Verborgene Verwandtschaft

Was Mediziner und Schriftsteller verbindet  

„Ich kenne keine bessere Schulung für den Schriftsteller“, behauptete Somerset Maugham, „als einige Jahre den Beruf eines Arztes auszuüben.“ Maugham wußte wovon er sprach, denn er war Arzt und Schriftsteller. Medizin hatte er studiert, um den „Menschen ohne Maske“ kennenzulernen – und er wurde einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Beide, so schrieb Marcel Reich-Ranicki einmal, Literaten und Mediziner seien „Fachleute für menschliche Leiden“, und so sei es nur naheliegend, daß es zwischen diesen Berufsgruppen erstaunlich viele Berührungspunkte gebe, ja so etwas wie eine verborgene Verwandtschaft existiere. Uwe Tellkamp, dessen Roman „Der Eisvogel“ auf der Leipziger Buchmesse nächste Woche zu den wichtigen und vieldiskutierten Neuerscheinungen zählen wird, bestätigt diese Regel wieder einmal: Schon seit er 2004 in Klagenfurt für ein Kapitel aus diesem Buch mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, gilt er als große Entdeckung, als ein vielversprechender junger Autor – und er arbeitet zugleich als Arzt in einer unfallchirurgischen Klinik. Tellkamp reiht sich damit ein in eine erstaunliche Zahl von Autoren, die eine medizinische Ausbildung hatten. So waren allein drei der größten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zugleich Ärzte: Gottfried Benn, der als Lyriker von europäischem Rang gestand, ihm sei seine „Existenz ohne diese Wendung zur Medizin und Biologie völlig undenkbar“. Alfred Döblin, der Medizin studierte, „weil ich Wahrheit wollte, die aber nicht durch Begriffe gelaufen und hierbei verdünnt und zerfasert war“. Und schließlich Arthur Schnitzler, der all seine Erzählungen und Stücke immer auch als Arzt schrieb, denn, so bekannte er: „Wer je Mediziner war, kann nie aufhören, es zu sein. Denn Medizin ist eine Weltanschauung.“ Tatsächlich ist die Ruhmestafel weltweit gefeierter Autoren, die zugleich als Ärzte arbeiteten, überraschend lang. Friedrich Schiller war ausgebildeter Regimentsmedikus, John Keats Wundarzt, Georg Büchner promovierter Anatom. Heinrich Hoffmann, der Vater des „Struwwelpeter“, leitete als Chefarzt die Frankfurter Irrenanstalt, Anton Tschechow meinte, „die Medizin ist meine gesetzliche Ehefrau, die Literatur meine Geliebte“. Und Louis-Ferdinand Céline studierte als Armenarzt in Pariser Vorstädten den Argot, den er dann in seinen – leider tief antisemitischen – Romanen zu Literatur veredelte. Eugène Sue steht ebenso auf dieser Liste wie Michail Bulgakow, Sir Arthur Conan Doyle, William Carlos Williams. Noch beeindruckender wird die Aufzählung, wenn man bedenkt, welche Schriftsteller zunächst Medizin studierten, sich aber noch vor dem Examen ganz der Literatur verschrieben: nämlich unter anderem Louis Aragon, Johannes R. Becher, Ludwig Börne, Bertolt Brecht, André Breton, Johann Gottfried Herder, Henrik Ibsen, Stanislaw Lem, Hermann Löns und August Strindberg. Auch unter den deutschen Autoren der Gegenwart sind die medizinisch-poetischen Doppelbegabungen keine Seltenheit: Sowohl der Dramatiker Heinar Kipphardt, wie der Romancier Ernst Augustin, der Popliteratur-Avantgardist Rainald Goetz und die Erzählerin Melitta Breznik genossen eine medizinische Ausbildung – alle in der Psychiatrie. Sogar ein klinisches Zentrum für Dichterärzte in Deutschland hat sich herauskristallisiert: In der Berliner Charité betrieb schon Döblin wissenschaftliche Forschungen, dort arbeiteten Gottfried Bermann-Fischer, der den S.Fischer Verlag durch die Nazi-Zeit brachte, und Peter Bamm, der in den Nachkriegsjahren Bestseller schrieb, hier standen Ernst Augustin und Kipphardt als Assistenzärzte am Krankenbett. Heute arbeitet Jakob Hein in der Charité als Nachwuchsmediziner, der zugleich als hoffnungsvoller Nachwuchsautor gilt. Solche Häufungen sind kein Zufall. Unter den Schriftstellern der deutschen Literaturgeschichte ließen sich allenfalls noch Geistliche oder Lehrer in ähnlich großer Zahl nachweisen wie Ärzte. Diese beiden Berufsstände neigen allerdings dazu, die Menschen unter dem Blickwinkel zu betrachten, wie sie sein sollten. Mediziner dagegen betrachten sie eher von dem Gesichtspunkt aus, wie sie sind. Mit anderen Worten: Theologen und Pädagogen entwerfen gern Rezepte, wie ein vorbildliches Leben zu führen wäre. Ärzte dagegen halten sich als Naturwissenschaftler lieber nicht an Utopien. Statt dessen benennen sie die traurigen Tatsachen des Daseins, Tatsachen, über die, wie Uwe Tellkamp in seinem Roman schreibt, „zu diskutieren der Arbeit des Chirurgen ähneln würde, die schmerzhaft und gefürchtet, aber notwendig ist“. Es ist wohl der kühle, der beobachtende, der diagnostische Blick, der manche Menschen zu Ärzten macht, und manche Ärzte dann – literarische Neigungen und Fähigkeiten vorausgesetzt – zu Schriftstellern werden läßt. Zudem noch liefert ihnen der ärztliche Beruf, wenn sie denn als Autoren an der gesellschaftlichen Realität interessiert sind, manchen brisanten und literarisch verwertbaren Stoff frei Haus. „Ich fand meine Kranken“, schrieb Döblin im Rückblick auf sein Leben, „in ihren ärmlichen Stuben liegen; sie brachten mir auch ihre Stuben in mein Sprechzimmer mit. Ich sah ihre Verhältnisse, ihr Milieu; es ging alles ins Soziale, Ethische und Politische über.“ Ohne die Patientenschicksale, denen Döblin in seiner Praxis begegnete, wäre „Berlin Alexanderplatz“ mit Sicherheit ein anderes, vermutlich ein schwächeres Buch geworden. Doch das ärztliche Studium ist für einen Schriftsteller, zumal wenn es sich um einen gefährdeten, seelisch nicht hundertprozentig stabilen Menschen handelt, auch mit Risiken verbunden. „Es war eine Rieseneselei von mir“, schreibt Arthur Schnitzler als junger Mann, „Mediziner zu werden, und es ist leider eine Eselei, die nicht wieder gut zu machen ist.“ Denn all die Krankheiten, die er während seines Studiums kennenlernte, glaubte er bald schon an sich selbst diagnostizieren zu können. Das Phänomen ist nicht unbekannt: Bei vielen Medizinstudenten werden, sobald sie ihre klinische Ausbildung beginnen, ähnliche Symptome beobachtet – die ihre Professoren dann gern ironisch als „Morbus clinicus“ bezeichnen. Bei dem äußerst empfindsamen Schnitzler jedoch ging dieses Leiden weit über das gewöhnliche Maß hinaus. Immer wieder klagte er in seinen Tagebüchern über „meine Hypochondrie, die zuweilen wie ein schwerer schmerzlicher Nebel über dem ganzen Grund meines Wesens liegt“ und verzeichnete handfeste „Todesangst-Anfälle“. Aber die Besessenheit, mit der er noch die geringste Mißempfindungen an sich registrierte, war eben zugleich die Grundlage seines schriftstellerischen Talents, Menschen noch bis in ihre verborgenen Regungen hinein beschreiben zu können. Ein Talent, daß ihm neidvolle Anerkennung selbst von so berufener Seite wie der Sigmund Freuds eintrug: Er habe, schrieb Freud 1922 an Schnitzler, „den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition – eigentlich aber infolge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja, ich glaube, im Grunde ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher.“ Mitunter sind dichtende Ärzte allerdings für ihre Patienten nicht ungefährlich. Als Schiller an seinem ersten Stück „Die Räuber“ schrieb, war er von seinen draufgängerischen Figuren so hingerissen, daß er als Arzt zu ähnlich draufgängerischen Therapien neigte. Wie in der Literatur wolle er, beklagte ein Vorgesetzter, offenbar auch in der Medizin „Kraftstücke liefern, die aber weder gerieten, noch (von den Kranken) zum besten rezensiert würden“. Schiller war Stolz auf seinen Ruf. Er liebe als Arzt, schrieb er unter Pseudonym über sich selbst, „starke Dosen“ und man solle ihm lieber zehn Pferde zu Behandlung schicken als die eigene Frau.

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