Wie sich der Lyriker und Maler Gerald Zschorsch für eine Handvoll Gedichte vier Jahre Haft einhandelte
Es ist eine finstere, eine böse Geschichte, die hier erzählt werden muß. Eine Geschichte von jugendlichem Idealismus und staatlicher Brutalität. Eine Geschichte von geradezu selbstzerstörerischer Aufrichtigkeit und von einer ebenso engstirnigen wie ängstlichen Diktatur, die wegen Lappalien bereit war, ein Leben zu zerstören. Kein angenehmer Stoff also, auch wenn das Land, um das es geht, die DDR, inzwischen längst entschlafen ist. Nicht von einer ostalgisch verklärten Freien Deutschen Jugend kann hier die Rede sein, sondern es muß von dem berichtet werden, was die Jugend im anderen Deutschland seinerzeit so unfrei machte. Und von dem Triumph eines Menschen, der trotz allem den längeren Atem gehabt und das Land überstanden hat, das ihm zusetzte. Die DDR war zwei Jahre alt, als der Lyriker und Maler Gerald Zschorsch in Elsterberg im Vogtland geboren wurde. Vater und Mutter zählten sich zu den gläubigen Sozialisten, also nahmen die üblichen Familienkonflikte während der Pubertät schnell einen grellen politischen Beiklang an. Jedes Wort des Sohnes gegen das Regime war in den Ohren der Eltern eine unerträgliche Provokation. Als 1968 in der benachbarten Tschechoslowakei Dubceks demokratischer Sozialismus bejubelt wurde, jubelte der Heranwachsende mit. Woraufhin der Streit mit den Eltern eskalierte, der Sohn im Zorn für stattliche Sachschäden sorgte und, mit 17 Jahren, zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Zschorsch gehört nicht zu den Leuten, die viel jammern. Wer sich beklagt, fügt sich seiner Ansicht nach schon in die Rolle des Opfers. Und Opfer wollte Zschorsch nie sein. Von seiner Seite aus, versichert er, gibt es keine Beschwerden gegen diese frühe Strafe: „Wer Regeln bricht, muß zahlen“, meint er und seine Stimme nimmt einen hohen, gepreßten Ton an, der klingt, als stampfe da jemand sprechend mit dem Fuß auf. Diese Bereitschaft, dieser Drang, die Folgen seiner Handlungen unbedingt zu tragen – gleichgültig, wer die Regeln aufstellt und ob sie angemessen sind – spielt später eine entscheidende Rolle bei Zschorschs zweiter Verurteilung. Die ließ nicht lange auf sich warten. Als er 1970 aus der Jugendhaft entlassen wird, ist das Verhältnis zu den Eltern ruiniert. Gerade volljährig geworden sucht er Schutz und zugleich Freiraum an dem einzigen Ort der näheren Umgebung, der etwas Offenheit verspricht: Er wird Bühnentechniker am Theater in Plauen, der größten Stadt des Vogtlandes. Doch sein Eifer dort hält sich in engen Grenzen – was man ihm beim folgenden Verfahren vorwerfen wird: „Zschorschs Einstellung zur Arbeit war mangelhaft.“ Statt dessen beginnt Zschorsch Gedichte zu schreiben. Wolf Biermann war zum überlebensgroßen Idol einer kleingehaltenen DDR-Jugend herangewachsen. Also besorgt sich Zschorsch wie sein Vorbild eine Gitarre, leiht sich eine Schreibmaschine und versucht, was ihn bedrängt, in Verse zu fassen. Viel bekommt er nicht aufs Papier, nur erste, noch unbeholfene Versuche – und sie galten jahrzehntelang als verloren. Jetzt sind sie, zusammen mit Gerichtsakten des zweiten Prozesses, wieder aus den DDR-Archiven aufgetaucht. Zschorsch, heute ein erfahrener Lyriker, sieht diese Anfängerarbeiten inzwischen mit teils verwundertem, teils amüsiertem Blick. Es sind eher Bekenntnisse und schlichte Phantasien als sprachlich durchgearbeitete Gedichte. Vom Haß auf „diesen Staat, diese Menschen und das Leben“ schwadroniert einer der Texte. Ein anderer beschwört vagen Weltschmerz: „Straßenzüge, leer und ohne Namen, / inmitten einer grauen, kalten Welt. / Im Innen suchen Menschen Platz für ihre Liebe, / Glut im Herzen, die Taschen ohne Geld.“ Und dazu schreibt der noch sehr junge Mann, der erst vor Monaten aus dem Gefängnis kam, vom Zorn auf die Uniformen und Politiker des Landes und von einer Revolution, bei der falsche Sozialisten an Laternen landen. Man kann sich die Anstrengungen des 20jährigen Zschorsch, für seine Gedichte so etwas wie Öffentlichkeit zu finden, nicht zufällig, nicht hoffnungslos genug vorstellen. Einmal spielt er auf dem Bürgersteig vor einen Schallplattenladen in Plauen mit einer geliehenen Gitarre, und zehn, zwölf Jugendliche hören ihm zu. Ein andermal liest er an der Talsperre Pöhl ein paar Fremden beim Baden zwei Texte vor. Und schließlich sieht er seine große Chance gekommen, als sich in einem Tanzlokal bei Schleiz die Musiker verspäten: Er greift die Gitarre, springt auf die Bühne und singt vor einem Publikum, das dann später in den Akten unaufhaltsam von 100 über 500 auf 700 Personen anschwillt. Kurz drauf wird er festgenommen, und seine Notizen in Versform samt dem Entwurf zu einem Flugblatt verwandeln sich unter den Augen der Untersuchungsrichter zu staatsgefährdender ideologischer Konterbande. „Zschorsch hat“, heißt es im Haftbeschluß, „seit 1971 mindestens 15 sogenannte Gedichte, deren Inhalt sich gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR, dabei insbesondere gegen die führende Rolle der SED und die Wehrpolitik unseres Staates richtet, verfaßt. Diese „Gedichte‘ brachte er in mindestens 3 Fällen gegenüber jeweils 10 bis 100 Personen zum Vortrag mit dem Ziel, diese Bürger gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR aufzuwiegeln.“ Seinem trotzigen Charakter entsprechend, leugnet Zschorsch nichts, wie die Akten erkennen lassen. Was immer die Verhörspezialisten an subversiven Ideen in seinen Gedichten zu erkennen glauben, bestätigt er ihnen lauthals. Ja, sagt er, als sie in seiner Wut auf Uniformen Wut auf die NVA erkennen wollen. Ja, als sie aus seiner Verachtung gegen Politiker gezielte Hetze gegen den Staat heraushören. Ja, als sie von seiner Revolutionsträumen auf konkrete Umsturzpläne in der DDR schließen. „Mit meinen Gedichten und Liedern“, so legen sich die Beamten Zschorschs Aussagen im Protokoll zurecht, „wollte ich die Menschen auffordern, gegen die meiner Meinung nach bestehende Meinungsmanipulation in der DDR anzukämpfen und ihre „wahren Anschauungen‘ zu äußern, woraus sich zwangsläufig Veränderungen in den bestehenden Machtverhältnissen ergeben müßten.“ Der Rest ist ein Kinderspiel. Bei der Lektüre der Akten glaubt man die Begeisterung förmlich zu spüren, mit der hier ein Heer eifriger Amtsinhaber daran geht, endlich einmal die ganze Gewalt ihrer Gesetze zu exekutieren. Denn Zschorsch ist nicht der Mann, der um mildernde Umstände bittet. Und anders als Wolf Biermann genießt er weder im Osten noch im Westen Popularität, die ihn schützen könnte. Im März 1973, Zschorsch ist 21 Jahre alt, verurteilt ihn das Bezirksgericht von Karl-Marx-Stadt zur Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis. Zwei Monate später setzt das Berufungsgericht das Urteil auf vier Jahre herab – mit bemerkenswerter Begründung: Sechs der angeklagten Gedichte seien nach genauer Lektüre nicht als staatsfeindlich, sondern nur als „pessimistisch“ oder als „unverständlich“ zu betrachten, was in den Augen der Richter einen Abschlag von einem Jahr Lebenszeit rechtfertigte. Für ein paar aufgebrachte Zeilen, wie sie viele zornige junge Leute überall in der Welt notieren und für die Illusion, singend ein Land verändern zu können, verbringt Zschorsch 30 Monate im Gefängnis Cottbus. 30 Monate Haftalltag: „Das Licht klatschte in die Zelle, es war sieben Uhr. „Los, hoch!‘ Der Wächter der Nachschicht schlug mit dem Schlüssel gegen die Tür.“ Über seine eingemauerte Zeit schrieb Zschorsch später einen seiner wenigen Prosatexte. „Sport zu machen war verboten – Gymnasik war erlaubt. Zurück in die Zelle, und laufen, in der Zelle im Kreis laufen und denken, nachdenken über alles“, bis zum Abend, bis zur Nachruhe: „Das Licht summte und dann waschen, dann Licht aus, aber nur kurz, alle zehn Minuten wird es wieder angemacht. Lichtkontrolle. Und schlafen – nur auf dem Rücken oder mit dem Gesicht zur Zellenmitte – auf dem Bauch und mit dem Gesicht zur Wand schlafen ist verboten. Wer sich doch einmal „verlegt‘, wird geweckt, ein Schlag mit dem Schlüsselbund gegen die Tür.“ Ende 1974 kauft die Bundesrepublik den Häftling Gerald Zschorsch frei. Er ist 23 Jahre alt, knapp vier davon hat er in DDR-Gefängnissen verbracht. Im Westen studiert er erst ohne Erfolg, dann schreibt er weiter mit Erfolg: Seine Gedichte erscheinen im Klett-Cotta und im Suhrkamp Verlag – wo jetzt auf gut 400 Seiten sein bisheriges lyrisches Gesamtwerk erscheint: „Torhäuser des Glücks“. Und er zeichnet. Die Galerie Brusberg, eine der ersten Adresse des deutschen Kunstbetriebs, veranstaltete im vergangenen Jahr in Berlin eine Einzelausstellung seiner Graphik. Zschorschs unfreie deutsche Jugend liegt weit zurück. Auf ein paar grauen Kopien von Polizeiberichten und Gerichtsbeschlüssen rasselt sie jetzt mit ihren Ketten wie ein lang vergessenes Gespenst. Und gibt eine Ahnung davon, wie die DDR jenseits der niedlichen Ampelmännchen, der Club Cola und den prächtigen Konzerten mit den Puhdys auch sein konnte.
Gerald Zschorsch: „Torhäuser des Glücks“. Gedichte Mit einem Nachwort von Lorenz Jäger Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005 470 S., 14,00 €