“ schrieb, war er von seinen draufgängerischen Figuren so hingerissen, daß er als Arzt zu ähnlich draufgängerischen Therapien neigte. Wie in der Literatur wolle er, beklagte ein Vorgesetzter, offenbar auch in der Medizin „Kraftstücke liefern, die aber weder gerieten, noch (von den Kranken) zum besten rezensiert würden“. Schiller war Stolz auf seinen Ruf. Er liebe als Arzt, schrieb er unter Pseudonym über sich selbst, „starke Dosen“ und man solle ihm lieber zehn Pferde zu Behandlung schicken als die eigene Frau.

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Unfreie deutsche Jugend

Wie sich der Lyriker und Maler Gerald Zschorsch für eine Handvoll Gedichte vier Jahre Haft einhandelte

Es ist eine finstere, eine böse Geschichte, die hier erzählt werden muß. Eine Geschichte von jugendlichem Idealismus und staatlicher Brutalität. Eine Geschichte von geradezu selbstzerstörerischer Aufrichtigkeit und von einer ebenso engstirnigen wie ängstlichen Diktatur, die wegen Lappalien bereit war, ein Leben zu zerstören. Kein angenehmer Stoff also, auch wenn das Land, um das es geht, die DDR, inzwischen längst entschlafen ist. Nicht von einer ostalgisch verklärten Freien Deutschen Jugend kann hier die Rede sein, sondern es muß von dem berichtet werden, was die Jugend im anderen Deutschland seinerzeit so unfrei machte. Und von dem Triumph eines Menschen, der trotz allem den längeren Atem gehabt und das Land überstanden hat, das ihm zusetzte. Die DDR war zwei Jahre alt, als der Lyriker und Maler Gerald Zschorsch in Elsterberg im Vogtland geboren wurde. Vater und Mutter zählten sich zu den gläubigen Sozialisten, also nahmen die üblichen Familienkonflikte während der Pubertät schnell einen grellen politischen Beiklang an. Jedes Wort des Sohnes gegen das Regime war in den Ohren der Eltern eine unerträgliche Provokation. Als 1968 in der benachbarten Tschechoslowakei Dubceks demokratischer Sozialismus bejubelt wurde, jubelte der Heranwachsende mit. Woraufhin der Streit mit den Eltern eskalierte, der Sohn im Zorn für stattliche Sachschäden sorgte und, mit 17 Jahren, zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Zschorsch gehört nicht zu den Leuten, die viel jammern. Wer sich beklagt, fügt sich seiner Ansicht nach schon in die Rolle des Opfers. Und Opfer wollte Zschorsch nie sein. Von seiner Seite aus, versichert er, gibt es keine Beschwerden gegen diese frühe Strafe: „Wer Regeln bricht, muß zahlen“, meint er und seine Stimme nimmt einen hohen, gepreßten Ton an, der klingt, als stampfe da jemand sprechend mit dem Fuß auf. Diese Bereitschaft, dieser Drang, die Folgen seiner Handlungen unbedingt zu tragen – gleichgültig, wer die Regeln aufstellt und ob sie angemessen sind – spielt später eine entscheidende Rolle bei Zschorschs zweiter Verurteilung. Die ließ nicht lange auf sich warten. Als er 1970 aus der Jugendhaft entlassen wird, ist das Verhältnis zu den Eltern ruiniert. Gerade volljährig geworden sucht er Schutz und zugleich Freiraum an dem einzigen Ort der näheren Umgebung, der etwas Offenheit verspricht: Er wird Bühnentechniker am Theater in Plauen, der größten Stadt des Vogtlandes. Doch sein Eifer dort hält sich in engen Grenzen – was man ihm beim folgenden Verfahren vorwerfen wird: „Zschorschs Einstellung zur Arbeit war mangelhaft.“ Statt dessen beginnt Zschorsch Gedichte zu schreiben. Wolf Biermann war zum überlebensgroßen Idol einer kleingehaltenen DDR-Jugend herangewachsen. Also besorgt sich Zschorsch wie sein Vorbild eine Gitarre, leiht sich eine Schreibmaschine und versucht, was ihn bedrängt, in Verse zu fassen. Viel bekommt er nicht aufs Papier, nur erste, noch unbeholfene Versuche – und sie galten jahrzehntelang als verloren. Jetzt sind sie, zusammen mit Gerichtsakten des zweiten Prozesses, wieder aus den DDR-Archiven aufgetaucht. Zschorsch, heute ein erfahrener Lyriker, sieht diese Anfängerarbeiten inzwischen mit teils verwundertem, teils amüsiertem Blick. Es sind eher Bekenntnisse und schlichte Phantasien als sprachlich durchgearbeitete Gedichte. Vom Haß auf „diesen Staat, diese Menschen und das Leben“ schwadroniert einer der Texte. Ein anderer beschwört vagen Weltschmerz: „Straßenzüge, leer und ohne Namen, / inmitten einer grauen, kalten Welt. / Im Innen suchen Menschen Platz für ihre Liebe, / Glut im Herzen, die Taschen ohne Geld.“ Und dazu schreibt der noch sehr junge Mann, der erst vor Monaten aus dem Gefängnis kam, vom Zorn auf die Uniformen und Politiker des Landes und von einer Revolution, bei der falsche Sozialisten an Laternen landen. Man kann sich die Anstrengungen des 20jährigen Zschorsch, für seine Gedichte so etwas wie Öffentlichkeit zu finden, nicht zufällig, nicht hoffnungslos genug vorstellen. Einmal spielt er auf dem Bürgersteig vor einen Schallplattenladen in Plauen mit einer geliehenen Gitarre, und zehn, zwölf Jugendliche hören ihm zu. Ein andermal liest er an der Talsperre Pöhl ein paar Fremden beim Baden zwei Texte vor. Und schließlich sieht er seine große Chance gekommen, als sich in einem Tanzlokal bei Schleiz die Musiker verspäten: Er greift die Gitarre, springt auf die Bühne und singt vor einem Publikum, das dann später in den Akten unaufhaltsam von 100 über 500 auf 700 Personen anschwillt. Kurz drauf wird er festgenommen, und seine Notizen in Versform samt dem Entwurf zu einem Flugblatt verwandeln sich unter den Augen der Untersuchungsrichter zu staatsgefährdender ideologischer Konterbande. „Zschorsch hat“, heißt es im Haftbeschluß, „seit 1971 mindestens 15 sogenannte Gedichte, deren Inhalt sich gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR, dabei insbesondere gegen die führende Rolle der SED und die Wehrpolitik unseres Staates richtet, verfaßt. Diese „Gedichte‘ brachte er in mindestens 3 Fällen gegenüber jeweils 10 bis 100 Personen zum Vortrag mit dem Ziel, diese Bürger gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR aufzuwiegeln.“ Seinem trotzigen Charakter entsprechend, leugnet Zschorsch nichts, wie die Akten erkennen lassen. Was immer die Verhörspezialisten an subversiven Ideen in seinen Gedichten zu erkennen glauben, bestätigt er ihnen lauthals. Ja, sagt er, als sie in seiner Wut auf Uniformen Wut auf die NVA erkennen wollen. Ja, als sie aus seiner Verachtung gegen Politiker gezielte Hetze gegen den Staat heraushören. Ja, als sie von seiner Revolutionsträumen auf konkrete Umsturzpläne in der DDR schließen. „Mit meinen Gedichten und Liedern“, so legen sich die Beamten Zschorschs Aussagen im Protokoll zurecht, „wollte ich die Menschen auffordern, gegen die meiner Meinung nach bestehende Meinungsmanipulation in der DDR anzukämpfen und ihre „wahren Anschauungen‘ zu äußern, woraus sich zwangsläufig Veränderungen in den bestehenden Machtverhältnissen ergeben müßten.“ Der Rest ist ein Kinderspiel. Bei der Lektüre der Akten glaubt man die Begeisterung förmlich zu spüren, mit der hier ein Heer eifriger Amtsinhaber daran geht, endlich einmal die ganze Gewalt ihrer Gesetze zu exekutieren. Denn Zschorsch ist nicht der Mann, der um mildernde Umstände bittet. Und anders als Wolf Biermann genießt er weder im Osten noch im Westen Popularität, die ihn schützen könnte. Im März 1973, Zschorsch ist 21 Jahre alt, verurteilt ihn das Bezirksgericht von Karl-Marx-Stadt zur Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis. Zwei Monate später setzt das Berufungsgericht das Urteil auf vier Jahre herab – mit bemerkenswerter Begründung: Sechs der angeklagten Gedichte seien nach genauer Lektüre nicht als staatsfeindlich, sondern nur als „pessimistisch“ oder als „unverständlich“ zu betrachten, was in den Augen der Richter einen Abschlag von einem Jahr Lebenszeit rechtfertigte. Für ein paar aufgebrachte Zeilen, wie sie viele zornige junge Leute überall in der Welt notieren und für die Illusion, singend ein Land verändern zu können, verbringt Zschorsch 30 Monate im Gefängnis Cottbus. 30 Monate Haftalltag: „Das Licht klatschte in die Zelle, es war sieben Uhr. „Los, hoch!‘ Der Wächter der Nachschicht schlug mit dem Schlüssel gegen die Tür.“ Über seine eingemauerte Zeit schrieb Zschorsch später einen seiner wenigen Prosatexte. „Sport zu machen war verboten – Gymnasik war erlaubt. Zurück in die Zelle, und laufen, in der Zelle im Kreis laufen und denken, nachdenken über alles“, bis zum Abend, bis zur Nachruhe: „Das Licht summte und dann waschen, dann Licht aus, aber nur kurz, alle zehn Minuten wird es wieder angemacht. Lichtkontrolle. Und schlafen – nur auf dem Rücken oder mit dem Gesicht zur Zellenmitte – auf dem Bauch und mit dem Gesicht zur Wand schlafen ist verboten. Wer sich doch einmal „verlegt‘, wird geweckt, ein Schlag mit dem Schlüsselbund gegen die Tür.“ Ende 1974 kauft die Bundesrepublik den Häftling Gerald Zschorsch frei. Er ist 23 Jahre alt, knapp vier davon hat er in DDR-Gefängnissen verbracht. Im Westen studiert er erst ohne Erfolg, dann schreibt er weiter mit Erfolg: Seine Gedichte erscheinen im Klett-Cotta und im Suhrkamp Verlag – wo jetzt auf gut 400 Seiten sein bisheriges lyrisches Gesamtwerk erscheint: „Torhäuser des Glücks“. Und er zeichnet. Die Galerie Brusberg, eine der ersten Adresse des deutschen Kunstbetriebs, veranstaltete im vergangenen Jahr in Berlin eine Einzelausstellung seiner Graphik. Zschorschs unfreie deutsche Jugend liegt weit zurück. Auf ein paar grauen Kopien von Polizeiberichten und Gerichtsbeschlüssen rasselt sie jetzt mit ihren Ketten wie ein lang vergessenes Gespenst. Und gibt eine Ahnung davon, wie die DDR jenseits der niedlichen Ampelmännchen, der Club Cola und den prächtigen Konzerten mit den Puhdys auch sein konnte.

Gerald Zschorsch: „Torhäuser des Glücks“. Gedichte Mit einem Nachwort von Lorenz Jäger Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005 470 S., 14,00 €

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Spalten statt versöhnen

Die Karikaturisten Achim Greser und Heribert Lenz verstehen sich als Korrespondenten des gesellschaftlichen Bodensatzes

Leo Szilard – um mit ihm und nicht gleich mit Greser & Lenz zu beginnen -, Leo Szilard war nicht nur ein glänzender Physiker und einer der Väter der Atombombe, sondern er hat außerdem noch ein paar ebenso fantastische wie sarkastische Erzählungen geschrieben. Eine handelt von einem Forscher, dem es gelingt, die Sprache der Delphine zu entschlüsseln. Die Tiere erweisen sich als hoch intelligent und begreifen alle mathematischen und physikalischen Fragen. Doch als der Wissenschaftler ihnen das Wesen der Demokratie erklären will, schlagen sie die Flossen überm Kopf zusammen. Schlimm genug, sagen sie, wenn bei politischen Entscheidungen die Stimme eines Dummkopfs das gleiche Gewicht hat wie die eines Genies, doch ist es notwendig, „noch einen Schritt weiter zu gehen, und zu glauben, zwei Dummköpfe seien besser als ein Genie?“ Eine politisch nicht eben korrekte, aber bedenkenswerte Frage. In den politischen Cartoons, den Karikaturen, den Zeitungs-Bilderwitzen von Achim Greser und Heribert Lenz – um nun zu ihnen zu kommen – ist der demokratische Souverän zu einer beherrschenden Größe geworden. Nicht die Mächtigen, nicht die hohen Amtsträger, Präsidenten, Kanzler oder Minister spielen in ihrem getuschten Universum die Hauptrolle. Sondern jene Menschen, die mit ihren Stimmen die Mächtigen in die hohen Ämter tragen, sie überhaupt erst zu Präsidenten, Kanzlern oder Ministern machen. Doch, offen gestanden, Genies sind auf diesen Zeichnungen selten zu entdecken. Weit häufiger sehr einfache Leute, die aus ihrer sehr einfachen Sicht auf Fragen der Politik kein Geheimnis machen. Das ist herrlich komisch – aber zugleich auch ein wenig beängstigend. Sollte es tatsächlich Volkes Stimme sein, was Greser & Lenz da einfangen, können einen tiefe delphinische Zweifel an der Überlebensfähigkeit einer Demokratie beschleichen: Wie soll das gut gehen? Mit einem solchen Souverän, soviel steht fest, ist doch beim besten Willen kein Staat zu machen. Da ist zum Beispiel die Zeichnung dieses einsamen Trinkers in Zeiten des Terrors, der im Rausch die Namen der biologischen Kampfmittel ein wenig durcheinanderbringt, und sich angesichts seines leeren Bierglas sorgt: „Meine Güte, habe ich heute einen Durst. Da wird doch kein Pilsbrand-Erreger im Bier sein?“ Oder der brave Bürger, der sich nach den detailreichen Reportagen über die Freizeitgestaltung des Künstlerfürsten Jörg Immendorff bei seiner örtlichen Volkshochschule erkundigt: „Was kostet bei Ihnen so ein Malkurs mit Koksen und leichten Damen?“ Doch wer länger in der Welt von Greser & Lenz verweilt, verliert diese sanften demokratietheoretischen Zweifel bald wieder aus dem Blick. Denn selbstverständlich ist alles noch viel, viel schlimmer. Nicht nur an der Basis des Landes sind die Genies dünn gesät. Unter den Regierenden sieht es keineswegs besser aus. Wie könnte es sonst sein, daß die Kultusminister nach der jüngsten PISA-Studie per Radio eilig eine Rückrufaktion starten: „Die Reifeprüfungsjahrgänge 1975 bis 2003 sind ungültig. Betroffene Abiturienten möchten sich bitte umgehend bei ihrem alten Gymnasium melden.“ Oder daß die deutschen Bauvorschriften selbst dem Teufel in der Hölle Brandschutzmauern abverlangen. Oder daß auf dem Grünen-Parteitag die prägnante Formel einer „ablehnenden Zustimmung“ zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gefunden wird. Deutschland ist bei Greser & Lenz ein ziemlich witziger, genauer: ein aberwitziger Ort. Nur zu gern würde man ihre Cartoons als Schnappschüsse aus einer lustigen Scheinwelt ansehen – wenn sie der Realität nicht so verflucht ähnlich sähen. Die beiden Zeichner sind Virtuosen in der Kunst, die mit viel Pathos und Theaterdonner debattierten Polit-Dramen der Gegenwart mit unserem ganz unpathetischen Alltag zu konfrontieren – und ihre Figuren selbst auf die größten Herausforderungen der Zeit hemmungslos kleinkarierte Antworten geben zu lassen. „Spalten statt versöhnen“, sagt Achim Greser sonnig, „ist eines unserer Lieblingsmotti. Aber wir haben keine revolutionäre Absichten, keine konkreten Utopien, wir wollen nicht mehr tun, als die Wirklichkeit durch unsere Brille zu betrachten. Wir wollen der Gosse eine Chance geben am Tisch der Herrschaftselite. Wir begreifen uns als Korrespondenten des gesellschaftlichen Bodensatzes.“ Kennengelernt haben sich die beiden an der Fachhochschule in Würzburg und wollten eigentlich Architekten werden. Doch die gemeinsame Begeisterung für das Frankfurter Satiremagazin „Titanic“ sorgte dafür, daß sie schon bald die unseriöse Branche der Hausermacher hinter sich ließen, um sich dem soliden Handwerk des Witzemachens zuzuwenden. Der Komik-Gott ihrer frühen Jahre war der Zeichner F. K. Waechter, der schon der Satirezeitschrift „Pardon“ in den Jahren der Studentenbewegung ihr graphisches Gesicht verliehen hatte und der auch bei „Titanic“ in den Anfangsjahren mitmischte. Ihm schickten sie ihre ersten selbstgezeichneten Gags, erhielten ermutigende Antwort und wenig später das Angebot technische Aufgaben für die Zeitschrift zu übernehmen. „Um den Job, also die Grafik, Layout und Heftproduktion zu machen“, erzählt Greser, „mußte man Humorkompetenz nachweisen. Jeder wurde da auf seinen Humor überprüft, damit das Humorniveau nicht absackt. Davon wurde nur die Putzfrau ausgenommen.“ Doch für die beiden war das strenge Komik-Controlling letztlich kein Problem. Vor der Bundestagswahl 1994 veröffentlichten sie in der „Titanic“ mit Christian Schmidt und Hans Zippert ihre erste dezidiert politische Comicstrip-Serie: Unter dem Titel „Rote Strolche“ rotten sich die Tiere des deutschen Waldes zusammen, um den auffällig dicken Bundesoberförster abzuwählen – der jedoch über Ziege Rudolf (Scharping), Dachs Oskar (Lafontaine) und Schnabeltier Johannes (Rau) triumphiert. Wenig später entdeckte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Greser & Lenz für sich und für die – und den „stern“ – zeichnen sie bis heute. Von der Krise der Sozialsysteme bis zum Dosenpfand, von Kanzler Schröders ungefärbten Haaren bis zum Testament Arafats, vom Irakkrieg bis zur Arbeitslosenquote, von der LKW-Maut bis zur Lehrstellenknappheit filtern sie aus den Themen des Tages hinreißend kratzbürstige, bissige, schrille Pointen. Einen Hauptort ihrer Inspirationen haben sie zu einem zentralen Schauplatz ihrer Bilder gemacht: die Kneipe von nebenan mit Holzpaneelen und Daddelautomat an den Wänden, mit Bierausschank und „deutscher Küche“. Auch wenn sie inzwischen ein stattliches Atelier in Frankfurts Osten unterhalten, ist das für sie nach wie vor ein bevorzugter Ort des Aufenthalts und der Ideenproduktion: „Eine Stätte, in der Menschen reichlich, preiswert und gut versorgt zusammenhocken und mit geistreichen und komischen Reden aufeinander einteufeln.“ Die solchermaßen betriebenen Feldstudien sorgen nicht zuletzt dafür, daß Greser & Lenz in ihre Bilder authentische Kenntnisse über die je aktuelle Bewußtseinslage an den Stammtischen der Nation einfließen lassen können. Eine andere wichtige Inspirationsquelle ist, wie sie sagen, ihre Zusammenarbeit. Im Dialog sind sie komischer als im Monolog. Achim Greser pflegt ein spürbar aggressives Temperament, Heribert Lenz verfügt über die Gabe, den Spitzen des Partners eine trotz alledem verbindliche Note mitzugeben. Aber als eine Arbeitsteilung im traditionellen Sinn ist das nicht zu verstehen. „Anders ausgedrückt“, meint Lenz, „wenn einer von uns um die Ecke gebracht werden würde, könnte ich noch lange so weiter machen wie bisher, ohne daß es jemandem auffallen würde.“

Achim Greser & Heribert Lenz: „Der Aufschwung ist da!“ Antje Kunstmann Verlag, München 2005 240 S., 9,90 €

Achim Greser & Heribert Lenz: „Lesen? Das geht ein, zwei Jahre gut, dann bist du süchtig“ Edition Tiamat, Berlin 2005 70 S., 13 €

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Verschlungene Paare

Was geht in Menschen vor, wenn sie heute von Liebe sprechen? Silke Scheuermanns „Reiche Mädchen“ wissen es
Um gleich so ungeschützt wie möglich mit der Tür ins Haus zu poltern: Ich habe schon lange keine Erzählungssammlung mehr gelesen, die mir so gut gefallen hat wie diese. Silke Scheuermann ist ein großes Talent, sie ist eine Hoffnung für die deutsche Literatur – und also eine Hoffnung für uns Leser, etwas mehr über uns und unsere Zeit zu erfahren. Sie versteht sich auf die Kunst, in ihren Geschichten etwas vom besonderen Klima, vom speziellen Aroma der Gegenwart zu verdichten und damit sichtbarer, spürbarer zu machen, als es im Alltag ist. Sie erzählt ganz locker, unangestrengt, wie nebenher und doch hat man, wenn man sich ihr anvertraut, das Gefühl, manche Dinge ein wenig klarer zu sehen als zuvor. Auch wenn Silke Scheuermann noch recht jung ist, gerade mal ihr dreißigstes Jahr hinter sich hat, ist ihr Talent keineswegs unbemerkt geblieben. 2001 wurde sie für ihre Gedichte mit dem Leonce-und-Lena-Preis ausgezeichnet, zwei Lyrikbände sind seither erschienen, beide wurden mit viel Anerkennung und Beifall bedacht. Sie gehört nicht zu den dunkel raunenden, nicht zu den gravitätisch predigenden Dichtern. Ihre Verse sind leicht, tänzelnd, fast immer ironisch unterfüttert und doch konzentriert. Es ist in ihnen unübersehbar von unserer Welt hier und heute die Rede, vom „heimischen Laptop“ ebenso wie von „Reisen im Cyberspace“. Zugleich aber verlieren sie nicht die Vergangenheiten aus dem Blick, die hinter dieser Oberfläche zu entdecken ist. Also tummelt sich in ihren Gedichten munter das ganze zeitlos-mythische Personal vom Phönix bis zur Sphinx, von Äneas bis Arachne, von Medusa bis hin zu einer Minerva, die es satt hat, immer nur Göttin zu sein und auch mal „in den Pirelli-Kalender“ will. „Reiche Mädchen“ – das jetzt erschienene Buch – enthält nun Silke Scheremanns ersten Prosaarbeiten und die scheinen mir noch beeindruckender zu sein als ihre Gedichte. Was eine ebenso angenehme wie leider seltene Überraschung ist. Hat man sich doch in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr daran gewöhnt, daß auf freudetrunken gefeierte Debüts junger Autoren eher schwache zweite oder dritte Bücher folgen. Zumal wenn sich die Autoren dann in einer anderen als in der zunächst gewählten literarischen Disziplin versuchen, also von Gedichten zum Roman wechseln, oder nach Erzählungen ein Theaterstück publizieren. Meist werden da beim Schritt über die Grenzen der Gattungen die Grenzen der Begabung schmerzhaft deutlich. Nicht so bei Silke Scheuermann. Sie zeigt in der Prosa von der ersten Seite an große Sicherheit. Sie erzählt zum Auftakt von der kurzen Liebesgeschichte einer jungen Universitätsmitarbeiterin mit einem älteren Dozenten. Die Affäre nimmt keinen ungewöhnlichen oder sensationellen Verlauf: Die junge Frau ist zunächst ganz hingerissen von ihren Gefühlen und spielt mit dem Gedanken, ihren langjährigen, ein wenig langweilig gewordenen Freund zu verlassen. Der neue routinierte Liebhaber dagegen mag sich aus seiner Ehe nicht lösen und hält bereits, noch während er sporadisch mit der Heldin schläft, Ausschau nach der nächsten Gespielin. Silke Scheuermann erzählt das alles denn auch nicht als unvorhersehbare Gefühls-Havarie. Sie zeigt vielmehr, daß die junge Frau, noch während sie auf eine gemeinsame Zukunft mit ihrem Liebhaber hofft, sich bereits wiedererkennt in der Rolle der Natascha aus Tolstois „Krieg und Frieden“, die den ehrenwerten Fürst Andrej versprochen ist, aber dem verheirateten Lüstling Anatol verfällt. Doch obwohl (oder gerade weil?) sie sich darüber klar ist, welches uralte Muster sie hier nachvollzieht, wird ihr Verlangen nach dem unerreichbaren Mann (gerade weil er unerreichbar ist?) nicht geringer und auch der Schmerz, sobald die absehbare Enttäuschung eintritt, nicht kleiner. Staunenswert, wie souverän Silke Scheuermann das alles auf nur gut 25 Seiten aufblättert, mit welcher Anschaulichkeit, Präzision und Grazie. Und mit welcher Sinnlichkeit. Bettszenen werden gern als eine Nagelprobe für erzählerisches Können betrachtet, an der nicht zuletzt junge deutschsprachige Autoren oft scheitern. Silke Scheuermann meistert sie meines Erachtens mit einer schönen Mischung aus poetischer Kraft und psychologischer Klarsicht: „Ein Gefühl der Macht durchströmt mich, während ich die Beine und dann die Arme um ihn schlinge wie eine große, glückliche Spinne. Er bewegt sich in einem merkwürdig komplizierten Rhythmus, und das Gefühl der Ohnmacht, das ich nun auf einmal verspüre, ist genauso angenehm wie das Gefühl der Macht ein paar Sekunden zuvor, vermutlich sind Macht und Ohnmacht sowieso dasselbe, wir schlingen uns ineinander, jetzt gibt es mit einer verrückten Ausschließlichkeit nur noch uns beide auf der Welt, nur diese Gegenwart, die sich in einem vollkommenen Kreis um uns schließt, eine schützende Kugel, die für Sekunden schweben kann wie eine Seifenblase, Sekunden, die mir lange vorkommen, aber nur, bis sie vorbei sind.“ Auf den ersten Blick sind alle sieben Erzählungen dieses Bandes Liebesgeschichten. Genauer betrachtet berichten sie davon, wie wir durch unsere Liebesbedürfnisse und -affären neue, unerwartete und nicht immer angenehme Seiten der eigenen Persönlichkeit entdecken. Sie handeln davon, wie unser Begehren uns Antworten auf die ewige Identitätsfrage „Wer bin ich?“ gibt, Antworten, mit denen wir nicht gerechnet haben und die wir mitunter gar nicht gerne hören. „Diese Nacht hat ihr endgültig den Beweis geliefert, daß sie nie eine normale Liebe erleben wird, daß sie sich etwas überlegen muß, vielleicht Leute zu zwingen, sie zu berühren“, heißt es gegen Ende der Erzählung „Lisa oder der himmlische Körper“, die mir wie ein bitterer Nachklang auf Kirkegaards „Tagebuch des Verführers“ in heutigen Tagen vorkommt. Liebe ist im Bewußtsein von Silke Scheuermanns Figuren fast immer etwas Flüchtiges, Kurzfristiges. Schon deshalb sehen sie in ihr selten einen romantischen Selbstzweck, sondern betrachten sie eher als eine naturgegebene Chance, mit Hilfe des jeweils neuen Partners persönliche Defizite auszugleichen und die diversen Sinnlöcher des modernen Daseins zu stopfen. Da ist zum Beispiel die „Obsession eine Vergangenheit zu haben“, von der Silke Scheuermann schon in ihren Gedichten sprach: Ihre Helden befriedigen die Sehnsucht nach einer erfahrungssatten Biographie in unseren geschichtsarmen Zeiten ersatzweise einfach durch eine wechselvolle Liebesbiographie. Und zu der seltsamen Dialektik des Seelenlebens gehört, daß die Figuren nichts mehr erhoffen und zugleich fürchten als eine Liebe, die sich tatsächlich als biographisches Schicksal erweisen sollte. Eine der schönsten Erzählungen des Bandes ist in meinen Augen „Zickzack oder Die sieben Todsünden“: Die Geschichte eines Mädchens, das gerade eben auf der Altersgrenze zur jungen Erwachsenen angelangt ist und die Wohnung einer älteren Bekannten einhüten soll. Sie inspiziert die Räume, sie badet, sie lädt eine Freundin und einen Freund zu einem Video-Abend ein, sie badet wieder, diesmal mit dem Jungen und telefoniert ein paar mal mit ihrem Bruder, viel mehr passiert nicht. Doch wie es Silke Scheuermann gelingt, bei all dem das Seelenleben des Mädchens auszuleuchten, das sich hin- und hergerissen fühlt zwischen dem Geborgensein der Kindheit und der Abenteuerlust des Jugendlichen, das ihren ersten, noch ganz harmlosen sexuellen Erlebnissen mit ebensoviel ängstlicher Scheu wie forscher Neugier begegnet, das auf jede Geste, jedes Wort der anderen insgeheim voller Unsicherheit und Ambivalenz reagiert und deshalb glaubt, umso entschlossener auftreten zu müssen, kurz: wie Silke Scheuermann diesen ganzen Zickzack der Gefühle in ihre Geschichte einfängt, ist rundum virtuos. Die Erzählungen leben von einer Sprache, die niemals prunkt oder protzt. Silke Scheuermann leistet sich keine aufdringlichen stilistischen Eitelkeiten, sondern schreibt eine schlanke, klug durchstrukturierte, sanft ironisch, immer aber auch poetische Prosa. Das ein oder andere Symbol ist für meinen Geschmack etwas überdeutlich gewählt: Zum Beispiel wenn eine von der Liebe besonders herb enttäuschte Frau auf dem Höhepunkt ihrer Verzweiflung in ihrer Phantasie (oder in der Realität?) einen sehr dünnen, sehr elenden, jesusähnlichen jungen Mannes ermordet. Oder wenn das einzige Paar des Bandes, dem das seltene und legendenumrankte Glück lebenslanger Zuneigung zuteil wird, zugleich noch bei Gewitter auf die Suche nach den ebenso seltenen und legendenumrankten Kugelblitzen geht. Doch das sind Kleinigkeiten. Man darf, wenn man ein über weite Strecken so glanzvolles Stück Literatur in die Hand bekommt, nicht mäkelig sein. Silke Scheuermanns Band „Reiche Mädchen“ enthält reiche Beute für jeden Leser, der genauer wissen und verstehen möchte, was in Menschen vorgeht, wenn sie heute von Liebe sprechen. Seit Judith Hermanns Erzählungen habe ich keine schöneren gelesen als diese.

Silke Scheuermann: „Reiche Mädchen“. Erzählungen
Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main 2005 163 Seiten, 17,90 €

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Wo leben wir eigentlich?

 Christoph Heins Roman „In seiner frühen Kindheit ein Garten“

Bad Kleinen, 27. Juni 1993: Mehr als 50 Polizisten sollen die RAF-Terroristen Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams verhaften. Obwohl die Aktion aufwendig vorbereitet wurde, kommt es auf dem Bahnhof des 3000-Seelen-Ortes zu einer wüsten Schießerei. Grams und ein Beamter sterben. Eine Zeugin sagt aus, der verletzte Grams sei von Polizisten mit einem Kopfschuß regelrecht hingerichtet worden. Bundesinnenminister Rudolf Seiters tritt zurück, Generalbundesanwalt Alexander von Stahl verliert sein Amt. Obwohl Beweismittel verschwinden und die Spuren am Tatort ungenügend gesichert wurden, gibt die Bundesregierung eine Ehrenerklärung für die beteiligten Beamten ab. Bis heute weiß die Öffentlichkeit nicht zuverlässig, was sich auf dem Bahnhof in Bad Kleinen abspielte. Christoph Hein erzählt diese Affäre in seinem neuen Roman aus der Perspektive der Eltern von Grams. Sie heißen bei ihm Zurek und sind in vielen, aber nicht in allen Details ihren historischen Vorbildern nachgeformt. Richard Zurek, der Vater, ist bei Hein ein ehemaliger Schuldirektor, ein kluger, gewissenhafter Mann, der sowohl seinen Beamteneid auf die Verfassung wie auch seine Vaterpflichten sehr ernst nimmt. Hilflos muß er mitansehen, wie sich sein Sohn nach einer ersten ungerechtfertigten Haft politisch immer weiter radikalisiert und schließlich in den Untergrund abtaucht. Jahrelang leben seine Frau und er tagtäglich in der Angst, schon die nächste Nachrichtensendung könnte die Meldung bringen, ihr Kind habe getötet oder sei getötet worden. Als die befürchtete Katastrophe dann schließlich eingetreten ist, bemüht sich der Vater mit allen rechtlichen Mitteln, die Wahrheit über die Vorgänge auf jenem Bahnhof ans Licht zu bringen. Doch trotz zahlreicher eklatanter Ungereimtheiten wird sein Sohn am Ende offiziell zum Mörder des GSG-Mannes erklärt und sein eigener Tod als Selbstmord bezeichnet. „Wo leben wir eigentlich?“ fragt sich Richard Zurek, angesichts des fragwürdigen Abschlußberichts und vermutet, daß sich sämtliche Behörden, von der Staatanwaltschaft bis zum Innenministerium verschworen haben, um die haarsträubenden Mängel dieser Polizeiaktion zu vertuschen. Doch Hein schildert nicht nur Richard Zureks Sicht der Dinge. Die Gegenposition läßt er von Christin, der Schwester des Terroristen vertreten, die ihrem Vater begreiflich zu machen sucht, daß er seinen toten Sohn nicht zum Märtyrer stilisieren darf. Denn der Sohn habe, indem er „Mitglied einer Mörderbande“ wurde und einen völlig unsinnigen Kampf gegen die Bundesrepublik führte, die mißglückte Verhaftung überhaupt erst notwendig gemacht. Der Roman suggeriert also keine Antwort auf die Frage „Wo leben wir eigentlich?“, sondern legt sie den Lesern zur Beantwortung vor. Sie müssen sich anhand der Geschichte und der Argumente der Figuren ihr eigenes Urteil bilden. Im Roman trägt die Terroristin Birgit Hogefeld den Namen Katharina Blumenschläger. Hein spielt so unübersehbar an auf Heinrich Bölls große Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Und wie Böll geht es auch Hein mit seinem Roman nicht in erster Linie darum, ein brillantes Sprachkunstwerk abzuliefern, sondern eine spannende, die Bürger aufstörende politische Geschichte über unsere Gegenwart zu erzählen. Und das gelingt ihm auch. Dieses Buch hat mich eine schlaflose Nacht gekostet, nachdem ich mit dem Lesen begonnen hatte, konnte ich es vor dem letzten Satz nicht zuschlagen. So weit die politische Seite des Romans. Daneben ist „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ auch eine Elegie auf einen zu früh gestorbenen geliebten Menschen. Hein beschreibt den Kummer der Eltern über den Tod ihres Sohnes mit anrührender Intensität. Er verzichtet hierbei auf große Auftritte theatralischer Verzweiflung, sondern beschränkt ganz auf kleine, aber um so glaubwürdigere Gesten des Schmerzes. Erst vor wenigen Jahren ist Christoph Heins Frau gestorben. Daß er den langen, leidvollen Weg der Trauer aus eigener Erfahrung nur zu gut kennt, ist fast auf jeder Seite dieses Buches zu spüren.

Christoph Hein: „In seiner frühen Kindheit ein Garten“. Roman Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005 250 S., 17,90 €

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„Gruppe 47“

Das literarische Trainingslager der Republik in einer Monographie

Autoren-Klubs, -Kreise, -Cliquen oder -Gruppen werden in der Literaturgeschichte schnell von Legenden umrankt. Zum einen, weil deren Mitglieder professionelle Animateure der Fantasie sind und nur zu gern Geschichten in die Welt setzen, in denen sich Dichtung und Wahrheit schwer trennen lassen. Zum anderen, weil wohl jede derartige Gemeinschaft beim Beobachter unbewußt mit dem Mythos der ritterlichen Tafelrunde von König Artus verschmilzt, die für die Leser den heiligen Gral einer gültigen Weltdeutung hütet. Um nicht blind Legenden fortzuspinnen, sollte man sich folglich bei der Beschäftigung mit Schriftsteller-Zirkeln gründlich der historischen Fakten versichern. Die Gruppe 47 ist zweifellos die wichtigste und wirkmächtigste Autorenvereinigung der deutschen Nachkriegsliteratur. Heinz Ludwig Arnold hat ihre Geschichte jetzt übersichtlich erzählt. Er orientiert sich dabei eng an einem beim Hörverlag in München erschienen Hörbuch, das er von zwei Jahren veröffentlichte, und für das er wertvolle akustische Dokumente aus Radioarchiven barg. Alles begann 1947 bei Füssen, als der Schriftsteller Hans Werner Richter eine handvoll Autoren einlud, sich gegenseitig ein Septemberwochenende lang aus ihren Manuskripten vorzulesen. Danach kritisierten die Anwesenden das Gehörte offen, aber noch recht unbeholfen. 1958 erlebte Günter Grass mit seiner bejubelten Lesung aus der noch unveröffentlichten „Blechtrommel“ bei einer Tagung der Gruppe die Initialzündung zu seiner Weltkarriere. Spätestens von diesem Zeitpunkt an entwickelte sich die Gruppentreffen zu einer entscheidenden Instanz des deutschen Literaturmarktes. Die Kritiker Walter Höllerer, Walter Jens, Joachim Kaiser, Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki saßen in den Lesungen und brannten, kaum war der letzte Satz verklungen, prächtige Beurteilungs-Feuerwerke ab, die über Wohl und Wehe manches Buches entschieden. All diese Fakten breitet Arnold materialreich und anschaulich aus. Doch bei deren Analyse hält er sich auffällig zurück. Das ist schade, denn die Gruppe 47 war mehr als ein Trainingslager für Schriftsteller und Kritiker. Obwohl sich ihr Chef Hans Werner Richter darum bemühte, politische Diskussionen bei den Tagungen zu vermeiden, entwickelte sich die Gruppe 47 zu einer Art Katalysator für das vorherrschende Bewußtsein der Nachkriegsrepublik. Die meisten der Autoren empfanden sich als „Nonkonformisten“, die gegen das schnelle bundesdeutsche Wohlstandglück opponierten. Aber waren sie das wirklich? Wenn Alfred Andersch etwa in den ersten Jahren den amerikanischen Materialismus kritisiert, schwingt in seinen Argumenten noch viel vom pseudoidealistischen Nazi-Jargon mit. Die sozialistischen Diktaturen des Ostblock wurden von den 47ern stets verurteilt, die sozialistische Theorie jedoch, wie von der beginnenden Studentenbewegung, schwärmerisch gefeiert. Der Holocaust avancierte für die Schriftsteller der Gruppe, genauso wie für das ganze Land, erst mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozeß zu einem vordringlichen Thema. Vielleicht war die Gruppe 47 weder intellektuelle Opposition noch geistige Avantgarde der Bundesrepublik, sondern schlicht ein Modellfall ihrer Entwicklung. Wer wären dann aber die wahren literarischen Nonkonformisten der Nachkriegsgesellschaft gewesen?

Heinz Ludwig Arnold: „Die Gruppe 47“ Rowohlt Verlag, Reinbek 2005 160 S., 8,50 €

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Die Macht des Gewissens

Amerikas führende Intellektuelle: Zum Tode der Schriftstellerin und Kritikerin Susan Sontag

Denken war für Susan Sontag immer eine öffentliche Angelegenheit. Sie sah – wofür es im angelsächsischen Kulturraum ansonsten wenige Beispiele gibt – die Aufgabe des Schriftstellers nicht zuletzt in seinem politischen Engagement. Dies trug ihr den Ruf ein, „Amerikas öffentliches Gewissen“ zu sein. Sie hat die Verpflichtungen und Anforderungen, die auch ein solches inoffizielles „Amt“ mit sich bringt, mit großer Energie und Würde getragen, obwohl sie jahrzehntelang vom Krebs verfolgt wurde. Jetzt ist sie im Alter von 71 Jahren in New York ihrer Krankheit erlegen. Ihre Großeltern kamen als jüdische Emigranten aus Osteuropa nach Amerika. Sie wuchs in Arizona in der ungeliebten amerikanischen Provinz auf. Schon als Siebenjährige schrieb Sontag ihre ersten Geschichten. Als Vierzehnjährige – inzwischen auf der High School in Los Angeles – trank sie bei Thomas Mann Tee. An den Universitäten von Berkeley, Chicago und New York, entwickelte sie sich zu einer vielbewunderten Intellektuellen, die sich um Fachgrenzen nicht kümmerte und von Religionswissenschaften über Philosophie bis zur Literaturtheorie in zahllosen Bereichen brillierte. Parallel zu dieser akademischen Karriere wollte sie immer eine Schriftstellerin sein. Ihren ersten Roman „Der Wohltäter“ legte sie mit 30 Jahren vor, ihm folgten etliche andere, dazu Erzählungsbände, Drehbücher und ein Theaterstück. Doch obwohl ihr breit angelegter historischer Roman „Der Liebhaber des Vulkans“ (1992) in USA auf den Bestsellerlisten stand und sie für ihren letzten Roman „In Amerika“ (2000) mit dem begehrten National Book Award ausgezeichnet wurde, waren es nicht diese Bücher, für die sie in aller Welt gerühmt und geschätzt wurde. Es waren vielmehr ihre Essays, die sie zu einer unverwechselbaren Schriftstellerin machten. Sie gehörte neben Leslie A. Fiedler und John Barth zu den ersten Denkern, die sich über die Grenzen der ästhetischen Moderne hinwegzusetzen und die Möglichkeiten einer Postmoderne zu skizzieren versuchten. Ihr erster Essayband „Gegen Interpretation“, den sie 1966 im Alter von gerade 33 Jahren vorlegte, etablierte sie sofort als eine maßgebliche Kunsttheoretikerin der Gegenwart. In einem temperamentvollen, poetischen und doch präzisen Stil schrieb sie ebenso über Psychoanalyse wie über den französischen Nouveau Roman, über Pornographie ebenso wie über Theater, über die Kunst des Happenings ebenso wie über Film oder die Liebe zur Katastrophe. Manchen ihrer Bücher, wie etwa „Über Fotografie“ (1977), in dem sie die Manipulierbarkeit und Instrumentalisierbarkeit dieses Mediums skeptisch beleuchtete, wurden wie eine Zäsur in der öffentlichen Diskussion ganzer Kunstgattungen empfunden – und fanden unter ihren Kritikerkollegen etliche, nicht selten übereifrige Gefolgsleute. Susan Sontag allerdings relativierte ihre Position in ihrem Band „Das Leiden anderer betrachten“ (2002). Auch wenn die allgegenwärtigen Kriegs-Fotos letztlich keinen aufklärerischen Charakter hätten, attestierte sie ihnen appellative Wirkung auf den Betrachter: „Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergeßt das nicht.“ Nachdem bei ihr Mitte der siebziger Jahre Brustkrebs festgestellt worden war, analysierte sie in dem Essay „Krankheit als Metapher“ (1978) die mit einer solche Diagnose verbundenen Ängste ebenso kühl wie gnadenlos – um so der Krebserkrankung jenen Schrecken zu nehmen, der den Überlebenswillen des Patienten lähmen kann. Auch in diesem Fall überprüfte sie die eigenen Thesen Jahre später noch einmal und führte sie in dem Band „Aids und seine Metaphern“ (1989) weiter mit Blick auf die gesellschaftlichen Reaktionen auf HIV-Infektionen. Neben all dem profilierte sie sich als politische Aktivistin, die effektvoll in allen Fragen intervenierte, die ihr von zentraler öffentlicher Bedeutung zu sein schienen. Während des Vietnam-Kriegs reiste sie auf Einladung des Vietcong nach Hanoi. 1974 drehte sie über den Yom-Kippur-Krieg einen Dokumentarfilm und mußte sich den Vorwurf gefallen lassen, propalästinensische Positionen bezogen zu haben. 1982 wiederum brachte sie viele linke Intellektuelle in den USA gegen sich auf, als sie nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen die These aufstellte, „Kommunismus ist Faschismus – erfolgreicher Faschismus“. Bei ihrem politischen Engagement hat Susan Sontag auch handfeste persönliche Risiken nicht gescheut. Nach Ayatollah Khomeinis Todesurteil über Salman Rushdie solidarisierte sie sich mit ihm und organisierte im amerikanischen Kulturbetrieb den Widerstand gegen den iranischen Religionsführer. Als 1993 Sarajevo von serbischen Truppen belagert wurde und Scharfschützen täglich Dutzende von Menschen erschossen, reiste sie in die Stadt und inszenierte im Theater dort Samuel Becketts „Warten auf Godot“ – um gegen die abwartende Haltung der Nato in diesem Konflikt zu protestieren. Susan Sontag war eine unabhängige, eine originelle, eine mutige Denkerin. Als solche erhielt sie im vergangenen Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – und nahm die Dankrede nicht zuletzt zum Anlaß, die Politik George W. Bushs als „imperial“ und dem Irakkrieg als „Invasion“ zu kritisieren. Wie wohl bei allen, die ihre Positionen in der politischen Arena verfechten, kann man nicht jedes ihrer Worte auf die feinste literarische Goldwaage legen. Doch sie gehört ohne Zweifel zu den großen Autoren ihrer Zeit, die nie glauben im Besitz der endgültigen Wahrheit zu sein, die aber alles daran setzen, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen.

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„Hurra.“

Doris Knechts Gesellschaftsroman in 111 Splittern

Wenn die Literatur das Zauberkunststück ist, aus toten Buchstaben vor den Augen einer staunenden Leserschaft lebendige Menschen entstehen zu lassen, dann ist dieses Buch vorzügliche Literatur. In 111 kurzen Kapiteln wird hier eine junge Frau erschaffen, die vor Energie, Witz, Intelligenz und Neugier, kurz: vor Leben nur so strotzt. Doris Knecht hat diese Kapitel als Kolumne für das Magazin des Züricher „Tages-Anzeigers“ geschrieben, aber gesammelt zwischen zwei Buchdeckeln lesen sie sich wie ein erster Gesellschaftsroman aus dem noch so rätselhaften 21. Jahrhundert. Wie kommt man als junge Frau zu recht mit den Anforderungen, die unsere ebenso flotte wie flüchtige Gegenwart für uns bereithält? Wie lebt man zum Beispiel im sinnlich-barocken Wien, wenn man im puristisch-protestantischen Zürich arbeitet? Darf man als emanzipierte Intellektuelle mit dem Hintern wackeln, wenn man den Blick eines attraktiven Mannes einfangen will? Welches Verhältnis hat man als Postfeministin zu diesen modischen Stiefeletten mit Stiletto-Absätzen, wenn man genau weiß, wie einem die jeweils neuste Mode in den Kopf gepflanzt wird? Und wie verändert sich das politische Engagement für soziale Randgruppen, wenn man als Mutter den Kinderwagen an den zähnefletschenden Kampfhunden vorüberschiebt, die sich in diesen Randgruppen buchstäblich ungeheurer Beliebtheit erfreuen? Fragen über Fragen. Doris Knecht beantwortet sie alle – originell, präzise, anschaulich und hemmungslos subjektiv. Sedlacek zum Beispiel, dieser erfolgreiche Manager, ist eine wahre Plage und im Umgang mit Frauen ungefähr so sensibel wie Saurier in der Brunftzeit. Er zertritt sein Handy, wenn es mal nicht funktioniert, haßt Kinder und jeden, der nicht immerzu für ihn erreichbar ist, liebt statt dessen seinen brandneuen Prada-Gürtel und vielleicht noch sein Auto. Jeder vernünftige Mensch würde zu einem solchen Wesen ein wenig Abstand halten, doch Doris Knecht widmet sich diesem Studienobjekt hingebungsvoll und hat so das fabelhaftes Porträt eines großstädtischen Prachtneurotikers in ihr Buch gebannt. Hinreißend auch die hochkomplexen Paarungsriten, sexuellen Verirrungen, Liebeshändel der diversen Freundinnen und Freunde, die mit sämtlichen schmutzigen Details haarklein vor dem Leser ausgebreitet werden. Da ist Pia, die es sich in selbstgewählter Askese gut gehen läßt, Haemmerli, der gern lesbisch werden würde, Fräulein Meier, die eine Liste mit Wunsch- Männern veröffentlicht, von denen sie zwecks Verbesserung ihrer amourösen Gesamtsituation E-Mails bekommen möchte, oder Mizzi, die es zu einem echten Prinzen gebracht hat, der allerdings bedauerlicherweise den Intelligenz Quotienten einer Cocktailtomate zu haben scheint. Seit Max Goldts herrlich wirren Monologen, seit Axel Hackes und Harald Martensteins Genrebildern aus unserer unheilen Alltag, seit David Sedaris Familien-Tragikomödien im Miniaturformat und Candace Bushnells Siegeszug durch die westliche Welt mit „Sex and the City“ wird die Kolumne auch hierzulande mehr und mehr als literarische Kunstform entdeckt und anerkannt. Sie verlangt der meist knappen Kolumnenlängen wegen strenge sprachliche Disziplin und hohe Pointensicherheit, bietet andererseits jede Menge Raum für Spontaneität und erzählerische Erkundungsreisen durch das schrille Wunderland der Aktualitäten. Und zumindest mit letzterem war die deutsche Literatur bislang ja nicht eben überreich gesegnet. In Doris Knecht hat der Neue Deutsche Kolumnismus (NDK) eine würdige neue Vertreterin gefunden.

Doris Knecht: „Hurra.“ Anleitung zum Doppelleben in 111 Schritten. Czernin Verlag, Wien 2004 246 Seiten, 15,90 €

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