Stadt in Opposition

Gespräch mit dem Publizisten Jürgen Manthey über Königsberg

In seinem Buch „Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik“ entwirft Jürgen Manthey das Porträt einer untergegangenen Stadt und entdeckt eine lange Zeit vergessene Traditionslinie bürgerschaftlichen deutschen Denkens im Osten Europas wieder. Mit Jürgen Manthey sprach Uwe Wittstock.

Uwe Wittstock: Vor 750 Jahren wurde Königsberg gegründet, vor 60 Jahren ist es von der Landkarte verschwunden. War die Stadt bei ihrer Gründung so etwas wie der Versuch, deutsche Kultur in den Osten Europas zu exportieren?
Jürgen Manthey: Kultur ist ein Wort, das zu sehr von heutigen Vorstellungen geprägt ist. Als die Stadt von Lübecker Kaufleuten gegründet wurde, geschah das auf dem Terrain des Deutschen Ritterordens, der 1225/26 von einem polnischen Teilfürsten zu Hilfe gerufen worden war, als Beistand im Kampf gegen die Prussen, die das später so genannte Ostpreußen ursprünglich besiedelten. Natürlich war das eine für die Zeit typische Landnahme, in Verbindung mit einer Christianisierung der letzten heidnischen Gebiete im Osten.
Wittstock: Wie muß man sich den Staat des Deutschen Ritterordens vorstellen?
Manthey: Die Ritter formten einen geistlichen Staat, der weltliche und militärische Aufgaben übernahm. Es war im Mittelalter der modernste Verwaltungsstaat Europas, ausgerichtet an dem Staatswesen des Stauferkaisers Friedrich II. mit Sitz in Sizilien. Die Ordensangehörigen kamen aus dem Reich ins spätere Ostpreußen. Sie konnten keinen persönlichen Besitz erwerben, alles war auf das Gedeihen des Staates ausgerichtet. Ämter wurden auf Zeit bekleidet, das galt selbst für den Hochmeister, den obersten Ordensritter, der später in Königsberg residierte.
Wittstock: Macht auf Zeit – das klingt demokratisch.
Manthey: Die Ordensleute waren in der Mehrzahl Adlige, aber sie kamen nicht in den Genuß der materiellen Vorteile wie Adlige woanders. Doch demokratisch ging es vor allem in Königsberg zu, wie gesagt, von Kaufleuten gegründet als eine Art Ableger von Lübeck. Der Orden wollte so viel Stadtsouveränität zunächst nicht akzeptieren, doch man arrangierte sich. Die Geschichte der Stadt wird bestimmt durch das anhaltende Spannungsverhältnis zwischen den staatlichen und den städtischen Interessen. Wichtig und folgenreich ist, daß die Konflikte, von Ausnahmen abgesehen, mit juristischen Mitteln, nicht mit Gewalt ausgetragen wurden, was das Rechtsbewußtsein der Bürger enorm stärkte.
Wittstock: Welche Rolle spielte Königsberg später in der deutschen Geistesgeschichte?
Manthey: Eine erstaunliche Rolle: Der Ordensstaat wurde 1525 reibungslos säkularisiert. Der letzte Hochmeister gründete, beraten von Luther, einen protestantischen Staat und erklärte sich zum Herzog. 1544 gründet eben dieser Herzog Albrecht eine Universität. Königsberg ist lange die einzige bedeutende Hafen- und Handelsstadt an der Küste mit einer Universität. Das wächst sich zu einem wichtigen Faktor bei der Ausbildung und Stärkung eines bürgerschaftlichen, ja republikanischen Geistes aus. Es ist kein Zufall, daß Kant Angebote auf weit besser bezahlte Professuren an anderen Universitäten ausschlägt. Das städtische Klima hält ihn hier, das Neben-, Gegen- und Miteinander von Gelehrtenrepublik, Kaufmannsgeist und, wenn man so will, Staatsklugheit. Das sind die „Königsberger Zustände“ über die sich 1842 Friedrich Wilhelm IV. beschwert: Königsberg stehe zur Monarchie in Opposition, seit es die Stadt gebe. Doch inzwischen sei es für ihn unerträglich, daß Königsberg durch seine in ganz Deutschland gelesenen Zeitungen eine bürgerliche Verfassung für Preußen fordere.
Wittstock: War Königsberg eine Hochburg des liberalen Denkens?
Manthey: Ja. Schon im Mittelalter machte die Stadt Front gegen den Adel. Die Stadt, erkannte die Leibeigenschaft nicht an und nahm geflohene Leibeigene auf. Aber selbst der ostpreußische Adel war lange Zeit liberaler als beispielsweise der brandenburgische. Die adligen Gutsbesitzer in Ostpreußen zahlten Steuern, sie waren für den Freihandel und zogen oft mit Königsberg an einem Strang im Kampf um zunächst ständische, später staatsbürgerliche Rechte. Erst nachher war auch der ostpreußische Adel stockreaktionär.
Wittstock: Gab es so etwas wie einen Geist von Königsberg?
Manthey: Unbedingt. Von hier aus nahm mit Kants Schriften die moderne Philosophie ihren Ausgang. In gewisser Weise hatte Gottsched den Boden bereitet, der Reformator des deutschen Theaters und Vater einer sehr rational ausgerichteten Dichtungstheorie. Von Hamann und Herder – und damit von Königsberg – gehen weit- und tiefreichende Impulse für die moderne Literatur aus. Kleist hat hier den größten, wichtigsten Teil seines Werks geschrieben. E.T.A. Hoffmann kommt aus Königsberg. Hannah Arendt bekennt, in ihrem Denken und Urteilen für immer von Königsberg geprägt zu sein. Kurz: Hier wirkte ein geistig aktives, nach Westen orientiertes, republikanisches Bürgertum. Dazu gehörte eine sehr rege jüdische Minderheit, die großen Einfluß auf das liberale Denken in der Stadt nahm. Wittstock: Welche Rolle spielt Königsberg in der preußischen Geschichte? Manthey: Die preußische Reformbewegung des 19. Jahrhunderts bekommt wesentliche Anstöße aus Königsberg. Nach der preußischen Niederlage gegen Napoleon 1806 kommt der Freiherr von Stein hierher und findet bei den Reformern am Ort bereits fertige Programme vor. Wir leben noch heute in Städten, deren Verfassung in wesentlichen Zügen von dem Königsberger Polizeidirektor Frey entworfen und 1808 in Königsberg verabschiedet wurde. Die Demokratiebewegung von 1848 hat ihren Schwerpunkt in Königsberg. Der erste Präsident des Paulskirchenparlaments, Eduard von Simson, stammt aus einer jüdischen Familie Königsbergs. Seit der Gründung der Sozialdemokratischen Partei ist diese in Königsberg besonders stark. Sie stellt in der Weimarer Republik den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun.
Wittstock: Wenn das Erbe Königsbergs so ausgesprochen liberal und demokratisch war, weshalb hat sich die liberale, demokratische Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg so wenig um Königsberg und seine Tradition bemüht?
Manthey: Der Erste Weltkrieg hatte gerade im Osten gravierende Folgen. Durch die Gebietsverluste an Polen entsteht auch in Ostpreußen ein sehr nationalistisches Klima, das die Nazis dann weiter anheizen. Insofern war die Erinnerung an das liberale Königsberg nach dem Zweite Weltkrieg in der Bundesrepublik überschattet durch das vergleichsweise kurze Kapitel nationalistischer Aufwallungen während der Weimarer Republik und der Hitlerjahre. Doch in den Schriften Kants, in dem riesigen Briefwechsel Hamanns oder bei Herder finden Sie nicht eine einzige abfällige oder hochmütige Bemerkung dem Osten gegenüber. Der Nationalismus entsteht erst viel später, und er entsteht im Reich. Königsberg war lange eine Drehscheibe zwischen Ost und West.
Wittstock: Wie beurteilen Sie die Situation in Königsberg/Kaliningrad und der russischen Exklave, die die Stadt umgibt, heute?
Manthey: Nach meinen Eindrücken orientiert sich mindestens die Hälfte der Bevölkerung, vor allem die Jugend, nach Westen. Sie nennen sich baltische Russen und haben weniger Interesse am 500 Kilometer entfernten russischen Kernland als an Reisen nach Polen und Litauen. Viele von ihnen lernen deutsch. Andererseits gibt es einen spürbaren Teil von sowjetisch geprägten Einwohnern, die Angst davor haben, daß Kaliningrad samt Umgebung nach Westen abdriftet. Wofür es, so weit ich sehen kann, nicht den geringsten Grund gibt.
Wittstock: Gibt es eine Zukunft für Kaliningrad, die an die Vergangenheit Königsbergs anschließt?
Manthey: Nein, das glaube ich nicht. Wenigstens im Augenblick nicht. Alle Entscheidungen werden in Moskau getroffen. Zur Zeit findet eher eine verstärkte Russifizierung statt. Um ein symbolträchtiges Indiz zu nennen: Im Vorhafen Kaliningrads, dem früheren Pillau, heute Stützpunkt der baltischen Flotte Rußlands, wurde kürzlich ein riesiges Denkmal für die Zarin Elisabeth errichtet. Und diese Zarin steht historisch für jene fünf Jahre, in denen die russischen Truppen während des Siebenjährigen Krieges Ostpreußen und Königsberg besetzt hatten. Ausgerechnet diese fünf Jahre russischer Besetzung und Herrschaft heute mit einem Denkmal zu feiern, halte ich nicht für ein versöhnliches Signal.

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