Was geht in Menschen vor, wenn sie heute von Liebe sprechen? Silke Scheuermanns „Reiche Mädchen“ wissen es
Um gleich so ungeschützt wie möglich mit der Tür ins Haus zu poltern: Ich habe schon lange keine Erzählungssammlung mehr gelesen, die mir so gut gefallen hat wie diese. Silke Scheuermann ist ein großes Talent, sie ist eine Hoffnung für die deutsche Literatur – und also eine Hoffnung für uns Leser, etwas mehr über uns und unsere Zeit zu erfahren. Sie versteht sich auf die Kunst, in ihren Geschichten etwas vom besonderen Klima, vom speziellen Aroma der Gegenwart zu verdichten und damit sichtbarer, spürbarer zu machen, als es im Alltag ist. Sie erzählt ganz locker, unangestrengt, wie nebenher und doch hat man, wenn man sich ihr anvertraut, das Gefühl, manche Dinge ein wenig klarer zu sehen als zuvor. Auch wenn Silke Scheuermann noch recht jung ist, gerade mal ihr dreißigstes Jahr hinter sich hat, ist ihr Talent keineswegs unbemerkt geblieben. 2001 wurde sie für ihre Gedichte mit dem Leonce-und-Lena-Preis ausgezeichnet, zwei Lyrikbände sind seither erschienen, beide wurden mit viel Anerkennung und Beifall bedacht. Sie gehört nicht zu den dunkel raunenden, nicht zu den gravitätisch predigenden Dichtern. Ihre Verse sind leicht, tänzelnd, fast immer ironisch unterfüttert und doch konzentriert. Es ist in ihnen unübersehbar von unserer Welt hier und heute die Rede, vom „heimischen Laptop“ ebenso wie von „Reisen im Cyberspace“. Zugleich aber verlieren sie nicht die Vergangenheiten aus dem Blick, die hinter dieser Oberfläche zu entdecken ist. Also tummelt sich in ihren Gedichten munter das ganze zeitlos-mythische Personal vom Phönix bis zur Sphinx, von Äneas bis Arachne, von Medusa bis hin zu einer Minerva, die es satt hat, immer nur Göttin zu sein und auch mal „in den Pirelli-Kalender“ will. „Reiche Mädchen“ – das jetzt erschienene Buch – enthält nun Silke Scheremanns ersten Prosaarbeiten und die scheinen mir noch beeindruckender zu sein als ihre Gedichte. Was eine ebenso angenehme wie leider seltene Überraschung ist. Hat man sich doch in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr daran gewöhnt, daß auf freudetrunken gefeierte Debüts junger Autoren eher schwache zweite oder dritte Bücher folgen. Zumal wenn sich die Autoren dann in einer anderen als in der zunächst gewählten literarischen Disziplin versuchen, also von Gedichten zum Roman wechseln, oder nach Erzählungen ein Theaterstück publizieren. Meist werden da beim Schritt über die Grenzen der Gattungen die Grenzen der Begabung schmerzhaft deutlich. Nicht so bei Silke Scheuermann. Sie zeigt in der Prosa von der ersten Seite an große Sicherheit. Sie erzählt zum Auftakt von der kurzen Liebesgeschichte einer jungen Universitätsmitarbeiterin mit einem älteren Dozenten. Die Affäre nimmt keinen ungewöhnlichen oder sensationellen Verlauf: Die junge Frau ist zunächst ganz hingerissen von ihren Gefühlen und spielt mit dem Gedanken, ihren langjährigen, ein wenig langweilig gewordenen Freund zu verlassen. Der neue routinierte Liebhaber dagegen mag sich aus seiner Ehe nicht lösen und hält bereits, noch während er sporadisch mit der Heldin schläft, Ausschau nach der nächsten Gespielin. Silke Scheuermann erzählt das alles denn auch nicht als unvorhersehbare Gefühls-Havarie. Sie zeigt vielmehr, daß die junge Frau, noch während sie auf eine gemeinsame Zukunft mit ihrem Liebhaber hofft, sich bereits wiedererkennt in der Rolle der Natascha aus Tolstois „Krieg und Frieden“, die den ehrenwerten Fürst Andrej versprochen ist, aber dem verheirateten Lüstling Anatol verfällt. Doch obwohl (oder gerade weil?) sie sich darüber klar ist, welches uralte Muster sie hier nachvollzieht, wird ihr Verlangen nach dem unerreichbaren Mann (gerade weil er unerreichbar ist?) nicht geringer und auch der Schmerz, sobald die absehbare Enttäuschung eintritt, nicht kleiner. Staunenswert, wie souverän Silke Scheuermann das alles auf nur gut 25 Seiten aufblättert, mit welcher Anschaulichkeit, Präzision und Grazie. Und mit welcher Sinnlichkeit. Bettszenen werden gern als eine Nagelprobe für erzählerisches Können betrachtet, an der nicht zuletzt junge deutschsprachige Autoren oft scheitern. Silke Scheuermann meistert sie meines Erachtens mit einer schönen Mischung aus poetischer Kraft und psychologischer Klarsicht: „Ein Gefühl der Macht durchströmt mich, während ich die Beine und dann die Arme um ihn schlinge wie eine große, glückliche Spinne. Er bewegt sich in einem merkwürdig komplizierten Rhythmus, und das Gefühl der Ohnmacht, das ich nun auf einmal verspüre, ist genauso angenehm wie das Gefühl der Macht ein paar Sekunden zuvor, vermutlich sind Macht und Ohnmacht sowieso dasselbe, wir schlingen uns ineinander, jetzt gibt es mit einer verrückten Ausschließlichkeit nur noch uns beide auf der Welt, nur diese Gegenwart, die sich in einem vollkommenen Kreis um uns schließt, eine schützende Kugel, die für Sekunden schweben kann wie eine Seifenblase, Sekunden, die mir lange vorkommen, aber nur, bis sie vorbei sind.“ Auf den ersten Blick sind alle sieben Erzählungen dieses Bandes Liebesgeschichten. Genauer betrachtet berichten sie davon, wie wir durch unsere Liebesbedürfnisse und -affären neue, unerwartete und nicht immer angenehme Seiten der eigenen Persönlichkeit entdecken. Sie handeln davon, wie unser Begehren uns Antworten auf die ewige Identitätsfrage „Wer bin ich?“ gibt, Antworten, mit denen wir nicht gerechnet haben und die wir mitunter gar nicht gerne hören. „Diese Nacht hat ihr endgültig den Beweis geliefert, daß sie nie eine normale Liebe erleben wird, daß sie sich etwas überlegen muß, vielleicht Leute zu zwingen, sie zu berühren“, heißt es gegen Ende der Erzählung „Lisa oder der himmlische Körper“, die mir wie ein bitterer Nachklang auf Kirkegaards „Tagebuch des Verführers“ in heutigen Tagen vorkommt. Liebe ist im Bewußtsein von Silke Scheuermanns Figuren fast immer etwas Flüchtiges, Kurzfristiges. Schon deshalb sehen sie in ihr selten einen romantischen Selbstzweck, sondern betrachten sie eher als eine naturgegebene Chance, mit Hilfe des jeweils neuen Partners persönliche Defizite auszugleichen und die diversen Sinnlöcher des modernen Daseins zu stopfen. Da ist zum Beispiel die „Obsession eine Vergangenheit zu haben“, von der Silke Scheuermann schon in ihren Gedichten sprach: Ihre Helden befriedigen die Sehnsucht nach einer erfahrungssatten Biographie in unseren geschichtsarmen Zeiten ersatzweise einfach durch eine wechselvolle Liebesbiographie. Und zu der seltsamen Dialektik des Seelenlebens gehört, daß die Figuren nichts mehr erhoffen und zugleich fürchten als eine Liebe, die sich tatsächlich als biographisches Schicksal erweisen sollte. Eine der schönsten Erzählungen des Bandes ist in meinen Augen „Zickzack oder Die sieben Todsünden“: Die Geschichte eines Mädchens, das gerade eben auf der Altersgrenze zur jungen Erwachsenen angelangt ist und die Wohnung einer älteren Bekannten einhüten soll. Sie inspiziert die Räume, sie badet, sie lädt eine Freundin und einen Freund zu einem Video-Abend ein, sie badet wieder, diesmal mit dem Jungen und telefoniert ein paar mal mit ihrem Bruder, viel mehr passiert nicht. Doch wie es Silke Scheuermann gelingt, bei all dem das Seelenleben des Mädchens auszuleuchten, das sich hin- und hergerissen fühlt zwischen dem Geborgensein der Kindheit und der Abenteuerlust des Jugendlichen, das ihren ersten, noch ganz harmlosen sexuellen Erlebnissen mit ebensoviel ängstlicher Scheu wie forscher Neugier begegnet, das auf jede Geste, jedes Wort der anderen insgeheim voller Unsicherheit und Ambivalenz reagiert und deshalb glaubt, umso entschlossener auftreten zu müssen, kurz: wie Silke Scheuermann diesen ganzen Zickzack der Gefühle in ihre Geschichte einfängt, ist rundum virtuos. Die Erzählungen leben von einer Sprache, die niemals prunkt oder protzt. Silke Scheuermann leistet sich keine aufdringlichen stilistischen Eitelkeiten, sondern schreibt eine schlanke, klug durchstrukturierte, sanft ironisch, immer aber auch poetische Prosa. Das ein oder andere Symbol ist für meinen Geschmack etwas überdeutlich gewählt: Zum Beispiel wenn eine von der Liebe besonders herb enttäuschte Frau auf dem Höhepunkt ihrer Verzweiflung in ihrer Phantasie (oder in der Realität?) einen sehr dünnen, sehr elenden, jesusähnlichen jungen Mannes ermordet. Oder wenn das einzige Paar des Bandes, dem das seltene und legendenumrankte Glück lebenslanger Zuneigung zuteil wird, zugleich noch bei Gewitter auf die Suche nach den ebenso seltenen und legendenumrankten Kugelblitzen geht. Doch das sind Kleinigkeiten. Man darf, wenn man ein über weite Strecken so glanzvolles Stück Literatur in die Hand bekommt, nicht mäkelig sein. Silke Scheuermanns Band „Reiche Mädchen“ enthält reiche Beute für jeden Leser, der genauer wissen und verstehen möchte, was in Menschen vorgeht, wenn sie heute von Liebe sprechen. Seit Judith Hermanns Erzählungen habe ich keine schöneren gelesen als diese.
Silke Scheuermann: „Reiche Mädchen“. Erzählungen
Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main 2005 163 Seiten, 17,90 €