Und plötzlich sitzt er neben dir

Ingo Schulze bringt mit seinem Roman „Neue Leben“ den Teufel zurück in die Gegenwartsliteratur
Der Teufel ist wieder da. Zumindest als Romanheld. Einen so weltgewandten, so charmanten und doch zugleich auch gespenstischen Auftritt wie in diesen Tagen hat er in der Literatur schon lange nicht mehr gehabt. Ingo Schulzes Wiedervereinigungs-Roman „Neue Leben“ (Berlin Verlag) gehört zu den wichtigsten, zu den meistdiskutierten Neuerscheinungen auf der Frankfurter Buchmesse 2005. Und eine zentrale Figur darin ist der häßliche, aber unwiderstehliche Clemens von Barrista, ein enger Verwandter der großen Teufelsgestalten der Weltliteratur. Ingo Schulze treibt ein ebenso kluges wie ironisches und witziges Spiel mit diesen Vorbildern. Denn der Teufel gehörte lange zu den Lieblingsfiguren der Schriftsteller. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert war er für sie nur noch selten der plumpe Bösewicht mit Hörnern, Bocksbeinen und Schwefelgeruch. Viel lieber machten sie ihn zum raffinierten Verführer, zu einem mal eleganten, mal etwas schäbigen Versucher und Seelenfänger. Von Dante bis Boccaccio, von Christopher Marlowe bis John Milton, von Byron bis Shelley, von Victor Hugo bis Maupassant, von Paul Valéry bis André Gide, von Dostojewski bis Tolstoi und Michail Bulgakow haben einige der größten Autoren der Welt ihm literarisch Referenz erwiesen. Doch die bedeutendste Rolle spielten Beelzebuben, Satane, Mephistos und Höllenfürsten wohl in der deutschen Literaturgeschichte. Seit dem 500 Jahre alten Volksbuch über den „Schwarzkünstler“ D. Johann Faust ist der Teufel hierzulande in jeder Epoche zum (Anti-)Helden wichtiger Bücher gemacht worden. Lessing und Klopstock, Goethe und Klinger, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, Lenau und Grabbe, Heine und Hauff, Hugo von Hofmannsthal und Thomas Mann haben ihm mitunter nur Neben-, oft genug aber auch Hauptrollen in ihren bedeutendsten Dramen oder Romanen eingeräumt. So ist es letztlich nur folgerichtig, wenn Ingo Schulze angesichts des zutiefst deutschen Themas Wiedervereinigung an diese zutiefst deutsche Literaturtradition anknüpft. In „Neue Leben“ erzählt Schulze von Türmer, einem jungen DDR-Schriftsteller, der so gern zu einem literarischen Regimekritiker geworden wäre, der aber nach dem Fall der Mauer seinen Lebensplan durchkreuzt sieht und nun mit Freunden eine Zeitung aufbaut. Sie beginnen als Idealisten, die zur Demokratisierung ihres Landes beitragen wollen. Aber schon bald wird ihnen klar, daß sie vor allem Geld verdienen müssen, wenn sie ihre Zeitung am Leben erhalten wollen – und so gründet Türmer schließlich ein kostenloses Anzeigenblatt, daß zwar keinen journalistischen Anspruch mehr hat, dafür aber rosige materielle Perspektiven. Den Helden mancher Märchen und mancher Meisterstücke der deutschen Literatur geht es ähnlich. Wie Türmer seine Ideale, so tauschen sie ihr Lächeln, ihren Schatten oder eben – wie Faust – ihre Seele ein für Geld, Macht oder das Wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und der, der sie zu diesem Tausch verführt, der sie mit immer neuen Versuchungen lockt, ist, gleichgültig hinter welcher Maske er sich verbirgt, allemal der Teufel selbst. Noch heute spürt man in diesen alten Büchern etwas von der Angst, die viele Autoren zu Beginn von Aufklärung beschlich, als sie begriffen, daß sich die Welt anschickte, die Zauber der Traditionen und die religiösen Gewißheiten einzutauschen gegen die Freiheiten und den Wohlstand des modernen Lebens. Auch Ingo Schulze teil die Rolle dessen, der den Zeitungsgründern nach und nach ihre Träume raubt und sie in die entzaubernden Gesetze der Marktwirtschaft einführt, dem Teufel zu. Allerdings hüllt er seinen Teufel Clemens von Barrista in sehr zeitgenössische und sachlich angemessene Kleider, nämlich in die eines Unternehmensberaters. Und legt ihm dazu noch das Glaubensbekenntnis eines überzeugten Wirtschaftsliberalen in den Mund: „Das eigene Interesse“ predigt Barrista den ach so naiven Nachwuchsjournalisten, „sei noch immer der beste Ratgeber, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gemeinschaft, ja für die Menschheit. Davon sei er zutiefst überzeugt.“ Schon die Szene, mit der Schulze diesen diabolischen Manager in sein Buch einführt, zeigt sein schriftstellerisches Geschick. Bereits die großen Romanciers der Vergangenheit ließen den Teufel nicht mit Blitz und Donner vor ihren Helden aus dem Boden fahren, sondern – was letztlich viel beklemmender wirkt – ließen ihre Helden in einem ruhigen Moment begreifen, daß der Teufel längst geraume Zeit still bei ihnen sitzt. Der Adrian Leverkühn Thomas Manns zum Beispiel oder auch der Iwan Karamasow Dostojewskis schauen nichtsahnend in ihren Zimmern auf und sehen den Leibhaftigen vor sich. Fast genauso bei Schulze: Türmer arbeitet am Schreibtisch, bis er das undeutliche Gefühl hat, als würde ihm jemand „vorsichtig von hinten einen Hut aufsetzen“. Er dreht sich um und da sitzt Barrista, leise, geduldig wartend, mit schwarzem Haar, blasser Haut und einem einäugigen Hund als Begleiter. Doch nicht nur auf literarische, auch auf biblische Motive greift Schulze in seinem Roman zurück. Das Matthäusevangelium (4, 1-11) erzählt von der Versuchung Jesu: Der Teufel führt ihn auf „einen sehr hohen Berg“, zeigt ihm die „Welt und ihre Herrlichkeiten“ und verspricht ihm alles, wenn er Gott abschwört. Auch Barrista führt Türmer auf einen Turm, von dem aus sie ihre Stadt bequem überschauen können. Doch er zeigt ihm nicht die Herrlichkeiten der Welt, sondern – eine wunderbare ironische Volte Ingo Schulzes – die ehemaligen DDR-Betriebe der Region, die nach der Wende unfehlbar Bankrott gehen werden. Und Barrista macht Türmer klar, welche Gefahren, aber auch welche riesigen Chancen diese Situation für einen jungen Unternehmen birgt. Ein Mißverständnis wäre es jedoch zu glauben, Schulze spiele in seinem Roman einen kapitalistischen Teufel gegen eine Schar edler sozialistischer Engel aus. Nein, er läßt keinen Zweifel daran, was für ein immenses Glück es für Türmer und seine Freunde bedeutet, den kleinkarierten Diktatoren der DDR entkommen zu sein. Barrista lehrt sie lediglich, die Möglichkeiten zu nutzen, die sich ihnen nach dem Fall der Mauer bieten. Er lehrt sie Champagner, kostbare Weine, Austern zu genießen und schickt sie auf Reisen ans Mittelmeer. Die Welt steht ihnen offen, was sie nun daraus machen, liegt ganz bei ihnen selbst. Und das ist vielleicht die eigentliche Funktion all der Teufel in den Literatur der Neuzeit: Nämlich die Menschen daran zu erinnern, daß sie frei sind.

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Ein Meister der deutschen Literatur

 Mit „Neue Leben“ hat Ingo Schulze den Roman der deutschen Wiedervereinigung geschrieben
An keinen anderen ostdeutschen Schriftsteller haben sich seit der Wende so große literarische Hoffnungen geheftet, wie an Ingo Schulze. Seine beiden ersten Bücher „33 Augenblicke des Glücks“ (1995) und „Simple Storys“ (1998) wurden von den Kritikern mit Lob und Preisen förmlich überschüttet. Dieser Autor besitzt, das war von Beginn an nicht zu übersehen, ein herausragendes Talent als Erzähler. Souverän jonglierte er mit den unterschiedlichsten Formen und Tonfällen, jede seiner Geschichten wirkte ganz mühelos gekonnt, woran auch immer er sich erprobte, es gelang ihm. Obwohl er beim Erscheinen dieser Bücher erst Mitte Dreißig war, schien es bereits eine ausgemachte Sache zu sein: Ingo Schulze zählt zu den Stars, zu den jungen Meistern der deutschen Gegenwartsliteratur. Doch dann wurde es auffällig still um ihn. Fast drei Jahre der Suche hat er benötigt, so berichtet er heute, „bis dann die ersten Sätze auf dem Computer waren“ zu seinem nächsten Buch. Und fünf weitere Jahre brauchte er, um es zu schreiben. Jetzt ist es endlich da, ein 800-Seiten-Roman mit dem Titel „Neue Leben“ – und die Erwartungen sind nach so langer Wartezeit naturgemäß enorm. Doch zu Enttäuschungen besteht nicht der geringste Anlaß, Ingo Schulze löst tatsächlich jede Hoffnung ein, die man in ihn setzte. Was für ein ungeheures, was für ein großartiges Buch! Ich habe seit Jahren keinen neuen deutschen Roman mehr gelesen von solchem literarischen Rang. „Neue Leben“ ist vieles zugleich: Ein Roman des deutschen Wiedervereinigungsjahres 1990 aus ostdeutscher Sicht, ein Roman über die frühere Dissidentenszene der DDR, der diese Szene nicht schont, ein Künstlerroman, der nicht von der Kunst schwärmt, sondern vor ihr warnt, und nicht zuletzt ein Roman über Gefahren und Genüsse des freien Unternehmertums. Vor allem aber ist Schulzes Buch ein ironisch funkendes, an einige der schönsten Traditionen der deutschen Literaturgeschichte kunstvoll anknüpfendes, ein vor Erzählfreude übersprudelndes Lesevergnügen. Der Held der „Neuen Leben“ heißt Enrico Türmer. Gleich nach dem Mauerfall baut er zusammen mit Freunden in einer thüringischen Provinzstadt eine kleine, aber freie Wochenzeitung auf: das „Altenburger Wochenblatt“. Auch Ingo Schulze hat sich in jenen Jahren als Zeitungsgründer versucht, und es ist zu vermuten, daß er manche schmerzhafte Erfahrung aus dieser Zeit in sein Buch einfließen ließ. Türmer und seine Mitstreiter starten voller hochfliegender Ideale, sie wollen als Journalisten die Demokratisierung ihres Land vorantreiben, die Politiker kontrollieren und den Bürgern eine öffentliche Stimme geben. Doch die veränderte Realität im wiedervereinigten Deutschland holt sie unerbittlich ein. Selbst mit dem übelsten Skandal, den sie aufdecken, erreichen sie nur noch ein Bruchteil jener Resonanz, die in alten DDR-Zeiten schon ein kleines ungenehmigtes Flugblatt erzielte. Und um die Zeitung am Leben und den Mitarbeitern die Arbeitsplätze zu erhalten, müssen sie sich weit mehr Gedanken über Betriebswirtschaft machen als über Politik. Schon nach ein paar Wochen sind die früheren Freunde tief zerstritten und Türmer startet ein kostenloses Anzeigenblatt, das zwar Geld bringt, dafür aber auf jeden journalistischen Anspruch verzichtet. Zu den wunderbaren Kunstgriffen Schulzes gehört, daß er seinen Helden von diesem rasanten Ernüchterungsprozeß in lauter Briefen selbst erzählen läßt: An jeder Zwischenstation seiner Wandlung ist Türmer fest davon überzeugt, den einzig moralisch richtigen Standpunkt einzunehmen – und doch entwickelt er sich vor den Augen des Lesers mit gespenstischer Folgerichtigkeit vom naiven Idealisten zum begeisterten Geschäftemacher. Vorangeschubst wird er auf diesem Weg zudem durch einen westlichen Unternehmensberater, einen überaus häßlichen, aber charmanten und weltgewandten Verführer, den Ingo Schulze nach guter alter literarischer Tradition als Teufel, als eine Art modernen Mephisto inszeniert. In einer anderen Serie von Briefen berichtet Türmer einer westdeutschen Freundin von seiner Jugend in der DDR. Früh schon fühlte er sich zur Literatur berufen, startete erste pubertäre Schreibversuchen und rechnete sich sofort prächtige Chancen aus, von den Machthabern irgendwann als regimekritischer Schriftsteller in den Westen ausgewiesen zu werden. Doch schnell muß er feststellen, daß auch mit der Dissidentenszene nicht gut Kirschenessen ist: Der einzige Mitschüler, der seine Abneigung gegen die DDR offen teilt, tritt fast genauso anmaßend und dogmatisch auf wie der SED-treue Lehrer. Sobald der erste echte Konflikt auftaucht, fühlt sich Türmer von beiden Seiten gleichermaßen unter Druck gesetzt. Wie Schulze in diesen Szenen aus dem Schulbetrieb der DDR zentrale Motive der großen deutschen Schülerromanen und -novellen von Robert Musil, Herrmann Hesse oder Thomas Mann gleichermaßen zitiert und ironisiert, ist schlichtweg hinreißend. Die jugendlichen Helden jener Klassiker suchten bei der Literatur Zuflucht, weil sie von ihren Klassenkameraden als Außenseitern abgelehnt und ausgeschlossen werden. Schulzes Held Türmer dagegen hat beschlossen Schriftsteller zu werden und fühlt sich deshalb regelrecht verpflichtet, ein Außenseiter zu sein. Doch zu seiner Ernüchterung stellt er fest, daß ihn seine Mitschüler gar nicht im erwarteten Maße ablehnen, und daß zudem die ersehnte Außenseiterrolle bereits von einem fanatischen Wehrdienstverweigerer besetzt ist. Vor allem aber versucht Ingo Schulze am Beispiel Türmers zu zeigen, welche verblüffende, gleichsam religiöse Funktion der Westen für manche DDR-Bürger übernahm, solange der Eiserne Vorhang noch eisern geschlossen war. „Der Westen war unser Jenseits“, sagt Schulze heute, „das real existierende Paradies.“ Gerade weil die Mauer für ihn unüberwindbar ist, gibt sich Türmer insgeheim der Vorstellung hin, der Westen sei ganz und gar frei von allen Sorgen, Nöten, Problemen, mit denen er sich in der DDR herumplagen muß. Im Westen, so glaubt er, warte so etwas wie Erlösung auf ihn. Doch als dann die Mauer fällt, durchschaut er seine Illusionen, wird krank, verbringt wie eine verpuppte Raupe einige Wochen im Schlafsack, und ist nach dieser Metamorphose bereit die Rolle des renitenten Ost-Autors mit der eines gewieften Geschäftsmanns zu vertauschen. Es ist bewundernswert, wie leichthändig und zugleich spannend Schulze sowohl die Jugendgeschichte Türmers als auch seine Krise während der ersten Wochen der Wende und dazu noch seine rasante Karriere als Zeitungsmanager zu erzählen versteht. Er bändigt in diesem Buch Materialmengen, die spielend für drei Romane ausgereicht hätten. Oft wird behauptet, unsere Gegenwart sei zu komplex geworden, als daß es noch möglich wäre, in einem Gesellschaftsroman ein zutreffendes Bild von ihr zu zeichnen. „Neue Leben“ darf man getrost als Gegenbeispiel zu dieser These betrachten: So wie Jonathan Franzens Roman „Korrekturen“ das bürgerliche Amerikas während der Jahre des Börsenbooms porträtiert, so entwirft Schulze mit „Neue Leben“ ein überzeugendes Panorama des bürgerlichen Deutschlands während der Wiedervereinigung. Das schönste an diesem Roman jedoch ist, daß er zwar einerseits den Druck nicht verniedlicht oder verschweigt, unter dem fast jeder Ostdeutsche stand, der nach der Wende ein neues Leben beginnen mußte. Doch andererseits gelingt es Schulze, etwas von dem Glück der Befreiung, von dem Taumel und dem Jubel einzufangen, der das Land nach dem Fall der Mauer erfaßte. In diesen Passagen vibriert eine unbändige Lust an der frisch gewonnen Souveränität: Es ist, schreibt Türmer triumphierend zu Beginn des Jahres 1990, „als wäre ich endlich befugt, am Leben teilzunehmen.“ Dies alles, den Jubel und die danach aufbrechenden Sorgen, die Erinnerung an das verquere Leben in einer Diktatur und den krisenhaften Start in eine unbekannte Zukunft in ein Buch gebannt zu haben – das ist eine reife, eine wahrhaft meisterliche literarische Leistung.

Ingo Schulze: „Neue Leben.“ Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa.
Berlin Verlag, Berlin 2005, 790 Seiten, 22,00 €

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„Lieber Gott mach mich blind“

Wilhelm Genazinos erstes Theaterstück

„Es ist sehr wichtig“, hat Woody Allen einmal gesagt, „sich klarzumachen, daß wir in einem bösen, heimtückischen, feindseligen Universum leben. Es macht uns krank, läßt uns altern und bringt uns um.“ Inspiriert durch dieses gar nicht heiteren Weltbild treibt Allen dem Publikum seiner Filmen die Tränen in die Augen – vor Lachen. Von ähnlichen Voraussetzungen geht das erste, jetzt in Darmstadt uraufgeführt Theaterstück „Lieber Gott mach mich blind“ des Romanciers und Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino aus: Wer altert, so bestätigen sich fünf Figuren auf der Bühne gegenseitig, der wird nicht reif oder weise, sondern lediglich häßlich und fett. Und wer liebt, der sehnt sich nicht nach Zuneigung und Gefühl, sondern will „vögeln“. Wer auch immer in diesem Stück den Mund aufmacht, tut dies nur, um über alle anderen und auch über sich selbst ausschließlich das denkbar Schlechteste zu sagen. Jedes graue Haar, jede Falte, jedes Tränensäckchen, jeder Schweißausbruch wird bissig kommentiert, jede vergangene oder gegenwärtige Begegnung allein unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob man mit dem jeweils andern „vögeln“ möchte oder nicht. Mit sozialer Realität hat das alles wenig zu tun. Der Text ist eher als eine Art literarische Versuchsanordnung zu verstehen, die durch die manischen Freude der Figuren an der jeweils größtmöglichen Takt- und Gefühllosigkeit rasch komische Züge entwickelt. Doch leider versucht Genazino seinem Stück zugleich noch einen zeitkritischen Anstrich zu geben – so als sei unsere Epoche von Jugendkult und Sex derart besessen, daß sie keinerlei Attraktivität des Alters und romantische Liebe mehr ankenne. Das entspricht zwar gern bedienten Klischees, ist aber dennoch offenkundiger Unsinn – was schon die ungebrochene und durchaus körperliche Leidenschaft manches jungen Mannes für erfahrene Frauen oder mancher junger Frau für gesetzte Herren mit grauen Schläfen belegt. Die Regiearbeit von Henri Hohenemser bleibt ein wenig unentschlossen. Er hat die komischen Qualitäten des Stückes offensichtlich gespürt, es aber dennoch nicht gewagt, das Stück konsequent als die antipsychologische Boulevard-Komödie zu inszenieren, die es sehr gut sein könnte. Er versetzt Genazinos fünf Dauernörgler in eine modische Lounge-Landschaft (Bühne: Stelios Vasikaridis) und läßt sie dort mal in heiter-unbeschwerter Bösartigkeit auf einander einteufeln, mal aber auch verzweifelt die Augen rollen und die Hände ringen, als seien sie Strindbergsche Leidensgestalten mit einem unergründlichem Seelenleben – und das sind sie definitiv nicht. So hat der Theaterabend, obwohl er nur 80 Minuten kurz ist, doch die ein oder andere Länge.

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„Pink Moon“

 Ein witzloser Roman von Frank Goosen

Das Beste an Frank Goosens Erfolgsbuch „liegen lernen“ (2000) war sein lakonischer Witz. Jetzt schickt er den weitgehend witzlosen Roman „Pink Moon“ ins Rennen. In einer unterkühlten, sachlich registrierenden Sprache wird die Geschichte eines nicht mehr ganz jungen Restaurantbesitzers erzählt, der vaterlos aufwuchs und dies als sein großes Lebensunglück empfindet. Da er sich vom Schicksal schlecht behandelt fühlt, behandelt er seinerseits andere schlecht – vorzugsweise jene, die es gut mit ihm meinen. Er ist träge, er ist zu Bindungen, die über sklavenhafte Unterwerfung hinausgehen, nahezu unfähig und lebt ziellos dahin. Weitgehend ziellos schlingert auch die Romanhandlung voran, bis sich der Held nach rund zwei Dritteln der Geschichte entschließt, endlich planvoll nach seinem Vater zu fahnden. Als er ihn findet, wird ihm klar, daß der ihm nicht helfen kann, seine Probleme zu lösen. Das Buch wirkt damit wie ein übertrieben langer Anlauf zu einem großen Sprung, der nie kommt. Leider entschädigt dafür auch nicht die Kollektion ausgesucht verschrobener Charaktere, mit der Goosen seine Hauptfigur umgibt. Denn es fallen ihm zu diesen Gestalten keine reizvoll verschrobenen Geschichten ein, sondern er zeigt sie im Grunde nur vor wie in einer Freak-Show.

Frank Goosen: „Pink Moon“. Roman Eichborn, Frankfurt am Main 2005
300 S., 19,90 €

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Vom Stolz der Toten

Spätsommerliche Begegnung mit dem japanischen Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe
Im besten Hotel Frankfurts, zwischen all den Clubsesseln, lautlosen Pagen, Mahagonitischchen und Stofftapeten, mit denen beste Hotels so gern renommieren, sitzt Kanzaburo Oe auf einem kleinen Sofa. „Life is so dark“, sagt er, „so dark“, legt sich dazu eine Hand auf die Brust wie zum Schwur und lacht breit über sein siebzigjähriges Kindergesicht: „So dark.“ Draußen leuchtet ein lichtblauer Himmel. Der herrlichste Spätsommer seit Jahren schenkt der Stadt wundersamen Glanz und ihren Menschen vorübergehend eine seltene Sanftheit, Lockerheit. Es ist definitiv kein Tag, an dem man gern hört, daß die Welt finster sei, so finster. Aber sie ist es. Natürlich. Da darf sich niemand vom Wetter täuschen lassen. Der Sonnenschein vergeht, die Finsternis bleibt. In Oes Erzählung „Stolz der Toten“ zum Beispiel steigen zwei Studenten aus dem Tageslicht in den Leichenkeller ihrer Universität herab. Dort werden in einer riesigen alkoholgefüllten Wanne Menschenkörper aufbewahrt, bis die Pathologen sie brauchen. Einige der Leichname, erzählt der Verwalter, warten schon seit Jahren. „In dunkelbraune Flüssigkeit getaucht“, so beginnt das Buch, „mit verschlungenen Armen, die Köpfe aneinanderdrängend, treiben wie eine einzige Masse die Toten herauf, um allmählich wieder zu versinken.“ Ja, so ist das mit den Menschen, die für den kurzen Augenblick eines Lebens aus der Flut der Zeit herauftreiben, um allmählich wieder darin zu versinken. Dann sind die beiden Studenten und der Verwalter einen Moment ganz leise und hören, wie die Toten flüstern: „Manchmal werden sie still und verfallen schlagartig in Schweigen; dann plötzlich setzt das Geraune wieder ein.“ Nicht, daß die drei sonderlich erschrocken wären über dieses Mitteilungsbedürfnis aus dem Jenseits. Die shintoistischen Japaner achten zeitlebens darauf, mit den Ahnen einen alltäglichen Umgang zu pflegen, sie besucht sie oft in ihren Schreinen.
Uwe Wittstock: Können die Lebenden mit den Toten sprechen, Herr Oe?
Kenzaburo Oe: Ich bin jetzt siebzig Jahre alt, ich bin ein alter Mann, der Tod wird mir immer vertrauter. Er steht mir inzwischen als natürlicher Übergang vor Augen. Da liegt es nahe, den Dialog mit denen zu suchen, die den Übergang schon hinter sich haben. Es gibt definitiv ein Gespräch zwischen Toten und Lebenden. Dieses Gespräch ist ein wichtiger Teil der Kultur, es macht in gewissem Sinne die Kultur aus. In seinem jetzt erschienenen Roman „Tagame“ entwirft Oe einen solchen Dialog – der natürlich eine Fiktion ist und zugleich mehr als Fiktion. 1997 beging der japanische Regisseur Itami Juzo Selbstmord. Mit Filmen wie „Beerdigungszeremonie“, „Tampopo“ oder „Tanz am Abgrund“ war er zu einer beherrschenden Figur des japanischen Kinos herangewachsen und wurde auch international gefeiert. Sein überraschender Freitod erschütterte Oe, denn er ist mit Itamis Schwester verheiratet und war mit ihm seit Jugendjahren befreundet. In seinem Roman heißt der Regisseur Goro. Er hat für seinen Freund, einen Schriftsteller namens Kogito, einen Stapel mit Tonbandkassetten besprochen, bevor er von einem Hochhaus sprang. „Ich werde mich nun also ins Jenseits aufmachen“, nuschelt Goro alkoholisiert auf einem der Bänder, spielt dann als effektsicherer Regisseur das Geräusch eines Körpers ein, der aus großer Höhe auf Asphalt aufschlägt, und fährt fort: „Aber ich breche das Gespräch mir dir nicht ab.“ Wittstock: Lernen man etwas über sich selbst, wenn man mit den Toten spricht? Oe: Es gibt tatsächlich ein solches Tonband, das Itami vor seinem Tod für mich besprochen hat. Es ist nur eine einzige Kassetten, gerade zwanzig Minuten lang. Itami redet darauf zum Beispiel über Albert Camus oder über die Gewalt. Er hat gewissermaßen einen Themenkatalog abgesteckt für künftigen Gespräche. Dieses Tonband habe ich mitgenommen, als ich bald nach Itamis Tod als Gastprofessor nach Berlin eingeladen wurde und habe dann in Deutschland die Arbeit begonnen an meinem neuen Roman. Ich ließ das Band laufen, hörte ein paar seiner Sätze, stoppte und versuchte ihm dann zu antworten. Manches von diesen Dialogen ist dann in das Buch eingegangen. Habe ich dabei etwas über mich gelernt? Früher kam ich mir sehr dumm vor, wenn ich mit Itami sprach, er schien alles schneller zu begreifen als ich. Heute habe ich das Gefühl, daß ich gar nicht so schlecht war in den Gesprächen, die wir in unserer Jugend hatten. Wieder lacht Oe, als sei er, Japans Literaturnobelpreisträger, noch heute stolz darauf, in den Gesprächen mit seinem Freund eine ganz gute Figur gemacht zu haben und sei zugleich ein wenig verlegen, sich auf solche Weise ungeniert selbst zu loben. Sein Roman „Tagame“ reicht weit zurück in die Vergangenheit Goros und Kogitos. Die beiden verbindet ein Geheimnis aus den Jahren der amerikanischen Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg, an das sie als Erwachsene jahrzehntelang nicht rühren: „DIESE SACHE“. Haben sie sich um ein Haar in die Machenschaften einer nationalistischen Terrorgruppe hineinziehen lassen, die Anschläge gegen die amerikanischen Truppen plante? Oder geht es um eine homosexuelle Begegnung zwischen Goro und einem amerikanischen Offizier? Oder um beides? Immer wieder rückt das Buch die zwei Romanfiguren bis zum Verwechseln nahe an die realen Personen Itami und Oe heran. Kurz nach dem finsteren, später so sorgsam beschwiegenen Zwischenfall ihrer Jugend will der künftige Regisseur ein Foto vom künftigen Schriftsteller machen: Kogito soll auf einem Spiegel liegen, Wange an Wange mit seinem Spiegelbild, umgeben von seinen Notizzetteln. Blättert der Leser nach dieser Szene im Buch um, findet auf der folgenden Seite eben dieses Foto, und der junge Mann darauf ist dem jungen Oe wie aus dem Gesicht geschnitten.
Wittstock: Obwohl man in Japan engere Beziehungen zu den Ahnen pflegt als wir in Europa, scheinen die Japaner dazu zu neigen, über bestimmte historischen Tatsachen konsequent zu schweigen. Vor allem mit Blick auf die Rolle Japans im Zweiten Weltkrieg.
Oe: Ich bewundere Deutschland für die Entschlossenheit, mit der es sich der eigenen Vergangenheit konfrontiert hat. Die Verehrung der Ahnen ist bei uns in Japan sehr pauschal. In dem Schrein, in dem sich die Seelen der Soldaten versammeln, die im Krieg gefallen sind, werden Kriegsverbrecher ebenso geehrt, wie zum Beispiel einfache Dorfbewohner, die vom japanischen Militär zum Selbstmord gezwungen wurden, damit sie nicht in amerikanische Kriegsgefangenschaft gerieten. Damals mußten Mütter ihre Säuglinge töten und dann sich selbst. Die Seelen dieser ermordeten Babys finden nun im gleichen Schrein ihre Ruhe wie die Seelen deren, die ihre Ermordung anordneten. Ich habe ein Buch über das Schicksal dieser Babys geschrieben und bin verklagt worden von Hinterbliebenen jener Offiziere, die damals das Kommando führten. Wittstock: Können die Japaner also, gerade weil sie ihre Ahnen so verehren, nur schwer ein kritisches Verhältnis zur Vergangenheit ihres Landes entwickeln? Oe: Ja. Das ist das ein Grund. Aber alle Kriegstoten unterschiedslos in einem Schrein zu verehren, ist auch Teil der Regierungspolitik. Diese Politik sorgt für viel Zorn in anderen asiatischen Ländern wie China und Korea. Uns fehlt eine Gedenkstätte für die Menschen, die von den japanischen Truppen im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden. Ich habe großen Respekt vor dem Mahnmal, das jetzt in Berlin für die ermordeten Juden Europas errichtet wurden. Das ist eine wichtige Sache. Die Toten geben Kenzaburo Oe keine Ruhe. Er habe, sagt er, sein neues Buch „Tagame“ geschrieben, um sich ihrem Urteil zu stellen, um sich von ihnen kritisieren zu lassen kann. Und das Urteil der Toten ist streng, eine Menge Ausreden, Ablenkungen, Illusionen werden in ihrer Gesellschaft erkennbar als das, was sie sind: Ausreden, Ablenkungen, Illusionen. „Wie ist das denn für einen jungen Studenten wie Sie? Es ist doch sicher merkwürdig für Sie, bei den Toten zu arbeiten“, fragt der Verwalter des Leichenkellers in der Erzählung „Stolz der Toten“ einen seiner beiden Begleiter: „Wenn man noch voller Hoffnung ist! Gerät sie nicht ins Wanken beim Anblick der Toten?“ Oe war gerade erst 23 Jahre alt und Student, als er diese Geschichte veröffentlichte. „Ich habe keine Hoffnung“, antwortet sein junger Held. „Man braucht keine Hoffnung zu haben. Ich will mein Leben gut führen und gut studieren. Für ein solches Leben braucht man keine Hoffnung. Ich habe, außer in der Kindheit, nie mit Hoffnung gelebt, ich hatte kein Bedürfnis danach.“ Keine Hoffnung. Die Pagen huschen vorüber, die Gäste schmiegen sich in die Ledersessel. Draußen streicht die laue Luft des Spätsommers über die Lebenden. Drinnen sitzt Oe, spricht von den Toten und lacht.

Kenzaburo Oe: Tagame. Berlin – Tokyo S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 285 Seiten, 19,90 €

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„42“

Thomas Lehr schreibt eine Warnutopie

Wer einen utopischen Roman schreiben will, muß eine neue Welt erfinden können. Denn wenn das Buch tatsächlich gründlich utopisch ausfallen soll, darf das Geschilderte eben nur entfernt an unsere vertraute Welt erinnern und muß dem Leser ansonsten ein sinnreich erdachtes, komplexes Sozialgefüge mit nie gekannten Riten und Regeln vor Augen führen. Das ist beileibe keine Kleinigkeit, es verlangt nicht wenig von einem Schriftsteller. Er muß ein Epiker sein pathetischen Sinne des Wortes, der fähig ist, materialreiche Erzählströme vor dem Leser auszubreiten und sie gleichwohl übersichtlich und lebendig zu halten. Thomas Lehr, der 1999 für seine Liebesabenteurergeschichte „Nabokovs Katze“ vielstimmig gepriesen und gefeiert wurde, hat sich jetzt mit „42“ an ein solches Unternehmen gewagt. Die Welt, die er in diesem utopischen Roman präsentiert, sieht exakt so aus wie unsere Gegenwart und ist dennoch ganz und gar anders. Eine siebzigköpfige Reisegruppe aus Journalisten, Politikern und Wissenschaftlern besucht die unterirdischen Anlagen des Forschungszentrums für Teilchenphysik CERN bei Genf. Alles verläuft normal, doch als die Teilnehmer nach ihrer Rückkehr um 12:47 Uhr und 42 Sekunden wieder ans Tageslicht treten, müssen sie erkennen, daß an der Oberfläche inzwischen die Zeit stehen geblieben ist. Die gesamte Umwelt ist wie eingefroren, wie in einem dreidimensionalen Foto stillgestellt. Die Menschen verharren in skurrilen Zufallsposen, der Straßenverkehr ruht, Vögel schweben reglos in der Luft. Unverrückbar steht und strahlt über allem die Mittagssonne. Den schockierten CERN-Besucher wird nach und nach klar, daß jeder von ihnen für sich in einer Art Zeitblase weiterlebt und sich normal bewegen kann. Ansonsten aber müssen sich die 70 Verschontgebliebenen mit schmerzlichen und seltsamen Bedingungen arrangieren: Von den Speisen, nach denen sie greifen und die sie damit in ihre Zeitblase aufnehmen, können sie sich problemlos ernähren. Auch mechanische Apparaturen sind für sie weiterhin benutzbar. Doch alle komplizierteren Maschinen, Autos, Computer versagen ihren Dienst. Vor allem: Sobald sich einer der Überlebenden den aus der Zeit gefallenen Tieren oder Menschen zuwendet, gewinnen die ihre alte Lebendigkeit nicht zurück, sondern fallen mit einem letzten Stöhnen wie bewußtlos zu Boden. Was Lehr nun folgen läßt, erinnert an viele andere utopische oder phantastische Romane, in denen ein kleiner Kreis von Menschen nach einer Katastrophe in den Resten der Zivilisation fortzuexistieren versucht. Erst zögerlich, dann immer schneller lassen die Überlebenden die alten Vorstellungen von sozialer oder moralischer Ordnung hinter sich, geben fast jede traditionelle gesellschaftliche Rücksicht auf. Schnell kommt es zu den ersten Konflikten, den ersten Toten. Die Davongekommenen stehen sich also keineswegs bei in der Not, sondern mißtrauen einander, bewaffnen und bekämpfen sich. Zudem beginnen sie bald schon mit den bewegungs- und willenlosen Menschen, die von der geheimnisvollen Zeitkatastrophe gleichsam zu Wachsfiguren verwandelt wurden, ziemlich rüde umzuspringen – und ihren offenbar höchst regen sexuellen Appetit an ihnen zu stillen. In den Mittelpunkt des Romans hat Lehr einen Journalisten namens Adrian Haffner gestellt, der Genf und die anderen Überlebenden verläßt und sich auf die Suche nach seiner Frau macht. Zwar hat er kaum Hoffnung, sie anders denn als Standbild ihrer selbst vorzufinden. Dennoch macht er sich auf eine Wanderung durch Europa, um ihr an einem unbestimmtem Urlaubsort auf die Spur zu kommen. In Berlin stößt er auf Indizien, daß sie nicht mit einer Freundin an die Ostsee, sondern mit einem heimlichen Liebhaber nach Florenz gereist ist. Er scheut den Fußmarsch nach Italien nicht, findet sie in eindeutiger Situation vor und rächt sich auf eigenwillige Weise an seinem hilflosen Nebenbuhler. Man sollte glauben, „42“ hätte mit diesen Zutaten ein recht bewegter und spannender Roman werden können, der die traurige Erkenntnis bestätigt, daß die Menschen schon unter normalen Umständen oft lügen und betrügen, daß sie aber, sobald die zivilisatorische Kontrolle erlischt, sich schnell von ihren übelsten Seiten zeigen. Allerdings ist Lehrs Grundidee, die Zeit anzuhalten, ziemlich bizarr, und sie bringt dem Buch literarisch kaum mehr ein, als vage gehaltene und kaum originelle Überlegungen über die rätselhafte Natur der Zeit. Zudem muß Lehr wiederholt Kompromisse zwischen seinem Sujet und der naturwissenschaftlichen Logik schließen: Wäre die Weltuhr tatsächlich wie von Zauberhand gestoppt worden, müßte dann nicht auch das Licht verlöschen? Denn auch das Licht existiert nicht jenseits des Zeitkontinuums. Solche Schnitzer wäre man als Leser allerdings gern bereit, in Kauf zu nehmen, wie bei so vielen Krimis die ein oder andere unglaubwürdige Wendung, wenn das Buch eine fesselnde Geschichte zu bieten hätte. Doch konzentriert sich Lehr nicht darauf, dem Leser eine klar strukturierte Handlung vorzuführen, sondern gibt sich viel zu oft damit zufrieden, Seite um Seite mit langen Beschreibungen regloser Menschen zu füllen, die in beliebigen Alltagsszenen gleichsam tiefgefroren wurden. Was eine gewisse Logik hat: In einem Roman über den Stillstand der Zeit, hält er auch den Erzählstrom immer wieder an. Doch das ändert für den Leser wenig daran, daß ihn dieses Buch auf manche harte Geduldsprobe stellt. Überhaupt wird die außerordentlich dramatische Geschichte des Buches erstaunlich undramatisch erzählt. Ob Lehr nicht anders kann oder anders will, darf hier offen bleiben: Er entwirft kaum je eine aktionsreiche Szene oder einen Dialog, der über den temperamentlosen Austausch von Phrasen hinausgeht. Statt dessen verbirgt er die Handlung in einem Verhau unübersichtlicher, verschachtelter Sätze, als daß er sie mit Gespür für erzählerische Höhepunkte klar herausarbeitete. So hinterläßt der Roman den Eindruck eines recht kuriosen Gedankenspiels, das der Autor seinen Lesern nicht souverän präsentiert, sondern in dem er sich selbst rettungslos verirrt und verzettelt.

Thomas Lehr: „42“. Roman Aufbau Verlag, Berlin 2005 368 S., 22,90 €

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Absoluter Graphikgott

Zum Tode des großen deutschen Cartoonisten F.K. Waechter   

„Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein“ heißt sein berühmtestes Buch – aber anders als der Titel behauptet, guckten eine ganze Menge Leute. Über 300.000 Exemplare wurden bislang von diesem ersten großen, wunderbar witzigen Band des Cartoonisten Friedrich Karl Waechter verkauft. Waechter, der seine Vornamen gern auf die Kurzform F.K. brachte, hat in hohem Maße das graphische Gesicht der Neuen Frankfurter Schule geprägt, also jener Autorengruppe, der die Bundesrepublik nicht nur seine wichtigsten Satirezeitschriften „Pardon“ und „Titanic“ verdankt, sondern aus der mit Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid, Hans Traxler, Chlodwig Poth, Pit Knorr und Bernd Eilert auch einige der bekanntesten und erfolgreichsten komischen Texter, Zeichner und Filmer des Landes hervorgegangen sind. 1937 in Danzig geboren und mit seiner Familie bei Kriegsende in den Westen geflohen, wuchs er – wie auffällig viele seiner Kollegen von der Neuen Frankfurter Schule – vaterlos auf. Mit seinen Lehrern hatte er dann allerdings erhebliche Autoritätskonflikte auszufechten, verließ die Schule frühzeitig und studierte in Hamburg Gebrauchsgraphik. Nach einem kurzen Umweg über eine Werbeagentur wurde er Layouter des Zeitschrift „Pardon“, deren berühmtes Markenzeichen er ersann: Den Kopf eines Teufels, der frech grinsend eine Melone zum scheinbar höflichen Gruß lüftet – und dabei erst recht seine Hörner präsentiert. In der Redaktion lernte er zu Beginn der sechziger Jahre Robert Gernhardt und F.W. Bernstein kennen. Mit ihnen gemeinsam erfand und gestaltete er für „Pardon“ die inzwischen legendäre Beilage „Welt im Spiegel“ als Tageszeitungsparodie. Das Team entwickelte hier die eigenwilligsten Komik-Formen und Witz-Strategien, die sich um die Grenzen des eher biederen deutschen Humors jener Zeit wenig scherten. Zu Waechters Spezialitäten gehörte dabei ein besonderer Sinn für stille, poetische Pointen oder groteske Gags, die wie aus einer anderen, irrwitzigen Welt zu stammen schienen. Er wurde damit zu einem großen Vorbild für jüngere Cartoonisten. Bernd Pfarr zum Beispiel, der im vergangenen Jahr starb, hat viel gelernt von Waechters Technik, unter manche seiner Zeichnungen lange Bildtexte zu setzen, die das Gezeigte nicht kommentieren, sondern eher absurd umspielen – und so aus der Reibung zwischen Bild und Text ganz ungeahnte komische Funken zu schlagen. Auch entdeckte und ermutigte Waechter das inzwischen vielgelobte Zeichnerteam Rattelschneck. Und Greser & Lenz, die heute als Cartoonisten der „Frankfurter Allgemeinen“ und des „Stern“ Furore machen, nennen ihn schlicht ihren „absoluten Graphikgott“. Obwohl Waechter als Zeichner eine unverkennbare Handschrift hat, experimentierte er zugleich mit den unterschiedlichsten graphischen Stil- und Ausdrucksmitteln. Seine zahlreichen Sammelbände mit Cartoons oder Bildergeschichten entpuppen sich für den Betrachter deshalb oft als veritable optische Abenteuerreisen. Daneben hat er immer wieder Kinderbücher gezeichnet und geschrieben. Trotz seines großen Erfolges als Cartoonist, nahm er 1992 seinen Abschied vom komischen Fach und verkündete diesen Entschluß in einem Interview der „Titanic“. Seither widmete er sich in erster Linie seiner Arbeit als Kinderbuch- und Kindertheaterautor, die ihm immerhin gleich zwei Mal den Deutschen Jugendbuchpreis einbrachte. Etliche seiner Stücke, darunter „Schule mit Clowns“ und „Kiebich und Dutz“ erreichten bei seinem jungen Publikum Kultstatus und machten ihn für geraume Zeit zu einem der meistgespielten Kindertheaterautoren des Landes. Mit erst 67 Jahren ist F.K. Waechter jetzt in Frankfurt gestorben. Einer seiner leisen, melancholisch-komischen Cartoons zeigt einen Mann im Morgenmantel, der in eine kahlen, komplett freudlosen Waschraum geraten ist. Ein Schild auf der Tür mahnt: „Bitte, verlassen Sie das Badezimmer so, wie sie es vorzufinden wünschen.“ Der Mann nimmt sich diese Aufforderung auf seine Weise zu Herzen, holt ein kleines Farbtöpfchen samt Pinseln hervor und entwirft auf die trist gerasterte Kachelwand eine prachtvolle Seelandschaft mit Palmen und Brandung. Vielleicht darf man in diesem Blatt so etwas wie die Poetik Waechters sehen: Nämlich die Welt zumindest auf dem Zeichenpapier so zu hinterlassen, wie er sie gern vorgefunden hätte

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„Auf die schönen Possen

“ Volker Brauns neuer Lyrikband
Einst glaubte Volker Braun felsenfest an die marxistische Geschichtsphilosophie und hielt in seinen Gedichten dem realen Sozialismus die Ideale des Sozialismus vor. Die Funktionäre der DDR verstrickten ihn deshalb in einen zähen Abnutzungskleinkrieg, der ihm mehr und mehr zur Qual wurde. Dennoch konnte er die Wende 1989 nicht als Befreiung empfinden, sondern quittierte er sie mit der Zeile: „Der Sozialismus geht, und Johnny Walker kommt“. Angesichts der gründlich veränderten politischen Lage fürchtete er, seine literarische Arbeit könnte Ziel und Zweck verlieren: „Unverständlich wird mein ganzer Text“. „Auf die schönen Possen“ heißt nun der neue Lyrikband von Volker Braun, und er ist sein persönlichstes, sein intimstes Buch seit langem. Braun hat inzwischen das klassische Rentenalter erreicht, und also sollte man sich nicht wundern, wenn er mit Blick auf die Zukunft seltener von politischen Utopien und dafür immer öfter vom Friedhof spricht. „Der Wechsel der Zeiten, der keine Hoffnung ist“, schreibt er, „bis du dem Boden / Gleich bist: Braun“. Doch diese Aussicht ist für ihn nicht nur ein Anlaß zur Melancholie, sondern ebenso ein Grund mehr, den Augenblick genießen zu wollen: „Geh und lebe mit Lust“, ruft er sich aufmunternd zu und verteidigt ausdrücklich die titelgebenden schönen Possen: „An die Liebe halt dich, die vergeht. / Nach Höhrem nicht verrenk den Geist. / Bereichre dich an der Vergänglichkeit / Nur was verwelkt gewährte Lust.“ Sicher, auch in der Vergangenheit hat Braun in seiner Lyrik neben den großen theoretischen Fragen immer Platz gehabt für ein Loblied auf Liebe, Lust und Sinnlichkeit. Doch nie fiel sein Plädoyer so brüsk und entschieden aus wie diesmal: „Das Großeganze ist geschenkt: / Von Einzelheiten werd ich satt.“ Hat Braun, der wie wenige andere unter unseren Gegenwartsdichtern eben jenes Großeganze der Gesellschaft zum lyrischen Thema machte, sich nun also den Gesängen auf private Freuden zugewandt? Er wäre nicht der erste Dichter, der – nachdem ihm die politischen Utopien unerreichbar wurden – die Liebe als größte aller Utopien für sich entdeckt. Manchmal scheint es so: In einem Zyklus mit „Totentänzen“ werden Nachrufe angestimmt auf „Kommunismus“, „Ideologie“ oder „Klassenkampf“. Und daran schließt sich demonstrativ ein Zyklus mit Liedern vom „Liebeslager“ an. Doch dann ist wieder, wie in alten Zeiten, von der „herrschenden Klasse“ die Rede, den „Arbeitern und Bauern“, denen ihre „beschißne Bescheidenheit“ vorgehalten wird. Oder es wird nostalgisch die Mauer betrauert, die zwar eine „finstere“, aber auch eine „funktionierende Sache“ gewesen sei: „Zu schnell weggerissen / Das war der Leichtsinn / Eines ahnungslosen Jahrhunderts“. Natürlich schwingt in solchen Zeilen immer ein wenig Ironie mit, doch belegen sie zugleich ganz unironisch, daß Braun in seinen Gedichten trotz des lauten Tuschs „Auf die schönen Possen“ keineswegs vom Großenganzen lassen möchte. So macht das neue Buch alles in allem einen etwas zerfahrenen und ratlosen Eindruck. Mal heißt es im Kassandraton, es werde „in diesem Jahrhundert rauher zugehen auf dem Planeten“ – dann wieder ist kühl davon die Rede, wir gingen „aus einem kurzen / In ein belangloses Jahrhundert“. Natürlich würde dem klugen Dialektiker Braun so manche Entgegnung auf diese Diagnose einfallen, mit der er die widersprüchlichen Töne seines Bandes leichthändig zu den je zwei Seiten der selben Medaille erklärte. Und wirklich, wir leben in widersprüchlichen Zeiten – weshalb sollte gerade ein Dichter von ihnen verschont bleiben? Aber wie immer man den Befund auch wendet: In einer Lyriksammlung, die den Lüsten und der Sinnlichkeit programmatisch einen so hohen Rang einräumt, müßten Lüste und Sinnlichkeit letztlich spürbarer werden als hier. Doch in dem Band gibt es kaum sinnliche Details, die tatsächlich Ausstrahlungskraft gewinnen, kaum eine Zeile, die ins Ohr geht, kaum ein Bild, das sich in der Erinnerung festsetzt. So erweist sich Brauns Ankündigung, seine gewohnte Welt der geschichtsphilosophischen Ideenlyrik hinter sich zu lassen und sich dichtend kopfüber ins pralle Leben zu stürzen, als ein (vorerst?) nur theoretisches Vorhaben. Natürlich, seine Gedichte sind nach wie vor konzentriert und klug, aber seine Sprache wirkt gleichsam verkanten und verschraubt. Braun fällt sich immerzu selbst ins Wort, packt Einfälle, Anspielungen, historische Reminiszenzen, Text-Fundstücke, Dialoge, Impressionen, Wortspielereien in seine Gedichte, die damit für jeden literarischen Rätselfreund zum gefundenen Fressen werden. Aber sie büßen jeden Schwung, jeden Rhythmus, jede Sprachkraft ein. Schade.

Volker Braun: „Auf die schönen Possen“. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 97 Seiten, 16,90 €

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„Menschenflug“

Hans-Ulrich Treichel erzählt den Roman einer midlife crisis
Stephans Leben macht einen soliden Eindruck. Sein fünfzigster Geburtstag liegt hinter ihm, er hat eine halbe, dafür aber unbefristete Stelle an der Universität, und er ist verheiratet mit einer erfolgreichen, selbstbewußten Psychoanalytikerin. Dazu hat er eine viel beachtete Erzählung geschrieben über einen älteren Bruder, den seine Eltern gegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Alter von sechzehn Monaten auf der Flucht vor russischen Truppen zurücklassen mußten. Dieser Bruder blieb verschwunden und die bohrenden Schuldgefühle der Eltern überschatteten Stephans Kindheit. Jedoch ist Stephan ehrlich genug sich einzugestehen, daß es ihm in seiner Erzählung im Grunde nicht um den Bruder, sondern vor allem darum ging, die eigenen „ererbten Schuldgefühle“ zu lindern. Hans-Ulrich Treichel rührt in seinem neuen Buch „Menschenflug“ unübersehbar die Zutaten zu dem Roman einer midlife crisis an. Stephan hat alle wesentlichen Lebensbereiche im Griff, er ist einigermaßen gesund, sein Job verschafft ihm ein zuverlässiges Auskommen, seine Ehe darf als harmonisch gelten und er konnte sich sogar mit literarischen Mitteln über seine seelischen Probleme klar werden. Was also ist für ihn noch zu tun? Mit gut fünfzig Jahren weiß er, was er beruflich kann und wer er psychisch ist. Bleibt folglich nur die Frage zu beantworten, was er will. Was er mit dem letzten Drittel seines Lebens anfangen möchte. Tatsächlich hat sich Stephan eine einjährige Auszeit von der Familie genommen, ist allein in eine kleine Dachwohnung gezogen, um über sich und sein Leben nachzudenken. So weit, so gut, für einen Roman sind das prinzipiell reizvolle Ausgangsbedingungen: Was fängt ein Mensch mit sich an, nachdem er alle Aufgaben, die von außen, von Gesellschaft, Familie, Mitmenschen an ihn herangetragen wurden, glanzvoll oder auch glanzlos erledigt hat? Das Unglück des Romans „Menschenflug“ beginnt dann allerdings damit, daß sich Stephan als eine rasend uninteressante Figur entpuppt. Er kennt keinen Ehrgeiz und keine Leidenschaften, er hat keine stillen Laster oder unerfüllten Begierden, sein Temperament ähnelt dem eines Faultiers und seine Bereitschaft, neue materielle oder emotionale Risiken einzugehen, tendiert gegen Null. Er arbeitet ein bißchen, joggt ein bißchen, radelt ein bißchen durch die Stadt und weiß ansonsten nichts mit sich anzufangen. Natürlich könnte sich auch aus diesen Voraussetzungen noch eine bemerkenswerter Roman entwickeln lassen: Die Studie eines Mannes nämlich, der so energielos und gefühlsleer ist, daß er passiv dabei zuschaut, wie sein Leben in den immer gleichen Bahnen auf das unvermeidliche Ende zurollt. Doch wenn Stephan ein solcher Mensch wäre, weshalb legt dann seine kluge und aktive Frau so großen Wert auf das Zusammensein mit ihm? Und warum hat sich dieser angeblich banale, apathische Mensch seinerzeit dazu aufgeschwungen, eine Erzählung zu schreiben, die noch Jahre später manche Leser beschäftigt? Und wieso geht eine ältere, attraktive Archäologien, die er im Urlaub kennenlernt, sofort mit ihm ins Bett? Irgend etwas Besonderes, irgend etwas Anziehendes muß an Stephan dran sein – doch Treichel gelingt es nicht, uns zu zeigen, was das ist. So wirkt Stephan nicht wie eine Romanfigur, sondern wie ein psychologisch wenig überzeugender Pappkamerad. Treichel demonstriert anhand seines Schicksal die nicht eben überraschende Einsicht, daß man den Mut haben muß, sich auf das Leben einzulassen, wenn man am Leben teilhaben will. Stephan scheut regelmäßig im letzten Moment vor den Unbequemlichkeiten und möglichen Enttäuschungen zurück, die jedes Engagement naturgemäß mit sich bringt. Und so endet dieser Roman wie jeder zweite deutsche Roman über eine midlife crisis in den letzten Jahren endete: Stephan bricht seine Familienauszeit ab, möchte zu seiner Frau zurück und muß sich zugleich von den Ärzten sagen lassen, daß seine Herzkranzgefäße zu verkalken beginnen. Eine Diagnose, die der Leser getost als einen überdeutlichen, literarisch abgenutzten Hinweis darauf verstehen darf, daß Stephans Herz auch im metaphorischen Sinne immer hart und härter wird. Hans-Ulrich Treichel zählt heute zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern der mittleren Generation. Zu Anfang wirkte er, wenn man vor allem auf seine Sprache achtete, wie ein amüsanter Neffe Thomas Bernhards. Es gelang ihm sehr ernste Themen literarisch außerordentlich heiter zu verpacken: die seelischen Verwüstungen einer Vertriebenenfamilie (in „Der Verlorene“, 1998), die Selbstfindungsnöte eines jungen Künstlers angesichts eines alternden Weltstars, der ihn an die Wand zu drücken droht (in „Tristanakkord“, 2000) und die durchaus beängstigende Sexualneurose eines vereinsamten Studenten (in „Der irdische Amor“, 2002). In „Menschenflug“ versucht Treichel jenes bewährte Schema hinter sich zu lassen. Die ironische Distanz, mit denen er seine Helden sonst schilderte, ist deutlich geringer geworden. Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden, es wäre engstirnig, Treichel ein für alle Mal auf die literarische Machart seiner vorangegangenen, erfolgreichen Bücher festlegen zu wollen. Doch leider ist zusammen mit der Ironie, mit der er seine Figuren sonst betrachtete, in dem neuen Roman auch viel von deren Charme, Originalität und psychologischer Glaubwürdigkeit verloren gegangen.

Hans-Ulrich Treichel: „Menschenflug“. Roman Suhrkamp, Frankfurt am Main 234 S., 17,80 €

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Georg Büchners Briefe in der Sparkasse

Eine Ausstellung

Goddelau ist ein ordentliches Dorf. Die Kirche steht in der Mitte, gleich daneben die Sparkasse. Die Sparkasse ist wie neu, ganz, ganz modern, mit viel Glas, Metall, weißen Wände, hellem Holz, rechten Winkeln. Ein Sparkasse wie aus einem Fertighauskatalog, so werden sie jetzt überall gebaut in Deutschland. Wir sind, will die Sparkasse den Leuten wohl damit sagen, wir sind nicht alt oder verstaubt, nein, wir sind jung, klar, helle, uns könnt ihr euer Geld bringen, wir sind hip, wir wissen, was man mit Geld macht. Aber das stimmt nicht. Die Sparkasse von Goddelau ist nicht jung, sie ist alt, sie hat Geschichte. Vor 180 Jahren wurde sie gegründet, und ist, wie alle Sparkassen, dazu verpflichtet, nicht allein zu privatem Nutzen, sondern gemeinnützig zu wirtschaften. Einer der Gründer dieser gemeinnützigen Bank war ein gewisser Ludwig Büchner. Und der hatte einen Neffen, der gerade zwei Steinwürfe von der Sparkasse entfernt geboren wurde. Georg hieß dieser Neffe, ein kluger, witziger Bursche, dem wie seinem Onkel der Nutzen der Allgemeinheit am Herzen lag, und der zu echten Haß begabt war auf Leute, die nur den eigenen Nutzen kannten. Inzwischen ist dieser Georg ein Klassiker und weltberühmt. Er versuchte die Menschen aufzuwiegeln gegen den Landeherren, mußte fliehen, wurde steckbrieflich gesucht, schrieb ein paar der schönsten Kapitel deutscher Literatur und starb an Typhus gerade 23 Jahre und vier Monate alt. Nur wenige seiner Manuskripte sind erhalten, vieles ist verschollen, verloren, vernichtet. Vor allem die Briefe, die er schrieb, um seinem Herzog das eigene Volk auf den Hals zu hetzen, mußten sofort verbrannt werden, niemand durfte sich mit ihnen erwischen lassen. Gerade 13 Briefe gibt es noch und fünf davon kann man jetzt zum ersten Mal öffentlich anschauen. Die Sparkasse hat sie gekauft und zeigt sie her in ihrer Filiale in Goddelau. Da liegen sie unter Glas auf dunklem Tuch, blaß, abgestoßen, mit Rissen und Siegellack-Resten, 170 Jahre alt, inmitten der neuen, frischen, glattgebügelten Sparkassenwelt. Hier der Geldautomat, dort der Kontoauszugdrucker und da Büchners Haß: „Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu den Laternen.“ Und beim Begriff Hanf dachte der Student Georg Büchner definitiv nicht an Marihuana. Geschichte ist so. Vor 170 Jahren war Georg Büchner Demokrat und wurde für seine Überzeugungen zum Revolutionär. Heute ehren ihn in der Goddelauer Sparkasse die Politiker des Landes, sie sind Demokraten und haben das Glück, daß sie für ihre Überzeugungen weder zum Revolutionär werden noch zu den Laternen beten mußten. So ist Geschichte. Jeder weiß das. Die besten Sachen sind oft nicht neu und frisch und glattgebügelt. Nein, die besten Sachen haben Vergangenheit und nicht selten sind sie wie Büchners Briefe alt und blaß, mit Rissen und Resten. Mit Traditionen. Das wäre mal was, eine Sparkasse ohne Glas, Metall, helles Holz, weiße Wände, rechte Winkel, wo die Leute ihr Geld gern hinbringen, weil da alles so schön verstaubt ist.

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