„Deutsche Familien“

Warum es so schwierig ist, Dynastien zu gründen. Ein Sammelband

Dies ist ein kluges Buch, das von falschen Voraussetzungen ausgeht und zu richtigen Resultaten kommt. Die Familie, behauptet Volker Reinhardt, werde heute als der maßgebliche Faktor betrachtet, der über das Leben, das Schicksal, die Karriere eines Menschen entscheide: „Der Glaube der siebziger Jahre, daß Erziehung und Milieu den Menschen ausmachen, ist tot – es lebe das Gen. Daß der Einzelne das, was er ist, in hohem Maße seinen Eltern verdankt bzw. vorzuwerfen hat, diese Überzeugung prägt den Zeitgeist des frühen 21. Jahrhunderts wie kaum eine andere.“ Es lägen also, schlußfolgert Reinhardt, hervorragende Ausgangsbedingungen dafür vor, Dynastien zu bilden – wie die zweite Präsidentschaft der Familie Bush in Amerika oder das Comeback des Hauses Sachsen-Coburg-Gotha in Bulgarien belegten. Und um die Bedingungen, Konsequenzen und Probleme des dynastischen Lebensverständnisses zu veranschaulichen, hat er einen Band zusammengestellt, in dem Aufstieg und Fall wichtiger deutscher Familien von kundigen Historikern nachgezeichnet wird: Das Buch umfaßt zwölf Porträts unter anderem der Familien Hohenzollern und Wittelsbach, Thyssen und Krupp, Mommsen und Warburg, Mann und Wagner. Falsch scheint an diesen Überlegungen zu sein, daß von dem nachweislich hohen Einfluß der Eltern auf Anlagen und Bildung eines Kindes ohne Umschweife auf eine fortdauernd hohe Bedeutung von generationsübergreifenden Dynastien geschlossen wird. Nachdem das Schicksal Europas über Jahrhunderte hinweg in den Händen weniger Adelshäuser gelegen hatte, wurden diese nach den diversen bürgerlichen Revolutionen durch Leistungseliten abgelöst. Natürlich können unter diesen radikal veränderten gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen dennoch Dynastien entstehen – eben als Leistungsdynastien. Doch erweisen sich diese nüchtern betrachtet als so zerbrechlich und durch die Konkurrenz anderer Leistungsträger gefährdet, daß es wenig sinnvoll erscheint, sie als Dynastien zu bezeichnen. Wie klug das Buch dennoch ist, zeigt sich daran, daß es die falschen Voraussetzungen, von denen es ausgeht, selbst gründlich widerlegt. Werner Plumpe und Jörg Lesczenski führen am Beispiel der Familie Thyssen vor, wie fragil das Fundament geworden ist, auf dem Dynastien heute ruhen. Schon der Familienverbund gehört mittlerweile, das belegen die rasch steigende Zahlen der Scheidungen und Single-Haushalte, zu den wenig verläßlichen Lebensformen. Zudem führen wachsende Individualisierung, lange Ausbildungszeiten und der beschleunigte soziale Wandel zu immer brisanterem Konfliktstoff zwischen den Generationen. Wer heute eine Dynastie begründen möchte, kann sich keineswegs sicher sein, daß die Kinder dabei mitspielen. Wie das Beispiel Thyssen demonstriert, ist der Aufbau eines mächtigen Familienunternehmens bereits so zeitraubend, daß die Familie ihren Patriarchen kaum noch zu sehen bekommt – und der weitgehend vaterlos aufgewachsene Nachwuchs später verständlicherweise nur wenig Lust verspürt, ihm zuliebe in seine Fußstapfen zu treten. Einfluß und Ehrgeiz der Eltern muß sich heute zwangsläufig darauf beschränken, den Kindern eine möglichst gute Ausbildung zu verschaffen. Sie darüber hinaus auf gewisse Familientraditionen festlegen zu wollen, ist kaum erfolgversprechend. Doch selbst falls das gelingt, zwingt die rasche Folge gesellschaftlicher Umbrüche jede Generation dazu, für sich neu anzufangen. Nehmen wir als Beispiel die Politikerfamilie von Weizsäcker: Wenn der Großvater Karl Hugo Ministerpräsident des Königreiches Württemberg war, der Vater Ernst Staatssekretär unter Hitler wurde, Richard von Weizsäcker als CDU-Mitglied zum Bundespräsidenten avancierte und sein Neffe Ulrich heute als SPD-Abgeordneter im Bundestag sitzt – kann man das eine Dynastie nennen? Wäre es nicht angemessener, statt dessen von einer sehr leistungsbewußten und -bereiten Familie mit ausgeprägten politischen Leidenschaften zu sprechen? Und daß in einem Elternhaus, in dem starker Leistungswille vorgelebt wird, nicht selten auch leistungswilliger Nachkommen heranwachsen, ist nicht so überraschend.

Volker Reinhardt (Hg.): „Deutsche Familien“ C. H. Beck, München 2005 384 Seiten, 24,90 €

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Keiner darf gemeint sein

 Der Bundesgerichtshof verbietet Maxim Billers Roman „Esra“. Der Autor habe seine Figuren nicht genug verfremdet

Für Thomas Mann war die Sache klar, er zögerte nicht. Als vor hundert Jahren einem Schriftsteller der Prozeß gemacht wurde, weil der in einem Roman seine Verwandtschaft abfällig porträtiert hatte, solidarisierte er sich entschieden mit dem Kollegen. Er hielt ihn für einen miesen Schmieranten und sagte das auch, doch hinderte ihn das nicht, auf Gemeinsamkeiten zu verweisen: In jedem Skandalprozeß, darauf bestand Mann, gehöre sein Roman „Buddenbrooks“ unbedingt mit „zur Sache“, denn auch er habe darin die „Figuren zum Teil nach lebenden Personen gebildet“, habe „ein paar Lübecker Bürgertypen behaglich abkonterfeit“. Mann sah darin kein Vergehen, sondern eine unvermeidliche Arbeitsvoraussetzung der Literatur. Wollte man, schrieb er, „alle Bücher, in denen ein Dichter lebende Personen seiner Bekanntschaft porträtiert hat“, aufhäufen, „so müßte man ganze Bibliotheken von Werken der Weltliteratur versammeln, darunter die allerunsterblichsten“. Die Phantasie eines Autors entzünde sich, das hielt Thomas Mann für selbstverständlich, an der Realität, er verwende noch „ihr letztes Merkmal begierig und folgsam für sein Werk“. Aber dennoch müsse jeder Leser zwingend unterscheiden zwischen den Fakten der Wirklichkeit und der Fiktion eines Romans. Am Fall des Romans „Esra“ von Maxim Biller, der nun vom Bundesgerichtshof verboten wurde, weil seine Ex-Freundin und ihre Mutter sich darin wiedererkannten und deshalb in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt sahen, fällt zunächst einmal auf: Die Schriftsteller unserer Zeit haben Biller jene Solidarität, die Mann seinem längst vergessenen Kollegen gewährte, fast ausnahmslos verweigert. Ein Sturmlauf gegen das Verfahren fand nicht statt. Vielleicht werden sich jetzt, nachdem das Kind im Brunnen ist – wie seinerzeit nach der Rechtschreibreform – noch kritische Stimmen erheben. Doch die kommen spät, sehr spät. Dabei wäre die Sache ein wenig Engagement von seiten der Autoren wert gewesen. Denn natürlich zielt jede Literatur, die von der Gegenwart und den gesellschaftlichen Zuständen im Hier und Jetzt berichten, letztlich darauf, bestimmte Menschen oder Milieus für die Leser erkennbar zu machen. Und natürlich geht sie dabei immer das Risiko ein, Personen zu verärgern, die zu Recht oder zu Unrecht der Meinung sind, in einem Roman porträtiert worden zu sein. Je stärker also die Justiz den Persönlichkeitsschutz betont, desto enger werden die Grenzen der Literaturfreiheit und desto geringer die Möglichkeiten der Autoren, unchiffriert über ihre Zeit zu schreiben. Das sollte sie kümmern. Wie wenig Rücksicht die Gerichte dabei auf die individuelle Schreibweise eines Buches nehmen, zeigt sich am Roman „Meere“ von Alban Nicolai Herbst. Wie bei Billers „Esra“ gingen auch hier Erinnerungen des Autors an eine gescheiterte Liebesgeschichte in die Handlung ein. Doch obwohl Herbst das autobiographische Material in seinem Buch weitaus stärker verfremdete als Biller, obwohl hier die Schauplätze und Charaktere viel vager gezeichnet sind, wurde auch dieses Buch nach dem Einspruch einer Ex-Freundin des Autors 2004 verboten. Doch nicht nur wenn es um Details von Liebesaffären geht, also die Intimsphäre der Kläger gefährdet erscheint, sind Richter heute zu Beschränkungen der Literaturfreiheit schnell bereit. Reinhard Liebermanns Roman „Das Ende des Kanzlers – Der finale Rettungsschuß“ beschreibt einen Ladenbesitzer, der die Politiker in unserem Land dafür verantwortlich macht, daß seine Geschäfte schlechtgehen, und der deshalb ein Attentat auf den Kanzler plant. Das Buch erschien 2004, Gerhard Schröder nahm Anstoß, und das Hamburger Oberlandesgericht zog es sofort aus dem Verkehr. So schmal also sind die Spielräume der Literatur mittlerweile geworden. Wohlgemerkt: In keinem dieser Bücher wurden die Namen derjenigen Personen genannt, die sich in ihnen wiederzuerkennen glauben, in jedem waren weite Teile der Handlung auch nach dem Eingeständnis der jeweiligen Kläger frei erfunden und jedes war ausdrücklich als Roman gekennzeichnet, also als Fiktion. Dennoch gaben die Gerichte in allen Fällen dem grundgesetzlich garantierten Schutz der Persönlichkeit der Vorzug von der ebenso grundgesetzlich garantierten Freiheit der Literatur. Aber was bleibt unter solchen Umständen von der Literaturfreiheit übrig? Die Freiheit, jedes Buch zu drucken, das so sehr von konkreten Gegebenheiten absieht, daß sich ja kein Kläger gemeint fühlen kann? Und wollen wir das: eine Literatur, von der sich niemand gemeint fühlt? Kann es sein, daß wir mittlerweile so abhängig geworden sind von unserem Bild in Medien, daß wir es von unserem Leben, von der Realität, nicht mehr unterscheiden können? Und daß wir verlernt haben, zu trennen zwischen Medien wie den Fernsehnachrichten, die behaupten, Fakten darzustellen, und Romanen, die für sich in Anspruch nehmen, das schöne Spiel mit Fiktionen zu betreiben? Die Bürger Lübecks, die sich in den „Buddenbrooks“ zu entdecken glaubten, hatten die Souveränität, Thomas Mann nicht zu verklagen. Sie waren sich ihrer Persönlichkeit so sicher, daß sie die Differenz zwischen sich selbst und einer Romanfigur noch wahrnahmen. Eine Fähigkeit, die inzwischen – unter Mithilfe der Gerichte – mehr und mehr verlorenzugehen scheint.

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Literatur vor Gericht

Ein Prozeß und seine Folgen: Der Bundesgerichtshof nimmt sich jetzt der Cause „Esra“ an und verhandelt Maxim Billers Roman

Von kommender Woche an widmet sich der Bundesgerichtshof dem Roman „Esra“ von Maxim Biller. Seit 2003 stand er viermal vor Gericht, in zwei einstweiligen und zwei sogenannten Hauptsacheverfahren. Nur einmal wurde für seine Freigabe entschieden, drei Mal wurde er verboten. Mit der Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof ist das Ende des Instanzenwegs erreicht. Wird nicht noch das Bundesverfassungsgericht angerufen, ist dies die letzte Chance für das Buch. „Esra“ handelt von der aussichtslosen Liebe eines egozentrischen Schriftstellers und einer jungen Frau aus deutsch-türkischer Familie, die mit einer herrschsüchtigen Mutter und einer schwerkranken Tochter doppelt geschlagen ist. Es ist ein guter, ein intensiver Roman, der niemanden schont: Die Liebenden, die diktatorische Mutter, das kranke Kind, sie alle zeigen sich von ihren schwächsten Seiten, sind aggressiv, wehleidig, erpresserisch – und doch spürt man als Leser den Schmerz, wenn das Paar sich endgültig trennt. Wer je über Literatur nachgedacht hat, wird nicht überrascht sein zu hören, daß Biller in das Buch eigenes Liebesleid einfließen ließ. Doch eben daran entzündete sich der Prozeß gegen „Esra“. Zwei Klägerinnen – eine Frau, die mit Biller befreundet war, und deren Mutter – glauben sich in Figuren des Romans wiederzuerkennen und fühlen sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. Damit sind die Gerichte gezwungen, zwischen zwei grundgesetzlich garantierten Rechten abzuwägen: der Freiheit der Literatur und dem Schutz der Intimsphäre. Das kommende Urteil ist nicht zuletzt deshalb von entscheidender Bedeutung für die Literatur, weil jeder Schriftsteller beim Schreiben bewußt oder unbewußt auf eigene Erfahrungen zurückgreift. Wollte man ihm das verbieten, oder es mit Rücksicht auf andere Menschen, die Teil seiner Erfahrungen sind, reglementieren, entzieht man der Literatur letztlich die Geschäftsgrundlage. Klare Sache Für die Richter, die sich bislang mit „Esra“ beschäftigten, war der Fall keine einfache, aber letztlich eine klare Sache. Die Geliebte des Schriftstellers hat, heißt es in dem Roman, als Schauspielerin einen Filmpreis erhalten, ihre Mutter einen alternativen Nobelpreis. Beides trifft auch auf die Klägerinnen zu, also seien sie, so meinten die Gerichte, für Leser zu identifizieren, auch wenn sie in dem Buch andere Namen tragen als in der Realität. Da der Roman zudem das Liebespaar beim Sex beschreibt und die Erkrankung des Kindes erwähne, verletze er die Intimsphäre der Klägerinnen – und müsse aus dem Verkehr gezogen werden. Biller und sein Verlag boten an, die beanstandeten Sätze aus dem Buch zu entfernen. Daraufhin wurde es in einem der einstweiligen Verfahren freigegeben – aber danach doch wieder verboten. Denn nach dem Wirbel, den die Prozesse gegen „Esra“ verursacht hätten, sei, so hieß es im Urteil, inzwischen auch ohne die Erwähnung jener Preise für jeden Leser klar, wer als Vorlage für die Romanfiguren hergehalten habe. Die Richter schufen so eine Art Klage-Verbots-Automatismus: Wer gegen ein Buch prozessiert, sorgt damit zugleich für einen wesentlichen Grund, es aus dem Verkehr zu ziehen. Aus literarischer Perspektive betrachtet, sieht die Sache gründlich anders aus. Trägt ein Buch den Untertitel Roman, gibt es sich als Fiktion zu erkennen und muß auch so verstanden werden. Es beruft sich, anders als Biographien oder Reportagen, nicht auf Fakten, sondern auf die Fantasie seines Autors. Selbst wenn bestimmte Erlebnisse realer Menschen jenen Erlebnissen gleichen, mit denen sich die Helden eines Romans herumschlagen – und manche Leser deshalb von einem Schlüsselroman sprechen – ist es falsch, ihn als Tatsachenbericht zu lesen. Das Erzählte bleibt fiktiv. Natürlich umfaßt Billers „Esra“ auch weite Teile, von denen nie jemand behauptet hat, sie entsprächen irgendwelchen tatsächlichen Geschehnissen und die deshalb als freie Erfindungen des Autors gelten dürfen. Dennoch reichten den Gerichten bislang einige klar benennbare Parallelen zwischen Romanfiguren und Klägerinnen, um das Buch insgesamt zu verbieten. Damit wird die Reichweite des zu erwartenden Urteils sichtbar. Sollte es das Verbot des Buches bestätigen, verlangt es von den Schriftstellern, ihre persönlichsten Erfahrungen künftig nur in zuverlässig chiffrierter Form in ihre Arbeit einfließen zu lassen, damit niemand sich gemeint fühlen und Anstoß nehmen kann. Daß der Literatur damit unsinnige Grenzen gezogen würden, ist kaum zu übersehen. Schließlich geht es in der Literatur nicht zuletzt darum, Menschen oder Milieus erkennbar zu machen und eben auch Anstoß zu erregen. Von Goethes „Werther“ über Thomas Manns „Buddenbrooks“ und „Zauberberg“ bis hin zu Max Frischs „Montauk“ hätten nach der Kriterien, an denen „Esra“ gemessen wird, einige der wichtigsten Romane unserer Literatur vor Gericht keine guten Karten. Die lieben Kollegen Wer allerdings glaubt, der Literaturbetrieb würde auf das Verfahren gegen Billers Roman mit einem einhelligen Aufschrei des Protestes reagieren, irrt sich. Und dafür gibt es Gründe: Zum einen sind die meisten Schriftsteller offenbar tief davon überzeugt, daß ihre Romane besser, klüger, geschickter gebaut sind als der Billers, und daß sie deshalb Klagen wie die gegen „Esra“ nicht zu fürchten haben. Doch da Justitia blind ist – auch gegenüber literarischen Qualitäten – kann sich das rasch als riskante Hoffnung erweisen. Zum anderen ist Biller ein Virtuose in der Kunst, anderen vor den Kopf zu stoßen. Es gibt eine Menge Leute in der Branche, die sich eher die Zunge abbeißen, als ein gutes Wort für ihn einlegen würden. Tatsächlich plädierten auffällig viele Literaturkritiker öffentlich für strikte Wahrung der Intimsphäre und gegen „Esra“. Natürlich haben sie dabei angesichts der täglichen frenetischen Selbstentblößungen in Talk- und sonstigen Reality-Shows eine Menge Argumente auf ihrer Seite. Bemerkenswert ist aber dennoch, daß Kritiker, die es sonst weit von sich weisen würden, Romane als Tatsachenberichte zu betrachten, plötzlich keinen Unterschied zwischen Fiktion und Realität mehr kennen. Seltsam. Von „Mephisto“ zu „Esra“ Ein wichtiger Präzendensfall, auf den sich der Bundesgerichtshof im Verfahren gegen „Esra“ beziehen wird, ist der Prozeß gegen Klaus Manns Buch „Mephisto“. Auch er galt als Schlüsselroman und wurde 1964 verboten. Damals formulierten die Richter, worauf juristisch zu achten ist, wenn sich jemand in einem Roman wiederzuerkennen glaubt: Es sei zu fragen, „ob und in wie weit das ‚Abbild’ gegenüber dem ‚Urbild’ durch die künstlerische Gestaltung des Stoffes und seine Ein- und Unterordnung in dem Gesamtorganismus des Kunstwerks so verselbständigt erscheint, daß das Individuelle, das Persönlich-Intime, zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der ‚Figur’, objektiviert ist“. Die Definition klingt einleuchtend, beruht aber deutlich auf einem klassischen, vormodernen Literaturverständnisses. Viele wichtige Schriftsteller der Gegenwart – man mag zu ihren Büchern stehen wie man will – haben nichts mehr im Sinn mit der Idee, ein Kunstwerk als Organismus zu betrachten, der das Individuelle, Persönliche ins Allgemeine, Zeichenhafte hebt. Von Christa Wolf bis Peter Handke geht es ihnen nicht um Objektivierung, sondern, im Gegenteil, um Subjektivität und Authentizität. Daß Biller auf Ähnliches zielt, liegt auf der Hand. Kurz, die Kriterien, an denen die Richter „Mephisto“ maßen, waren schon Klaus Manns Roman nicht recht angemessen. Heute, vierzig Jahre später, sind sie veraltet. Mithin steht dem Bundesgerichtshof im Fall „Esra“ eine Revision seines Verhältnisses zur modernen Literatur bevor. Oder unserer Literatur steht eine empfindliche Beschneidung ihrer Freiheiten ins Haus. Kinder, Kinder Die Sache hat allerdings einen üblen Nebenaspekt. Das Kind einer der Klägerinnen habe, so behauptet diese, erst durch den Roman erfahren, daß seine Erkrankung lebensbedrohlich ist – was die Familie vor ihm zu verheimlichen suchte. Das ist naturgemäß nicht leicht zu beweisen. Sollte es aber zutreffen, wäre sicher die Grenze dessen überschritten, was sich ein Schriftsteller leisten kann. Denn von Kindern darf man, anders als von Erwachsenen, eben nicht erwarten, daß sie zwischen Roman und Realität, zwischen Fiktion und Tatsache trennscharf zu unterscheiden verstehen. Wenn sie sich in einer Geschichte neben Mutter und Großmutter wiedererkennen, haben sie wenig Chancen, sich nicht gemeint zu fühlen. Ein Autor, der leichtfertig oder gezielt mit dem Vertrauen eines Kindes zu seiner Familie spielt, wäre von haarsträubender Grausamkeit

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Hier liest der Chef

Marcel Reich-Ranicki feiert seinen 85. Geburtstag
Vor langer Zeit, in einer fernen, fernen Vergangenheit, war es für die Menschen kein ungewöhnlicher Gedanke, Mühsal und Plackerei des Lebens nur deshalb auf sich zu nehmen, um sich an Kunst und Literatur zu erfreuen. Der Genuß der Schönheit war Ziel und Zweck des Daseins, alles andere nur fade Voraussetzung. Heute, wo unser Leben weit weniger mühselig und beladen ist als ehedem, werden Kunst und Literatur gewöhnlich als bloße Dekoration betrachtet, als schmucke Zutat, die man sich leistet, wenn gerade mal Zeit ist und sie nicht zu teuer wird. Über Ziel und Zweck des Daseins rätselt man derweil vergeblich. Marcel Reich-Ranicki ist spätestens seit seiner Fernsehtriumphe für viele Menschen zu einer leibhaftigen Erinnerung daran geworden, daß Literatur mehr sein kann als Zeitvertreib. Zu einer Erinnerung daran, daß man ihr das Leben widmen kann – und im Gegenzug von ihr reich beschenkt, mitunter beglückt, vielleicht sogar gerettet wird. Reich-Ranickis Karriere, die ihn aus der Hölle des Warschauer Gettos in die Höhen moderner Medienprominenz geführt hat, ist nicht allein durch seine literarische Kompetenz und sein unbezweifelbares Show-Talent erklärbar. Man spürt bei ihm außerdem noch, daß er so etwas wie einen Pakt mit der Literatur geschlossen hat, der ein gutes Stück über das hinausgeht, was Kritiker üblicherweise mit ihrem Metier verbindet. Mit seiner Autobiographie „Mein Leben“ hat Reich-Ranicki die Deutung seines Lebens umsichtig in eigene Hände genommen. Er beschreibt darin, wie er ab 1933 mit noch nicht 13 Jahren als Jude in Berlin vor den Schikanen und Nachstellungen der Nazis Zuflucht nahm in der Literatur. Er las und las mit solcher Ausschließlichkeit, daß ihn sogar Lehrer glaubten warnen zu müssen, darüber das Leben nicht aus den Augen zu verlieren. Rückblickend hat sich Reich-Ranicki selbst die Diagnose gestellt: „Von einer feindlichen, bestenfalls frostigen Welt umgeben, sehnte ich mich nach einer Gegenwelt.“ Er fand sie in der deutschen Literatur. Liest man die Autobiographie genau, läßt Reich-Ranicki aber auch erkennen, daß er nach seiner Schulzeit kaum noch Gelegenheit hatte für irgendeine Lektüre. Im Warschauer Getto war er ganz und gar mit dem Überleben beschäftigt und in den Nachkriegsjahren konzentrierte er sich als Diplomat und Geheimdienstoffizier fast nur auf die Politik. Erst als er 1950, mit knapp dreißig Jahren, in Ungnade fiel und aus der kommunistischen Partei Polens ausgeschlossen wurde, erinnerte er sich der Literatur. Man darf sich die Bedrohung, der Reich-Ranicki in jenen Jahren ausgesetzt war, nicht zu gering vorstellen. Der moskauhörige Parteichef Boleslaw Bierut überzog das Land mit stalinistischem Terror, durch den nach heutigen Schätzungen rund 115 000 Polen umkamen. Reich-Ranicki hatte seinen Beruf verloren, auf der Straße vermieden es Bekannte, ihn auch nur zu grüßen, denn jeder Kontakt mit angeblichen Oppositionellen konnte lebensgefährlich sein. Seine Frau Tosia Reich-Ranicki, die mit ihm gerade sechs Jahre zuvor das Warschauer Getto überlebt hatte, versetzte diese gespenstisch wiederkehrende Verfolgung in eine so übermächtige Angst, daß sie jedes seelische Gleichgewicht verlor. Ein dramatischer Nervenzusammenbruch brachte sie für Wochen ins Krankenhaus und danach für Jahre und Jahrzehnte in medizinischer Behandlung. In dieser Situation erneuerte Reich-Ranicki seinen Pakt mit der deutschen Literatur. Wie schon 17 Jahre zuvor als Berliner Gymnasiast machte er angesichts der „feindlichen, bestenfalls frostigen Welt“, die ihn umgab, die Bücher zu seinem Zufluchtsort, an dem er die Augen vor der Realität zwar nicht verschloß, an dem sie aber ihre Macht über ihn verlor. Der Willkür der Tagespolitik ausgeliefert, suchte er Halt bei den überzeitlichen Werten des Geistes. Die Literatur wurde damit für ihn zur Gegenwelt von unvergleichlicher Bedeutung – und da er sich entschloß, sich ihr beruflich mit Haut und Haar zu verschreiben, wuchs auch ihm im eigenen Weltbild ein Rang zu, der weit über die Wechselfälle des Alltäglichen hinausgeht. Doch im Grunde war Reich-Ranickis Entscheidung abenteuerlich, denn von den fünf, sechs Schülerjahren abgesehen, in denen er intensiv gelesen hatte, besaß er keine Vorbildung, und für deutsche Kultur interessierte sich in Polen knapp fünf Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kein Mensch. Wenn er dennoch beschloß, alles auf eine Karte zu setzen, auf die Literatur, dann läßt das ahnen, wie groß die Krise gewesen sein muß, in der er damals geriet und wie verzweifelt die Suche nach einem Ausweg war aus jener Angst, der seine Frau nicht hatte entkommen können. Jene Erfahrung dürfte zu der psychischen Energie, die ihn bis heute treibt, beigetragen haben. Sie ist selbst via Bildschirm zu spüren in seiner Besessenheit, in der Schärfe seines Urteils: Literatur ist für ihn eine zu wichtige, eine existentiell zu entscheidende Angelegenheit, als daß Kompromisse möglich wären. Schon deshalb warf das „Literarische Quartett“, wirft Reich-Ranicki inmitten der flüchtigen, fröhlichen Fernsehbilder einen eigentümlichen Schatten. Man merkt, auch wenn er eine Pointe an die andere reiht, hier meint es einer ganz und gar ernst mit seinem Thema, hier lebt einer aus der Literatur, mit ihr und für sie. Zugegeben, Essen und Lesen sind sich so ähnlich wie Äpfel und Birnen. Dennoch möchte ich den Vergleich riskieren: So wie Jamie Olivier mit seiner Koch-Fernsehshow gutes Essen in England (!) in den Köpfen der Kids zu einer coolen Sache gemacht und sie auf die Idee gebracht hat, statt Hamburger auch mal Boeuf Stroganoff in Erwägung zu ziehen – so hat Reich-Ranicki einer Menge Leute hierzulande ins Gedächtnis gerufen, daß gute Bücher eine helle Freude sein können, wenn man sie denn tatsächlich aufschlägt und liest. In England liegen die Ernährungswissenschaftler Jamie Olivier zu Füßen, denn was immer er kocht, es ist allemal besser als das Fast-Food, mit dem sich sein Publikum ohne seine Sendung vollstopfte. Manche Literaturkenner in Deutschland dagegen rechnen Reich-Ranicki gern penibel vor, wo er in seine Interpretation Heinrich Manns möglicherweise übers Ziel hinausgeschossen oder wann er dem Werk Robert Musil nicht gerecht geworden ist. Seltsam. Aber im Grunde sind alle Spielchen zwischen Reich-Ranicki und seinen Gegnern längst gespielt, alle Schlachten geschlagen, und das Publikum hat sich entschieden. Die Feiern, die zu Reich-Ranickis 85. Geburtstag in der kommenden Woche angesetzt wurden, sprechen eine deutliche Sprache. Und alles in allem könnte die Lage für ihn kaum komfortabler sein: Im Literaturbetrieb genießt er nach wie vor die Umstrittenheit, die einem Kritiker wohlansteht und die gewöhnlichen Leser begegnen ihm mit einer Verehrung, ja einer Zuneigung, um die er heimlich wohl immer gerungen hat.

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Jede nackte Frau mit Apfel

Ein Gespräch mit Kurt Flasch über unsere mythischen Urahnen, den Wandel der Interpretationen und das Paradies sowie die Ordnung unserer Lebensverhältnisse
Der Philosoph Kurt Flasch beschreibt in seinem Buch „Eva und Adam“, wie sich innerhalb der vergangenen 2000 Jahren das Verständnis der biblischen Erzählung über die zwei ersten Menschen und ihre Vertreibung aus dem Paradies wandelte. Diese Geschichte provozierte, wie kein anderer Text, Deutungen, in denen sich die Entwicklungsgeschichte des abendländischen Selbstverständnisses spiegelt. Mit Kurt Flasch sprach Uwe Wittstock Uwe Wittstock: Die Geschichte von Eva und Adam erzählt aus christlicher Sicht von den Ursprüngen der Menschheit. Darf man sie den mächtigsten Mythos des Abendlandes nennen? Kurt Flasch: Ich denke schon. Mehr noch: Es gibt nicht nur bei Christen, sondern auch im Judentum und im Islam ein enormes Interesse für diese fast 3000 Jahre alte Erzählung. Ich vermute, es gibt keinen anderen Stoff in der Weltgeschichte, der so oft ausgelegt, umgeformt, weitergeführt, dargestellt worden ist, wie die ersten drei Kapitel der biblischen „Genesis“. Warum hat man sich in Europa gerade mit dieser Geschichte so unermüdlich beschäftigt? Flasch: Genau genommen sind es zwei – widersprüchliche – Geschichten, die in der Bibel von Eva und Adam erzählen. In diesen Geschichten werden die wichtigsten Themen des Lebens behandelt: Das Verhältnis zwischen Frau und Mann, das Verhältnis der Menschen zu Gott, die Frage, wie das Böse in die Welt kommt, die Frage, nach dem Grund für den Tod, nach dem Grund für Mühsal, Arbeit, Schmerz. All diese Fragen beantworten die Erzählungen auf ihre Weise. Sie berichten von den Ursprüngen des Lebens, und für viele Denker lag es nahe, den Rätseln des Lebens bei dessen Anfängen auf die Spur kommen zu wollen. Deshalb haben sie immer neu darüber nachgedacht, wie das alles zu verstehen ist, was uns von Eva und Adam berichtet wird. Wie hat dieser Mythos das Bewußtsein Europas geprägt? Flasch: Ich spreche nicht gern von Mythos, das ist ein schwieriger Begriff. Bleiben wir lieber bei Erzählung. Die Erzählung von Eva und Adam lieferte zum Beispiel hervorragende Argumente dafür, daß die Frau dem Mann untergeordnet, daß sie juristisch benachteiligt wurde. Weil sich Eva gegen Gottes Gebot von der Schlange zum Biß in den Apfel verführen ließ, galten alle Frauen als unvernünftig und verführbar. Mit dieser Begründung wurden sie zum Beispiel oft von der Thronfolge ausgeschlossen, denn Könige hatten vernünftig und unverführbar zu sein. Doch nicht in jedem Fall wurde das, was aus dieser Geschichte herauszulesen war, so konsequent übernommen wie in diesem Punkt. Die meisten mittelalterlichen Kommentatoren waren zum Beispiel davon überzeugt, daß es im Paradies kein Privateigentum gab, für sie herrschte im Paradies Sozialismus. Wenn Gott aber in dem von ihm geschaffenen, vollkommenen Paradies kein Eigentum zuließ, mußten dann nicht gottesfürchtige Mensch auf Erden auch auf Eigentum verzichten? In Klöstern war Privateigentum verboten. Doch jenseits dieser Klöster endete die Macht dieser paradiesischen Vorstellung sehr rasch. Im Mittelalter wurden Eva und Adam oft auch als Patriarchen und Heilige betrachtet. Ging man damals mit ihrem Sündenfall gelassener um als später? War das Mittelalter mit Blick auf die Sünde, auf die Sexualität der Menschen also gelassener, als dies heute ins Klischee vom finsteren Mittelalter paßt? Flasch: Im Mittelalter gab es viele abweichende Ansichten. Manche betrachteten den Sündenfall von Eva und Adam ungefähr so, wie wir heute Details aus der Geschichte des englischen Königshauses sehen. Wir wissen, daß da einiges im Familienleben von Prinz Charles nicht ganz so ist, wie es sein sollte, aber man nimmt es nicht so wichtig. Schließlich war Adam der Mensch, der noch mit Gott persönlich gesprochen hat. Schon deshalb hielt man ihn für den Inbegriff von Wissen. Adam hat laut biblischer Überlieferung im Namen Gottes allen Tieren und Dingen den Namen gegeben, schon deshalb mußte er, glaubte man damals, buchstäblich alles gewußt haben. Je länger man mit aufgeklärtem Verstand über Eva und Adam nachdenkt, desto abstruser erscheint die Konstruktion ihrer Geschichte. Flasch: Ja, auch Luther sagt, die ganze Geschichte sei, mit der Vernunft betrachtet, lächerlich. Doch das sprach in seinen Augen gegen die Vernunft und für den Glauben. Auch in Märchen sprechen Bohnen oder regnen Taler vom Himmel. Natürlich glaubt niemand, daß so etwas tatsächlich geschehen könnte, dennoch lohnt sich auch heute noch die Beschäftigung mit Märchen. Schauen Sie, den Tod begreifen wir doch alle nicht, die Schmerzen, das Böse. Für all das will man eine Erklärung haben – und sucht sie in tiefsinnigen, alten Geschichten. Man will eine Erklärung dafür haben, weshalb so viel Schlechtes in einer Welt geschehen kann, über die angeblich ein guter, allmächtiger Gott wacht. Und für all das liefert die Geschichte von Eva und Adam eine Erklärung. Bis etwa 1800 herrschte bei Katholiken wie Protestanten die Vorschrift, diese Erzählungen buchstäblich zu nehmen. Dann war Adams Rippe wirklich eine Rippe. Aber es gab immer, auch im Mittelalters, Denker, die diese Geschichte – wie wir heute die Märchen – nicht unmittelbar buchstäblich verstanden, sondern sie bildlich, allegorisch. Und ihre Deutungen waren sehr scharfsinnig, man sollte sie nicht unterschätzen. Kant und Schiller haben dann versucht, die Vertreibung aus dem Paradies als einen glücklichen Fortschritt der Geschichte zu beschreiben, als den Moment, in dem der Mensch lernt sich seiner Vernunft zu bedienen. Seither findet sich der Mensch allerdings immer noch in einer unparadiesischen, unvernünftigen Welt wieder. Flasch: Durch den Gebrauch der Vernunft, also durch den medizinischen, technischen, sozialen Fortschritt, ist die Welt nicht zum Paradies geworden, aber doch um manches menschenfreundlicher als zuvor. Andererseits wurden seit der Aufklärung bestimmte Verhältnisse, die früher durch die Bibel gerechtfertig wurden, nun mit scheinbar vernünftigen Argumenten begründet. Hieß es einst, die Frau solle dem Mann Untertan sein, weil sie die Schuld an der Erbsünde trägt, so heißt es nun, die Frau solle im Haushalt bleiben, weil ihre Natur für das Private bestimmt sei. Das Abendland hat sich jetzt 2000 Jahre lang an dieser orientalischen Geschichte von Eva und Adam abgearbeitet. Was sind die Resultate dieser Arbeit am Mythos? Flasch: In dieser zweitausendjährigen Denkanstrengung wurde aus jenen schwierigen, widersprüchlichen Geschichten das menschliche Selbstverständnis quer durch die Jahrhunderte immer neu entwickelt. Und dieses sich wandelnde Selbstverständnis hatte jeweils Folgen für die soziale Struktur der jeweiligen Zeit, für die Auffassung vom Gemeinwesen und von Herrschaft, von Eigentum und Ehe, für die Rolle der Kirche. Alles, was wichtig war an Institutionen, an Lebensverhältnissen, wurde gespiegelt in den Auslegungen dieser Geschichten. Beginnt die Ausstrahlungskraft dieser Geschichten heute – nicht zuletzt wegen ihrer Frauenfeindlichkeit – zu schwinden? Flasch: Ihre Ausstrahlungskraft verschwindet nicht, die Geschichte ist inzwischen lediglich in die Werbung, ins Triviale abgesunken. Wenn Sie im Internet in einer Suchmaschine wie Google den Begriff „Eva“ eingeben, werden Sie an der gigantischen Zahl von Treffern sehen, welche enorme Wirksamkeit diese uralte Geschichte noch immer hat. Man kann bis heute keine nackte Frau mit Apfel abbilden, ohne daß sich in unseren Breiten die Idee einstellt, dieses Abbildung spiele auf Eva und Adam an. Die Geschichte sitzt tief im abendländischen Bewußtsein verankert. Aber sie hat heute jede Autorität verloren. Niemand käme noch auf die Idee, die Ordnung unserer Lebensverhältnisse von der Deutung dieser Geschichte ableiten zu wollen. Eva und Adam stehen inzwischen vielmehr dem freien Spiel der Phantasie zur Verfügung. Was ja auch etwas Schönes ist. Die Künstler können aus ihnen machen, was sie für richtig halten. Jeder kann für sich aus ihnen machen, was er will.

Kurt Flasch: „Eva und Adam“. Wandlungen eines Mythos C.H.Beck Verlag, München 2005 112 Seiten, 12,00 €

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„A Long Way Down“

Nick Hornby rettet vier Selbstmörder von Dach eines Hochhauses
Dies ist das lustigste Buch über Selbstmord seit langem. Zugegeben, im ersten Moment klingt das ein wenig leichfertig. Doch das täuscht. Denn der Engländer Nick Hornby, der es in den letzten zehn Jahren zu internationalem literarischen Starruhm gebracht hat, schreibt zwar Romane, die größten Wert darauf legen, ihre Leser gut zu unterhalten. Aber leichtfertig ist er nie. Sondern eher ein bodenständiger Moralist, der mit seinen Büchern hartnäckig die klassischen Fragen stellt: Wie führe ich mein Leben richtig? Wie handele ich verantwortungsvoll? How to be good? Er gehört nicht zu den Autoren, die ihren Lesern vor den Kopf stoßen, sondern zu denen, die ihnen sinnstiftend unter die Arme greifen möchte. Schon deshalb muß man nicht befürchten, Hornby käme in seinem neuen Roman „A Long Way Down“ auf die Idee, sich über Selbstmord-Kandidaten lustig zu machen. Vielmehr behandelt er sie wie gewöhnliche Menschen, die – wie alle anderen auch – ihre komischen Seiten haben oder in komische Situationen geraten. Bereits der Versuch, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, ist naturgemäß hoch pathetisch – und also bei unpassenden Zwischenfällen schnell in Gefahr in eine Komödie umzuschlagen. Martin zum Beispiel, ein abgehalfterter Fernsehmoderator, zieht sich am Sylvesterabend auf das Dach eines Londoner Hochhauses zurück, das sich bei Selbstmördern größerer Beliebtheit erfreut. Er hat durch einen Sex-Skandal sowohl seine Ehe wie seine Karriere ruiniert und nun nicht übel Lust, alle Probleme durch einen Schritt ins Leere zu lösen. Schon hat er sich an die Brüstung gesetzt und läßt die Beine ins Leere baumeln, als Maureen durch die Tür tritt, die mit gleichen Absichten auf das Dach kommt. Sie ist gut fünfzig und hat nur einmal im Leben mit einem Mann geschlafen, der sie danach verließ. Sie aber brachte einen behinderten Sohn zur Welt, dessen einzige erkennbare Regungen seine röchelnden Atemzüge sind und den sie nun seit Jahrzehnten tagein, tagaus zu pflegen hat. Wer könnte nicht verstehen, daß sie diese freudlose Existenz endgültig hinter sich lassen will? Ein Selbstmörder allein auf einem Hochhausdach ist erschütternd. Trifft er jedoch auf einen zweiten, von dem er sich gestört fühlt und mit dem er über die Reihenfolge der Sprünge diskutieren muß, bekommt die Szene allmählich eine erheiternde Schlagseite. Und während Maureen und Martin noch verhandeln, taucht Jess auf, eine wuterfüllte, gründlich verkorksten Achtzehnjährige, die Tochter eines Staatssekretärs aus der Regierung Tony Blair. Sie ist – wie meist – betrunken und bekifft, hat dazu noch Liebeskummer und gerade auf einer Party beschlossen, es sei eine prima Idee, den verkorksten Abend durch mit einem Sprung ins Nichts abzurunden. Schließlich keucht der Pizzabote JJ das Treppenhaus nach oben, ein alt gewordener, glückloser Rockmusiker, dessen Band auseinandergefallen ist, dessen Freundin ihn vor die Tür gesetzt hat und der ebenfalls das Jammertal des Daseins hinter sich lassen möchte. Wer will, kann dieses Zusammentreffen von vier Selbstmördern auf einem Hochhausdach in der selben Neujahrsnacht für einen allzu konstruierten Einfall halten. Doch damit täte man dem Roman unrecht. Hornby geht es lediglich um einen möglichst effektvollen Auftakt für seine Geschichte. Er hätte seine Helden auch weit weniger spektakulär in, sagen wir, dem Wartezimmer eines Psychologen oder in einer Selbsthilfegruppe für Suizidgefährdete zusammenführen können. Man sollte das Ganze als eine Art literarische Versuchsanordnung des Moralisten Hornby betrachten: Vier Verzweifelte haben jeden üblichen Halt verloren – welchen Grund könnte es für sie geben, hier und heute, also in einer westlichen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts dennoch am Leben festzuhalten? Die vier erzählen die Geschichte in kurzen Kapiteln jeweils reihum aus ihrer subjektiven Perspektive. Durch die Begegnung mit den anderen um die nötige Ruhe für den letzten Schritt gebracht, nehmen sie die Treppe für ihren langen Weg nach unten und versuchen, sich zumindest für die nächsten Stunden, Tage, Wochen über die Runden zu retten. Dabei gerät die sonderbare Gruppe in allerlei schräge Situationen und wie es Hornby versteht, den großstädtischen Hintergrund dazu mit all seinen Moden, bizarren Kontrasten und kuriosen Milieus liebevoll auszumalen, ist bewunderungswürdig. Er hat einen unglaublich scharfen Blick für die allerneuesten urbanen Verhaltensweisen und Trends und versteht sie ebenso klug wie überraschend zu analysieren. Es gibt, so weit ich sehen kann, keinen deutschsprachigen Schriftsteller, der ihm in dieser Hinsicht auch nur das Wasser reichen könnte. Zudem wird man als Leser von den Dialogen wie von einer Leimrute durch das Buch gezogen. Die vier Verzweifelten bilden nämlich keineswegs eine verschworene Gemeinschaft. Im Gegenteil, sie haben auf dem Hochhausdach eine Menge konventionelle Rücksichten hinter sich gelassen und sagen sich ziemlich ungeniert die Meinung. Damit gewinnt Hornby die Freiheit, so viele Bissigkeiten und Sticheleien, vor allem aber so viele Gags und Pointen in ihre Gespräche zu packen, daß es eine helle Freude ist. In dem Wettbewerb, welcher der komischen Romane Hornbys der komischste ist, dürfte „A Long Way Down“ künftig gute Chancen auf einen der Spitzenplätze haben. Allerdings vernachlässigt Hornby über dem glänzend ausgemalten großstädtischen Hintergrund und den so amüsanten Dialogen das, was bei einem traditionellen Roman im Vordergrund stehen sollte: die seelische Befindlichkeit seiner Helden. Sie bleiben oft schemenhaft, ihre psychische Not wird kaum je plastisch. Am besten noch gelingt es Hornby, die ungebärdige Jess und den gescheiterten Musiker JJ zu literarischem Leben zu erwecken. Allerdings hat er sie erkennbar nach dem Vorbild alter Figuren aus früheren Romanen geschaffen hat, nach Ellie aus „About a Boy“ und Rob aus „High Fidelity“. Für Maureen jedoch, eine verschüchterte Kirchgängerin, scheinen ihm alle glaubwürdigen Darstellungsmittel zu fehlen. Er legt ihr mitunter ebenso brillant abgezirkelte Aperçus in den Mund wie dem fernsehtrainierten Martin – womit offensichtlich wird, daß Hornbys Pointengewitter nicht der Charakterisierung der Figuren dient, sondern daß die Figuren für ihn oft genug nur Sprachrohre sind für die zum Selbstzweck gewordenen komischen Wortwechsel. Vielleicht ist es deshalb besser, „A Long Way Down“ nicht als psychologischen Roman zu betrachten, sondern tatsächlich als eine literarische Versuchsanordnung zu der Frage: Was könnte heutzutage geeignet sein, aufgeklärte, aber gefährdete Menschen vom Selbstmord zurückzuhalten? Hornbys Antwort ist strikt diesseitig, von einem religiösen Sinn des Daseins ist bei ihm nicht einmal in Andeutungen die Rede. Selbst Maureen, die sich gelegentlich auf Gott beruft, macht letztlich eine ziemlich nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung auf, wenn sie sich fragt, was sie noch vor Leben zu erwarten hat. Kommunikation lautet Hornbys Zauberwort. Solange seine Figuren allein sind oder sich durch Schweigen isolieren, erscheint ihnen ihre Lage hoffnungslos. Doch sobald sie Anteil nehmen an anderen und anderen erlauben, Anteil an ihnen zu nehmen, knüpft sich ein hochfeines, kaum wahrnehmbares Netz von Verbindungen, das sie behutsam ans Leben bindet – und dies selbst dann, wenn dieses Beziehungsnetz, wie bei Hornbys Helden, nicht nur freundschaftlicher, sondern durchaus konfliktträchtiger Natur ist. Sicher, überaus originell ist das nicht, aber doch ein pragmatisches und wohl auch zeittypisches Stückchen Alltagsphilosophie. Mit seiner manchmal recht deutlich spürbaren Neigung, solche guten oder nur gut gemeinten Lebensweisheiten zu verbreiten, liegt der Autor Nick Hornby sicher nicht jedem Leser. Doch welcher Autor könnte das schon von sich sagen? Seine erstaunliche Gabe aber, die Strömungen und Stimmungen, die Macken und Marotten, die Themen und Typen seiner Epoche literarisch einzufangen, macht seine Bücher auf jeden Fall lesenswert.

Nick Hornby: „A Long Way Down“. Roman Aus dem Englischen übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005 342 Seiten, 19,90 €

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Kunst ist ohnmächtig und doch eine Zuflucht

Gespräch über Friedrich Schiller mit seinem Biographen Rüdiger Safranski  

Neben Hölderlin war Schiller wohl der Klassiker, der von den Nationalsozialisten am stärksten für ihre Zwecke mißbraucht wurde. Sie feierten ihn als übermächtige Gestalt des deutschen Geistes, sein 175. Geburtstag 1934 wurde mit großem Aufwand zelebriert und seine Stücke standen auf zahllosen Spielplänen. Sicher, Schillers politische Überzeugungen waren weltenweit von denen der Nazis entfernt. Aber gab es Aspekte in seinem Werk, die dem propagandistischen Mißbrauch entgegen kamen? Uwe Wittstock sprach mit dem Autor der neuen Schiller-Biographie Rüdiger Safranski.

Uwe Wittstock: Verbinden den 8. Mai 1945, also das Ende des Zweiten Weltkriegs, und den 9. Mai 1805, also den Todestag Schillers, mehr als nur eine zufällige Nachbarschaft im Kalender? Gibt es zwischen Schiller, dem Erfinder des Deutschen Idealismus, und dem pervertierten Idealismus, mit dem viele Deutsche für Hitler in den Krieg zogen, eine innere Beziehung?
Rüdiger Safranski: Historisch gibt es eine Verbindung. „Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an“, heißt es im „Wilhelm Tell“. Schillers Idealismus hatte auch eine patriotische Beiklang und auf den haben sich dann viele Nationalisten im 19. Jahrhundert und auch die Nazis an Anfang des 20.Jahrhunderts berufen. Die andere Frage ist, ob diese emotional aufputschende und ideologischen Verwendung des Schillerschen Idealismus im Sinne Schillers war. Das kann man eindeutig verneinen. Die Begeisterung, die Schiller in den Köpfen und Herzen seiner Leser entfachen wollte, hatte nichts mit Chauvinismus, mit politischem Expansionsstreben oder mit Gewalt zu tun. Im Gegenteil.
Wittstock: Sicher, Schiller war ein Dichter der Freiheit und der Tyrannenfeindschaft. Andererseits aber verherrlicht er die großen historischen Gestalten und ihre – auch amoralischen – Taten. Eine Haltung, die der Ideologie des Nationalsozialismus durchaus in die Hände spielte. Safranski: Das ist richtig, er liebte die großen Figuren jenseits der Moral. Aber das hatte für ihn als Dramatiker handwerkliche Gründe. Das Mittelmaß war für den Bühnenautor Schiller nicht interessant, denn das Mittelmaß ist nicht dramentauglich. In der Hierarchie des Dramatikers nimmt der starke, große, gute Held den ersten Platz ein. Doch schon auf dem zweiten Platz kommt der starke, große, böse Held, der Bösewicht – denn den braucht der Dramatiker als Gegenspieler zum guten Helden. Danach kommen für ihn dann die guten, aber kraftlosen Figuren, die im Kampf schnell unterliegen und die Bösen, der nur noch hinterhältig und schwach sind. Mit einer solchen Hierarchie dramentauglicher Figuren konnte Schiller auf der Bühne große Konflikte inszenieren. Eine andere Frage ist natürlich Schillers moralische Bewertung solcher Figuren. Und da ist seine Haltung zu politischen Verbrechern ganz eindeutig: Er benennt und verurteilt sie. Zum Beispiel Napoleon, dessen Aufstieg aus kleinen Verhältnissen in den Himmel der europäischen Mächte er zu seinen Lebzeiten beobachten konnte. Natürlich hat ihn als Dramatiker die geschichtsmächtige Größe dieser Figur fasziniert. Aber Schillers Verhältnis zu der politischen Rolle Napoleons war immer ambivalent, er hat die menschlichen Opfer Napoleons nie übersehen. Wittstock: Hat diese Faszination für historische Größe jenseits der Moral Schiller mißbrauchbar gemacht für die Nazis?
Safranski: Ja, das muß man zugestehen – aber das ist nur eine Seite seines Werks. Es gibt bei Schiller auch einen starken moralischen Zug. Hier bewundert und feiert er all das, was Freiheit verkörpert und zugleich die Freiheit der anderen respektiert, ja wenn möglich die Freiheitsspielräume beider Seiten noch vergrößert. Doch zugleich ist er fasziniert von Figuren, die ihre Freiheit so sehr ausleben, daß sie durch ihre machtvolle Entwicklung alle anderen einschränken und unterdrücken. Und diese Faszination strahlen seine Stücke auch aus. Das läßt sich gut am „Wallenstein“ illustrieren: Schiller hat großes Gewicht darauf gelegt, daß eine Figur wie Wallenstein seine Macht nicht für irgendwelche höheren Zwecke, irgendwelche wohlmeinenden Absichtet einsetzt. Wallenstein ist kein Friedensstifter, kein Verteidiger der Reichsidee gegen den Krieg. Schiller macht aus Wallenstein eine Gestalt aus dem Geist Nietzsches. Sein Wallenstein ist von der Macht besessen, er erlebt den Rausch der Macht. Schiller zeigt in diesem Stück, wie so ein Biotop der Macht entsteht und funktioniert: Daß sich jeder Mensch im Einflußbereich eines solchen Machtmenschen auf ihn ausrichtet wie die Eisenspäne auf ein Magnet. Wittstock: Auch wenn Schiller den Tyrannen Wallenstein verachtet, feiert er ihn zugleich als Machtzentrum.
Safranski: Ja, Wallenstein fasziniert ihn. Und zudem ist er als Artist, als Künstler fasziniert von der eigenen Macht, aus dem schwierigen historischen Stoff um den Heerführer Wallenstein ein perfektes Theaterstück zu machen. Und ihn fasziniert die Macht, die er als Autor eines perfekten Stückes über sein Publikum hat: Die Macht, mit den Emotionen der Zuschauer zu spielen. Diesen Aspekten von Macht ist er selbst verfallen. Vor allem aber: Die von Schiller virtuos auf die Bühne gebrachte Figur des charismatischen, amoralischen Machthabers, entwickelt eine Ausstrahlungskraft, die sich selbstverständlich mißbrauchen läßt – und auch mißbraucht worden ist.
Wittstock: Gar nicht selten neigt Schiller zur Begeisterung für die Tat und zu einer für einen Dichter erstaunlichen Verachtung dem Wort gegenüber: „Wo die Tat nicht spricht“, heißt es bei ihm, „da wird das Wort nicht viel helfen.“ Safranski: Das ist nichts Ungewöhnliches. Es gibt das typisch latente schlechte Gewissen bei Intellektuellen, daß sie „nur“ des Geschäft des Wortes betreiben. Häufig führt das zu einem heimlichen Kniefall vor den Tatmenschen. Das erklärt im übrigen, weshalb die Intellektuellen immer wieder verführbar waren – und zwar nicht nur durch die Macht, von der sie selbst vergewaltigt werden, sondern von den Mächten, die sie selbst glauben ins Spiel bringen zu müssen im Namen einer besseren Gesellschaft. Sie glaubten, sich aus moralischen Gründen mit den großen Tätern der vermeintlichen Befreiung verbünden zu müssen.
Wittstock: Gibt es bei dem Republikaner Schiller nicht auch ein heimliches antidemokratisches Element? Eine Verachtung der Masse gegenüber und Bewunderung für den starken Einzelnen? „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig. / Der Starke ist am mächtigsten allein“, heißt es im „Wilhelm Tell“.
Safranski: Hier geht es Schiller vor allem darum, die Verantwortung des Einzelnen für das Ganze, auch das Ganze des Staates zu betonen. Wenn Sie so wollen, liegt darin Verachtung für den Typus des Massenmenschen, der keine Verantwortung übernehmen will. Vor allem aber steckt darin ein Hohelied auf Tell, der die politischen Unterdrückung so persönlich empfindet, daß er persönlich gegen sie vorgeht. Schillers Verhältnis zur Demokratie läßt sich gut erkennen in seiner Beschäftigung mit der Französischen Revolution. Er war kein begeisterter Verfechter des uneingeschränkten Volkswillens. Ihm war vor allem gelegen an der Herrschaft des Gesetzes, also an Rechtstaatlichkeit. Auf die Mehrheiten war in seinen Augen kein Verlaß. Die Entwicklung der Französischen Revolution hin zum Jakobinischen Terror wurde seiner Ansicht nach getragen durch eine breite Zustimmung der Bevölkerung. Nach Schillers Vorstellungen sollten nicht die Massen, sondern das Gesetz herrschen – und das Gesetz sollte sich legitimieren durch Volkssouveränität. Wittstock: Theodor W. Adorno war kein großer Schiller-Freund. Er meinte, in Schillers Sprache klinge etwas an von einem auftrumpfenden Kleinbürger, der die Mächtigen durch überzogene, idealistische Forderungen zu übertrumpfen versuche. Wörtlich: „Zwischen dem allmenschlich Grandiosen und Erhabenen, das sämtliche Idealisten gemein haben, und das stets unmenschlich das Kleine als bloße Existenz zertrampeln will, und der rohen Prunksucht bürgerlicher Gewaltmenschen besteht das innigste Einverständnis.“ Safranski: Ich glaube, Adorno hat nicht recht. Zugegeben, Schiller ist ein großer Pathetiker gewesen, und das macht Adorno ihm hier zum Vorwurf. Doch zugleich hat Schiller immer auch vor dem falschen Pathos, vor der Gewalt der allzu großen Ideen, gewarnt. Zum Beispiel in „Kabale und Liebe“: In der Figur Ferdinands zeigt er einen unglaublich pathetischen Liebhaber, der neben seiner absoluten Liebe nichts mehr gelten lassen will. Gegen diesen Terrorismus der Liebe stellt Schiller mit Luise eine Gestalt, die sehr genau weiß, daß sie in verwickelten Lebensverhältnissen steht, in denen die Liebe nur ein Wert unter anderen ist, den man nicht verabsolutieren darf. Das Stück stellt klar, daß Ferdinands extreme Liebe eine große Gefahr ist, die mehr zerstören kann als manche Grausamkeit. Oder Marquis Posa: An seinem Beispiel zeigt Schiller, wie ein Pathetiker der Befreiung sich gegen seinen Freund Don Carlos vergeht; daß man also auf das Wohl der Menschheit zielen und sich dabei gegen die Würde eines einzelnen Menschen vergehen kann. Hier beweist Schiller, anders als es Adorno behauptet, ein sehr genaues Sensorium für falsches Pathos, das zur Gewalt wird. Man darf den Nazis nicht noch im Nachhinein den Sieg gönnen, die Literatur, die sie vor ihren Karren spannten, als moralisch kontaminiert zu betrachten. Wittstock: Das Bildungsideal, das Schiller und die ganze deutsche Klassik so nachdrücklich propagierten, war wenig politisch. Rührte auch daher die Unfähigkeit des deutschen Bildungsbürgertum – das Anfang des 20.Jahrhunderts noch stark durch die Klassik geprägt war – Extremisten wie den Nazis, einen ausreichenden politischen Widerstand entgegenzusetzen? Safranski: Ich glaube nicht, daß sich der Aufstieg des Nationalsozialismus historisch begründen läßt durch den schwachen politischen Widerstand des deutschen Bildungsbürgertums. Für den Triumph der Nazis gibt es ganz andere Gründe. Tatsache ist jedoch: Obwohl im deutschen Bürgertum dieses klassische Bildungsideal damals noch lebendig war, hat 1933 die Barbarei triumphieren können. Daraus kann man zweierlei schließen. Entweder: Die gebildeten Schichten hatten in der entscheidenden Situation zu wenig politischen Einfluß. Oder: Bildung allein war keine ausreichendes Bollwerk gegen den Extremismus. Und letzteres gehört wohl zu den schmerzhaftesten Lehren des 20. Jahrhunderts: Kultur ist keine hinreichende Bedingung für politische Vernunft. Man kann Beethoven und Bach andächtig hören, man kann Schiller und Goethe verehren – und gleichzeitig die entsetzlichsten Verbrechen an Mitmenschen begehen. In den Lagern der Nazis ist dies geschehen. Schiller hatte seinerzeit noch eine höhere Meinung von der Kunst. Zumindest als er die „Briefe zur ästhetischen Erziehung“ schrieb, war er der Überzeugung, das der Umgang mit der Kunst eine so tief zivilisierende Wirkung hat, daß Mensch, die richtig mit der Kunst umgehen, keine Barbaren werden können. Heute wissen wir: In diesem Punkt hat sich Schiller getäuscht. Eine schöne Täuschung, aber ein Täuschung. Wir haben im 20.Jahrhundert anderes erfahren. Und doch: Auch wenn die Kunst politisch ohnmächtig sein sollte, sind wir doch ärmer, wenn sie fehlt. Denn es gilt auch: Manche haben das politische Grauen innerlich nur deshalb überleben können, weil es die Kunst als Zuflucht gibt. Sie kann auch ein Überlebensmittel sein.

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Patron, Provokateur, Primadonna

 Jörg Magenau erzählt das Leben Martin Walser

Manchmal trägt das Leben einfach ein bißchen zu dick auf. Bei folgender Anekdote zum Beispiel: Ruth Klüger, die als Kind Auschwitz überlebte, besucht ihren alten Studienfreund Martin Walser. Als sie in seinem Garten einen großen Schritt über ein Blumenbeet macht, versinkt sie mit einem Schuh in der Erde und entdeckt dann in dem Loch, den ihr Absatz im Boden hinterlassen hat, ein Parteiabzeichen der NSDAP. Ein früherer Bewohner des Hauses muß es bei Kriegende vergraben haben, woraufhin jahrelang buchstäblich Gras darüber wuchs. Und nun ist es ausgerechnet ein jüdischer Gast, der dieses unrühmliche Zeugnis deutscher Geschichte wieder ans Tageslicht befördert. Nachdem Walser jüngst wegen seines Umgangs mit dem finstersten Teil der deutschen Vergangenheit und mit Opfern des Holocaust angegriffen wurde, wirkt diese Episode symbolträchtig in einem schon aufdringlichen Maße. Jörg Magenau erzählt sie jetzt in seiner umfangreichen Biographie Martin Walsers. Wie die meisten Biographen sympathisiert er mit dem Helden seines Buches – und das ist auch gut so. Sicher, er steht Walsers Werk nicht kritiklos gegenüber und läßt durchaus erkennen, daß manche der Romane Walsers bestenfalls als Gelegenheits- oder Nebenwerke zu betrachten und die meisten seiner Theater-stücke mißlungen sind. Doch sobald es um die beiden in letzter Zeit so heftig debattierten Punkte geht – Walsers Paulskirchenrede und seinem Roman „Tod eines Kritikers“ – steht er in Treue fest an der Seite seiner Hauptfigur. In diesem Punkt hat Walser offenbar für ein endgültiges Schisma, eine unüberbrückbare Spaltung im Literaturbetrieb gesorgt: Für die einen, wie Ruth Klüger, sind die antisemitischen Motive in „Tod eines Kritikers“ mit Händen zu greifen, für andere, wie Jörg Magenau, ist jeder solche Verdacht schlicht abwegig. Eine Verständigung zwischen den beiden Parteien scheint inzwischen nahezu unmöglich. Doch von diesen Themen einmal abgesehen ist Margenaus Buch von wohltuender Objektivität. Er beschreibt Walsers oft ganz hinreißende Freundlichkeit und Begeisterungsfähigkeit, seine erstaunliche Einsatzbereitschaft zugunsten jüngerer, noch unbekannter Autoren und sein enormes Engagement für das Kulturle-ben am heimatlichen Bodensee – ein Engagement, das ihm aus dem Munde des Germanisten Hermann Kinder den schönen Ehrentitel eines „Patrons“ der Region einträgt. Andererseits aber verschweigt Magenau nicht das mitunter nervtötende Bedürfnis Walsers, um jeden Preis die Primadonna des deutschen Literaturbetriebs spielen zu wollen, oder seine Wehleidigkeit, in die er gelegentlich verfällt, wenn er für seine massiven öffentlichen Provokationen massiven öffentlichen Widerspruch erntet. Martin Walsers Leben ist arm an äußeren Ereignissen – was für eine mit knapp 600 Seiten recht ausführlichen Biographie ein spürbares Handikap darstellt. Walser wird 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, ist kurz Soldat, kurz Student, kurz Rundfunkredakteur, bevor er sich 1956 als Schriftsteller wieder am Bodensee niederläßt. Mit diesen ersten Lebensstationen füllt Magenau 120 Seiten und hat dann noch rund 450 vor sich. Akribisch beschreibt er nun Walsers Autorenlaufbahn, seine Triumphe, Krisen oder Fehlschläge, seinen win-dungsreichen Weg vom literarischen Newcomer, der mit dem modischen Existentialismus seiner Zeit liebäugelt, über den politisch leicht entflammbaren So-zialisten während der Jahre der Studentenbewegung, bis hin zum Redner in Sachen deutscher Geschichte und Gegenwart, der von seinen Landsleuten höheres nationales Selbstbewußtsein einfordert. Das alles wird mit großer Kennerschaft ausgebreitet, das Detailwissen Mage-naus ist beeindruckend: Millimetergenau führt er das Aufblühen und Dahinwelken der Freundschaften Walsers zu seinem Verleger Siegfried Unseld oder zum Schriftstellerkollegen Uwe Johnson vor. Doch da Magenau das Leben seines Helden fast immer von Tag zu Tag verfolgt und kaum je ein solches prägendes Freundschaftsverhältnis herausgreift, um es im Zusammenhang übersichtlich zu schildern, geht manche bezeichnende Reaktionen und Verhaltensweisen Walsers nahezu unter im grauen chronologischen Einerlei. Zudem kopiert Magenau leider einige von Walsers schriftstellerischen Unarten: So neigt er dazu, wie Walser in seiner Romanen den gleichen Gedanken mitun-ter mehrfach in wenig veränderter Form zu wiederholen oder sich in nebensächlichen Details zu verlieren. Wenn er unter anderem mitteilt, daß Walser Uwe Johnsons „Jahrestage“ nicht zu Hause, sondern im Skiurlaub las, daß er sich in Amerika einmal beim Volleyball den Fuß verstauchte oder daß die 99 Flaschen Wein, die er 2002 als Literaturpreis erhielt, exakt 14 Prozent Alkoholgehalt hat-ten, dann fragt man sich doch, ob man das alles wirklich so genau wissen wollte. Vor allem aber entwickelt Magenau wie Walser gelegentlich eine auffällige Vorliebe für Substantive, die aus mehreren Worten zusammengesetzt sind. Walser hat solche ineinanderverschmolzenen Wortballungen einmal „Deutsche Kentauren“ genannt, und mit entwaffnender Offenheit hinzugefügt, daß sie gern benutzt werden, wenn man nicht genau weiß, was man sagen möchte: „Also meiden wir das deutlichere Einzelwort, spannen es zusammen mit einem zweiten, dadurch verwischen wir das Gesagte, heben es ein bißchen auf; wir beschädigen die Deutlichkeit, den Umriß, aber wir potenzieren den Willensanteil, die Wucht, das Vitale, manchmal sogar die Substanz.“ Und exakt so wirken diese Wort-Kentauren in Margenaus Buch: Sie verleihen seiner Argumentation Schwung, lassen aber manche rasante Wendung in Walsers politischer Biogra-phie nicht mit aller Deutlichkeit sichtbar werden. Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 23. April 2005 Jörg Magenau: „Martin Walser“. Eine Biographie Rowohlt Verlag, Reinbek 2005 624 Seiten, 24,90 € ISBN 3-498-04497-4

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Rechtschreibung war nie das Werk des Volkes

Gespräch mit Dieter E. Zimmer über modernes Deutsch, dessen Unverbesserlichkeit und Rechtschreibreformen sowie Renaissance des „C

Dieter E. Zimmer war als langjähriger Redakteur der „Zeit“ einer der herausragenden Literaturkritiker und ist heute einer der großen Wissenschaftsjournalisten des Landes. In seinem neuen Buch „Sprache in Zeiten ihrer Unverbesserlichkeit“ (Verlag Hoffmann & Campe) geht er unter anderem der Frage nach, wie sich die deutsche Sprache heute verändert, wer und was sie verhunzt und ob überhaupt jemand das Recht hat, Rechtschreibung zu reformieren. Mit Zimmer sprach Uwe Wittstock.

Uwe Wittstock: Warum sprechen wir nicht mehr, wie Goethe sprach? Dieter E. Zimmer: Sprache verändert sich ständig, weil die Geschichte nicht still steht. Jede Generation, jeder Einzelne müssen ihre Sprache neu erfinden. Sie müssen ihre Sprache in den Stand versetzen, sich mit den Gegenständen ihres historischen Moments in einer effizienten und adäquaten Weise zu beschäftigen.
Wittstock: Wenn sich Sprache kontinuierlich ändert, muß dann auch die Rechtschreibung regelmäßig verändert werden? Zimmer: Nein. In dem Bedürfnis nach einheitlichen Rechtschreibregeln steckt immer ein sehr konservatives Element. Das ist gut so. Wir wollen, daß jedes Wort auf eine immer gleiche Weise geschrieben wird, weil wir es so am leichtesten lesen können, schreiben natürlich auch. Die Orthographie ist das System, mit dem wir Sprachlaute in Schrift umsetzen. Und am deutschen Repertoire von rund 40 Sprachlauten, die wir durch die 29 Buchstaben unseres Alphabets wiedergeben, hat sich seit Goethes Zeit nichts geändert. Das System der Laut-Buchstaben-Beziehungen selbst muß nicht dauernd angepaßt werden. Wittstock: Was hat sich seit Goethe am Deutschen verändert? Zimmer: Die wichtigsten Veränderung spielen sich auf dem Gebiet der Semantik ab: Alte Wörter und Idiome gehen, verändern ihre Bedeutung, neue kommen. Nur in geringem Maße ändert sich auch die Grammatik. Die Rechtschreibung ist davon nicht betroffen.
Wittstock: Wieso dann die Rechtschreibreform? Zimmer: Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen haben viele Leute inzwischen offenbar vergessen, daß die alte Rechtschreibung, die heute gern die bewährte genannt wird, seinerzeit in vielen Bereichen als regelrecht schikanös empfunden wurde. Sie war vor der Reform alles andere als beliebt. Immer wieder wurde verlangt, diese Rechtschreibung vernünftiger zu gestalten, um sie leichter erlernbar zu machen. Der zweite Grund war folgender: In Deutschland wachte die Redaktion des „Duden“ – also ein privater Verlag – über die deutsche Schriftsprache. Sie legte die gültigen Regeln aus, entschied über die Schreibung neuer Wörter, über Zweifelsfälle. Sie machte das ordentlich, dennoch sammelten sich mit der Zeit Widersinnigkeiten an. Mitte der fünfziger Jahre existierten im geteilten Deutschland dann gleich zwei „Duden“-Redaktionen: für die Bundesrepublik in Mannheim, für die DDR in Leipzig. Tatsächlich gab es in der DDR Überlegungen zu einer großen Rechtschreibreform. Es tauchte die Gefahr einer Spaltung der deutschen Schriftsprache auf. Auch in der Bundesrepublik plädierten einige Sprachwissenschaftler für eine Reform, und mindestens ein Lexikograph begann auf eigene Faust mit ihrer Umsetzung. Das alarmierte die Kultusminister, und sie faßten jenen Beschluß, der das „Duden“-Monopol rechtlich festschrieb – aber nur provisorisch, bis zu einer Rechtschreibreform.. Die wurde dann aber verschleppt, bis in die neunziger Jahre.
Wittstock: Wer darf eine Rechtschreibreform durchführen?
Zimmer: Die Regeln, nach denen wir uns schriftlich ausdrücken, ergeben sich nicht von selbst. Es muß eine Instanz da sein, die diese Regeln festlegt. Im Grunde sind sie willkürlich. Es gäbe ganz verschiedene Möglichkeiten, die Lautfolgen einer Sprache mit Schriftzeichen wiederzugeben. Dieser „Willkürakt“ hat sich in jeder Sprache anders vollzogen. In Deutschland haben im 18. und 19. einige große Lexikographen und Grammatiker Vorschläge entwickelt, wie Deutsch auf vernünftige Weise geschrieben werden kann. Ihre Ideen wurden dann ab 1850 von den Schulbehörden einzelner deutscher Länder aufgegriffen und für den Schreibunterricht verbindlich gemacht. Nach der Reichsgründung 1871 wollte man diese verschiedenen Rechtschreibungen angleichen. Mit dem großen Regelwerk von 1901 entstand die Orthographie, die bis zur Reform durch die Kultusministerkonferenz gültig war.
Wittstock: Die Entscheidung über die Rechtschreibung war also bereits im 19. Jahrhundert ein staatlicher Akt?
Zimmer: Ja, die Rechtschreibung war nie das Werk des Volkes, sondern immer das einiger Sprachwissenschaftler und Schulbürokraten. Sie entwickelten orthographische Regeln, die streng genommen nur in den Schulen galten, die aber die Allgemeinheit dann nicht ungern übernahm. Abgestimmt wurde da nie. Außerhalb der Schule durfte und darf ja auch jeder schreiben, wie er will. Wer sich nicht an die Regeln der Schulorthographie hält, bekommt dafür keinen Strafbefehl.
Wittstock: Wird das Lesen heute durch die Koexistenz von alter und neuer Rechtschreibung behindert?
Zimmer: Überhaupt nicht. Die Differenzen zwischen alter und neuer Rechtschreibung sind minimal. Bei gewöhnlichen Texten sind kaum anderthalb Prozent seiner Wörter von einer geringfügigen Änderung betroffen. Ich halte diesen unseligen Zank um die Rechtschreibreform für maßlos überzogen, und auch für verlogen. Es geht im Grunde gar nicht um die Rechtschreibung selbst, für die sich sonst kaum jemand je interessiert hat. Wittstock: Welche Kontroversen verbergen sich dahinter?
Zimmer: An der Rechtschreibreform lassen viele ihren allgemeinen politischen Unmut aus. Die Gesundheitspolitik etwa mißfällt vielen, aber sie müßten leider einräumen, daß sie nichts davon verstehen. Von Rechtschreibung glaubt jeder etwas zu verstehen, sobald er einigermaßen richtig schreiben kann. Da hält er die „Katastrofe“ für eine Katastrophe, auch wenn sie ihm gar nicht zugemutet wird.
Wittstock: Wird die Rechtschreibung von Texten, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, inzwischen nicht in viel höherem Maße durch die Korrekturprogramme der Computer bestimmt als von den meist nur sehr vagen Erinnerungen an den Deutschunterricht?
Zimmer: Ich will nicht so klingen, als wäre ich ein großer Fan der neuen Rechtschreibung. Ich sitze zwischen den Stühlen ihrer Freunde und Feinde, und da sitze ich ganz gut. Was man den Reformern auf jeden Fall vorwerfen kann, ist, daß sie nicht an die Textverarbeitung am Computer gedacht haben, zum Beispiel bei den absurden neuen Trennregeln. Es ist nicht einzusehen, warum so etwas Stumpfsinniges wie die regelgerechte Worttrennung am Zeilenende nicht vom Computer erledigt werden soll. Er konnte es schon ganz gut. Seit der Reform kann er es nicht mehr. Wittstock: Gibt es viele aktuelle Veränderungen im Deutschen? Zimmer: Die deutsche Sprache macht zurzeit einen Veränderungsschub durch, wie sie ihn in ihrer Geschichte wohl noch nie erlebt hat. Die Beschleunigung ist so enorm und ungesteuert, daß es einen grausen könnte.
Wittstock: Beispiele?
Zimmer: Überall auf den Straßen begegnet man heute dem sächsischen Genitiv, dem mit Apostroph angehängten s, „Bea’s Bistro“. Oder: die Renaissance des „c“. Oder: Das Deutsche hat eine eigenwillige Tendenz zur Bildung von Komposita, siehe die viel belächelten „Donaudampfschiffahrtskapitänswitwe“. Andere Sprachen halten es anders, und die Tendenz geht zur Zeit auch im Deutschen immer stärker verloren. Vorhin kam ich an einem Schaufenster vorbei, in dem ein „Angebot an Zink Töpfe“ zu bestaunen war. Das Deutsche verliert hier also eines seiner Charakteristika, die Unterschiede zwischen den Sprachen flachen sich ab. Ich habe private Alltagstexte im Internet untersucht. Hier werden schon 40 Prozent solcher Komposita in ihre Bestandteile zerlegt und dann willkürlich groß oder klein durcheinander geschrieben.
Wittstock: Verlangt nicht auch die neue Rechtschreibung die Aufgabe von Zusammenschreibungen? Zimmer: „Zink Töpfe“ verlangt sie jedenfalls nicht. Aber daß sie an einigen Stellen Getrenntschreibungen erzwingt, ist wahrscheinlich ihr schwerster Fehler. Sie gibt Wortzusammenziehungen auch dort auf, wo die zusammengeschriebenen Wörter einen anderen Sinn haben als ihre isolierten Teile. Wenn mir etwas „wohlvertraut“ ist, hat dies eine ganz und gar andere Bedeutung, als wenn ich behaupte, etwas sei mir „wohl vertraut“. Wittstock: Ist das durch die Wiedereinführung der alten Rechtschreibung rückgängig zu machen? Zimmer: Ein simples Zurück zur alten Rechtschreibung mit allen ihren Tücken und auf ihrer prekären Rechtsgrundlage wird es nicht geben. Wittstock: Wie müßte eine Rechtschreibreform aussehen, die das Erlernen der deutschen Orthographie erleichterte? Zimmer: Das war ja das Problem. Eine wirklich vereinfachte Orthographie wäre ein so enormer Traditionsbruch – und damit ein so großes Ärgernis –, daß sie politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. Heute erst recht nicht. Eine konsequente Vereinfachung der Orthographie ist gar nicht wünschenswert. Insofern kann keine Reform mehr als Flickwerk sein. Das bedeutet aber nicht, daß man sämtliche Widersinnigkeiten hinzunehmen hätte, ob die der alten oder die der neuen Rechtschreibung. Darum besteht nach wie vor Nachbesserungsbedarf.

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Der Weltensammler

Ilija Trojanow erzählt von dem britischen Abenteurer Richard Francis Burton
Die deutsche Literatur der letzten Jahre verdankt den Abenteurern des 19. Jahrhunderts nicht wenig. Denn sie lieferten den spannenden Stoff zu drei wichtigen und erfolgreichen Romanen: Sten Nadolny widmete seine „Entdeckung der Langsamkeit“ den Polarfahrten John Franklins, Christoph Ransmayr seine „Schecken des Eises und der Finsternis“ der österreichischen Payer-Weyprecht-Expedition und Daniel Kehlmann seine jüngst erst erschienene „Vermessung der Welt“ nicht zuletzt den Forschungsreisen Alexander von Humboldts. Je abenteuerloser die Gegenwart zu werden scheint, desto anziehender und verlockender wirkt offenbar die abenteuerliche Vergangenheit auf Autoren und Leser. Ilija Trijanow erzählt in seinem jetzt durch die Leipziger Buchmesse preisgekrönten Roman „Der Weltensammler“ von den Abenteuern des Briten Richard Francis Burton (1821-1890). Burton gehörte zweifellos zu den eindrucksvollen Persönlichkeiten seiner Zeit. Er war ein Orientalist und Ethnologe, ein früher Sexualforscher und exzellenter Schwertkämpfer, er machte Entdeckungsreisen auf vier Kontinenten, sprach über 20 Sprachen, schrieb 60 Bücher, übersetzte das „Kama Surta“ und „Tausendundeine Nacht“ und diente seiner Königin als Konsul in Syrien, Brasilien und Triest. Trojanows Roman konzentriert sich auf Burtons Zeit in Indien, wo er unter anderem militärische Spionageaufträge erledigte, auf Burtons lebensgefährliche Pilgerreise nach Mekka und Medina, die ihn an einige für Nicht-Moslems streng verbotene Orte führte, und auf seine Ostafrika-Expedition, mit der er als erster Europäer den Tanganyikasee erreichte. Anders als Nadolny, Ransmayr oder Kehlmann legt Trojanow allerdings wenig Wert darauf, die dramatischen Erlebnisse seines Helden auch dramatisch zu schildern. Zumal wenn er von dessen Zeit in Indien und Arabien berichtet, sprengt er Burtons Biographie auf in ungezählte Splitter, springt hektisch hin und her zwischen Vor- und Rückblenden, Briefen oder Geheimberichten, Träumen und Fieberphantasien. Er sorgt so dafür, daß kein größerer erzählerischer Zusammenhang entstehen kann und jeder noch so zaghaft sich andeutende Spannungsbogen frühzeitig kleingehäckselt wird. Trojanow will offenkundig nicht die Geschichte eines Lebens erzählen, sondern vor allem zeigen, daß er im ambitionierten Spiel mit literarischen Formen zu glänzen weiß. Merkwürdigerweise verläßt ihn dieser Ehrgeiz im abschließenden Kapitel über Burtons Ostafrika-Reise, das vergleichsweise stringent geschrieben ist. Doch wenn er hier einer eher traditionellen chronologischen Erzählweise vertraut, warum dann nicht auch in den ersten beiden Abschnitten? Burton begann seine Karriere als Soldat der britischen Kolonialarmee. Auch wenn er alles andere als ein sturer, bornierter Kolonialist war, sind dennoch viele seiner Ansichten und Handlungen unübersehbar vom eurozentrischen Geist seiner Zeit geprägt. Kurz: Er entspricht in etlichen Punkten nicht den heutigen Vorstellungen von politischer Korrektheit. Um hier mit literarischen Mitteln für Ausgleich zu sorgen, bemüht sich Trojanow, jede von Burton bereiste und erforschte Weltgegend nicht nur aus der Perspektive seines Helden zu zeigen, sondern zugleich auch den reisenden Helden aus der Perspektive der Einheimischen. So gibt Trojanow zu Anfang immer wieder einem indischen Diener das Wort, der sich so gründlich um Burtons Wohlergehen bemüht, daß er ihm sogar eine Kurtisane vermittelt – in die er sich dann selbst verliebt. Ähnlich in dem Kapitel über Burtons „Hadsch“, seiner Pilgerfahrt nach Mekka und Medina: Hier läßt Trojanow regelmäßig eine türkisch-arabische Untersuchungskommission zusammentreten, die sich die Köpfe darüber heiß redet, welche islamischen Gesetze Burton mit seiner Reise verletzte, und ob er dabei Informationen nicht nur für die britische Wissenschaft, sondern auch fürs britische Militär sammelte. Und vom gefahrvollen Marsch zum Tanganyikasee erzählt unter anderem ein schwarzer Expeditionsteilnehmer, der nach der Rückkehr seine Familie und Freunde wissen lassen möchte, was für seltsame, komplett unberechenbare Wesen die Weißen doch sind. Dieses Kunstgriff Trojanows hat für den Roman allerdings zwei Nachteile: Zum einen entwickeln die einheimischen Erzähler erstaunlich wenig eigenes literarisches Leben. Man merkt ihnen überdeutlich an, daß sie in erster Linie als antikolonialistische Korrekturinstanzen gedacht sind, die relativieren sollen, was über Burtons waghalsige Unternehmungen berichtet wird. Zum anderen stammen diese fiktiven Gegenpositionen genau betrachtet eben nicht von Indern, Arabern oder Afrikanern des 19. Jahrhunderts, sondern naturgemäß von dem Europäer Trojanow. Und der legt bei dieser Gelegenheit den nichteuropäischen Zeitgenossen Burtons manches europaskeptische Argument von heute in den Mund. Was nicht nur in historischer Hinsicht fragwürdig ist, sondern seinerseits einen spürbaren Beigeschmack von retrospektiver kolonialer Bevormundung hat. Zu den Eigentümlichkeiten des Romans gehört, daß er einen recht uneinheitlichen Tonfall pflegt. Trojanow ist ein hoch gebildeter, kenntnisreicher und auch sprachbewußter Autor. Dennoch wird in vielen Passagen seines Buches nicht anschaulich erzählt, sondern eher spröde referiert. Gelegentlich hat man das Gefühl, der Autor weiß so viel über seinen Helden, daß er immer mehr Ideen und Erwägungen in seinen Text preßt, darüber aber die sinnliche Schilderung der fremden Welten, die Burton erforschte, aus den Augen verliert. Dann wieder scheint sich Trojanow der Reize seines Stoffs zu erinnern und sprachliche Glut gleichsam herbeizwingen zu wollen. Das klingt dann so: „Manchmal rülpste die pralle Stadt. Alles roch wie von Magensäften zersetzt. Am Straßenrand lag halbverdauter Schlaf, der bald zerfließen würde.“ Offen gestanden, ich kann mir wenig vorstellen unter halbverdautem Schlaf, der am Straßenrand zerfließt. In meinen Ohren klingt das nach saurem, spätexpressionistischem Kitsch.

Ilija Trojanow: „Der Weltensammler“. Roman Hanser Verlag, München 2006 473 S., 24,90 €

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