„Lieber Gott mach mich blind“

Wilhelm Genazinos erstes Theaterstück

„Es ist sehr wichtig“, hat Woody Allen einmal gesagt, „sich klarzumachen, daß wir in einem bösen, heimtückischen, feindseligen Universum leben. Es macht uns krank, läßt uns altern und bringt uns um.“ Inspiriert durch dieses gar nicht heiteren Weltbild treibt Allen dem Publikum seiner Filmen die Tränen in die Augen – vor Lachen. Von ähnlichen Voraussetzungen geht das erste, jetzt in Darmstadt uraufgeführt Theaterstück „Lieber Gott mach mich blind“ des Romanciers und Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino aus: Wer altert, so bestätigen sich fünf Figuren auf der Bühne gegenseitig, der wird nicht reif oder weise, sondern lediglich häßlich und fett. Und wer liebt, der sehnt sich nicht nach Zuneigung und Gefühl, sondern will „vögeln“. Wer auch immer in diesem Stück den Mund aufmacht, tut dies nur, um über alle anderen und auch über sich selbst ausschließlich das denkbar Schlechteste zu sagen. Jedes graue Haar, jede Falte, jedes Tränensäckchen, jeder Schweißausbruch wird bissig kommentiert, jede vergangene oder gegenwärtige Begegnung allein unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob man mit dem jeweils andern „vögeln“ möchte oder nicht. Mit sozialer Realität hat das alles wenig zu tun. Der Text ist eher als eine Art literarische Versuchsanordnung zu verstehen, die durch die manischen Freude der Figuren an der jeweils größtmöglichen Takt- und Gefühllosigkeit rasch komische Züge entwickelt. Doch leider versucht Genazino seinem Stück zugleich noch einen zeitkritischen Anstrich zu geben – so als sei unsere Epoche von Jugendkult und Sex derart besessen, daß sie keinerlei Attraktivität des Alters und romantische Liebe mehr ankenne. Das entspricht zwar gern bedienten Klischees, ist aber dennoch offenkundiger Unsinn – was schon die ungebrochene und durchaus körperliche Leidenschaft manches jungen Mannes für erfahrene Frauen oder mancher junger Frau für gesetzte Herren mit grauen Schläfen belegt. Die Regiearbeit von Henri Hohenemser bleibt ein wenig unentschlossen. Er hat die komischen Qualitäten des Stückes offensichtlich gespürt, es aber dennoch nicht gewagt, das Stück konsequent als die antipsychologische Boulevard-Komödie zu inszenieren, die es sehr gut sein könnte. Er versetzt Genazinos fünf Dauernörgler in eine modische Lounge-Landschaft (Bühne: Stelios Vasikaridis) und läßt sie dort mal in heiter-unbeschwerter Bösartigkeit auf einander einteufeln, mal aber auch verzweifelt die Augen rollen und die Hände ringen, als seien sie Strindbergsche Leidensgestalten mit einem unergründlichem Seelenleben – und das sind sie definitiv nicht. So hat der Theaterabend, obwohl er nur 80 Minuten kurz ist, doch die ein oder andere Länge.

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