Nach 60 Jahren tauchen Briefe auf, die Hans-Georg Gadamers Rolle im Dritten Reich neu beleuchten
Auch solche Gelehrtenzimmer gab es in Deutschland, seltsam und bezeichnend zugleich: Im November 1947 wechselte der Philosoph Hans-Georg Gadamer von der Leipziger Universität an die Frankfurter. Die Deutsche Reichsbahn stellte ihm für den Umzug einen gedeckten Güterwagen zur Verfügung, in dem er Schreibtisch, Bücher, Manuskripte verstaute. Doch angesichts der unsicheren Reise von der sowjetischen in die amerikanische Besatzungszone – Gadamers Frau Frida war zuvor an der Grenze vorübergehend verhaftet, persönliche Habe beschlagnahmt worden – setzte sich Gadamer zum Inventar seines Wissenschaftlerlebens mit in den Waggon. Da er sich mit Zigaretten und Schnaps reichlich ausgerüstet hatte, um jeden Grenzbeamten milde zu stimmen, erreichte er nach mehr als vier Tagen Fahrt sein Ziel ohne Verluste. Ein Hieronymus in rollender Studierstube, ein Philosoph am Beginn unseres nomadischen Zeitalters. In eine der Kisten, die damals mit ihm reisten, hatte Gadamer neben Familiendokumenten und Arbeitsunterlagen einige der wichtigsten Briefe der vergangenen zwanzig Jahre gepackt. In Frankfurt muß er den Karton wohl noch einmal geöffnet haben. Doch nachdem er 1949 einen Ruf an die Universität Heidenberg erhielt, verstaute er ihn im Keller des neuen Hauses und vergaß ihn dort offenbar. Erst über ein halbes Jahrhunderts später kam er wieder als Licht, als nach seinem Tod 2002 Gadamers wissenschaftlicher Nachlaß dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergeben wurde. Jetzt hat Ulrich von Bülow, der jenen feucht gewordenen „Leipziger Karton“ neben ausgedienten Elektrogeräten aus einem vergessenen Regal zog, die darin entdeckten Dokumente erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt – und eröffnete damit einen neuen Blick auf ein zentrales Kapitel deutscher Geistesgeschichte. Die Veranstaltungsreihe, in der von Bülow seine Funde jetzt in Marbach präsentierte, heißt „Zeitkapseln“ – nach jenen „Time Capsules“ genannten Pappschachteln, in denen Andy Warhol Papiere und Souvenirs für die Nachwelt sammelte. Treffender könnte ein Titel kaum sein, denn was jetzt vorgelegt wurde, wirkte tatsächlich wie die Flaschenpost aus einer anderen Epoche. Gadamer, der sich 1929 bei Martin Heidegger in Marburg habilitierte, schloß dort Freundschaft mit einer Handvoll fast gleichaltriger Forscher, die sich in einem so ungebrochenem Maße den Traditionen des deutschen Denkens und Dichtens verpflichtet fühlten, wie es heute kaum mehr vorstellbar ist. Karl Löwith und Gerhard Krüger, beide ebenfalls Heidegger-Schüler, gehörten diesem Freundeskreis ebenso an wie der Romanist Werner Krauss, der Philosoph Leo Strauss und der ehemalige Stefan-George-Anhänger Max Kommerell. Gemeinsam betrachteten sie sich Anfang der dreißiger Jahre als eine Generation im Aufbruch: „Sie fühlen offenbar wie ich“, schreibt Kommerell 1932 an Gadamer, „daß die alten Leute sehr alt werden und wir Jungen uns der Gleichstrebenden erinnern müssen.“ Doch schon kurz darauf, nach Hitlers Machtübernahme, bricht die Generationsgemeinschaft auseinander, die Juden Löwith und Strauss müssen emigrieren, und für die übrigen, die in Deutschland bleiben, beginnt eine Zeit der politischen Gewissensnöte. Gadamer zum Beispiel bekommt Gelegenheit, vorübergehend eine Professur in Kiel zu übernehmen – allerdings in Vertretung eines befreundeten jüdischen Professors, der nicht mehr lehren darf. Leicht dürfte es Gadamer nicht gefallen sein, in dieser, wie sein Biograph Jean Grondin schreibt, „delikaten Situation“ in die Position nachzurücken, doch mir Rücksicht auf seine weitere Karriere tat er es dennoch. An den hitlerfeindlichen Überzeugungen Gadamers und seiner Freunde kann nach den im „Leipziger Karton“ gefundenen Korrespondenzen kaum noch ein Zweifel mehr sein. Zwar läßt Kommerell am 27. März 1933 kurz nach dem „Tag von Potsdam“, an dem die Nazis ihre angebliche Verbundenheit mit preußischen Traditionen demonstrierten, noch gewisse Sympathien für das Dritte Reich erkennen. Doch schon ein Jahr später, als Hitlers Vizekanzler Franz von Papen in einer Rede an der Marburger Universität die Politik der Gleichschaltung und den Terror kritisiert, zeigt sich Gerhard Krüger von diesem, wie er schreibt, „welthistorischen Ereignis“ brieflich begeistert – und kann beim Briefempfänger Gadamer offenkundig gleiche Begeisterung voraussetzen. Anrührend ist es zu sehen, mit welcher Intensität sich Gadamer darum bemüht hat, die Beziehungen zu den ins Exil gezwungenen Freunden am Leben zu erhalten. Er besucht Leo Strauss in Paris und pflegt engen Briefkontakt mit Löwith, dem er 1926 die Patenschaft für seine Tochter Jutta angetragen hatte. 1935 bietet ihm Löwith von Rom aus an, diese Verbindung zu lösen, da er die entsprechenden Aufgaben „in der immer sinnloser und schiefer werdenden Lage eines im Ausland lebenden, dazu „nichtarischen“ Patenonkels“ ohnehin nicht erfüllen könne. Noch heute ehrt es Gadamer, wie er – im nationalsozialistischen Deutschland lebend – sich energisch bei Löwith dafür einsetzt, die Patenschaft nicht zu beenden, und so an der Freundschaft zu einem jüdischen, offen regimefeindlichen Intellektuellen im Ausland festhält. Auch für das Unverständnis, ja das Entsetzen, das Martin Heidegger unter seinen Marburger Schülern ausgelöste, als er sich 1933 zum Nationalsozialismus bekannte, finden sich in dem „Leipziger Karton“ neue Belege. Obwohl es für den im akademischen Betrieb noch keineswegs etablierten Gadamer beruflich höchst vorteilhaft gewesen wäre, reagierte er 1933 mit keinem Wort, als ihm Heidegger seine berüchtigte hitlerfreundliche Freiburger Rektoratsrede zusandte. Mehrere Jahre lang mied er jeden brieflichen Kontakt. Erst als ihm Kommerell 1936 berichtete, neue Vorträge Heideggers ließen erkennen, daß dieser seinen „Griff nach der Macht“ – der von Kommerell ganz selbstverständlich als „Krise“ bezeichnet wird – hinter sich gelassen habe, kommt es zu einer Wiederannäherung. Noch sind die Schätze, die der „Leipziger Karton“ enthielt, keineswegs vollständig erforscht. Sie verändern das Bild der Geistesgeschichte jener Zeit nicht grundlegend, aber sie verdeutlichen und konturieren es in beeindruckendem Maße. Und sie zeigen, wie in einer den finstersten Phasen deutscher Geschichte eine kleine, unbeirrbare Gruppe von Gelehrten rang um den Fortbestand der besten Seiten deutscher Kultur.