Gespräch mit Robert Gernhardt über Heinrich Heine, dessen Hass, das Vorurteil die Deutschen seien unkomisch sowie die Frage, weshalb es leichter ist, in großen Städten witzig zu sein

Uwe Wittstock: War Heine ein komischer Dichter?
Robert Gernhardt: Dieser Begriff führt in die Irre. Heine war ein Dichter, der auch komische Gedichte geschrieben hat, aber kein komischer Dichter. Das trifft auf die meisten der in Deutschland populären Dichter des Komischen zu. Auf Heine, Wilhelm Busch, Morgenstern oder Ringelnatz. Von allen gibt es auch Gedichte, die dezidiert nicht zum Lachen sind. Aber Heine war imstande, selbst auf dem Kranken- oder Sterbebett noch ungemein komische Verse zu finden. Das lange Gedicht zum Beispiel, in dem er sich Gedanken macht über die Körperteile des Menschen: „Gott gab uns nur einen Mund,/ Weil zwei Mäuler ungesund./ Mit dem einen Maule schon/ Schwätzt zu viel der Erdensohn.“
Wittstock: Im Zirkus heißt es oft, außerhalb der Manege sei der Clown der Traurigste von allen. Trifft dieses Vorurteil auch auf Heine zu? War dieser oft komische Dichter ein Melancholiker? Gernhardt: Heine ist nicht als komischer Autor angetreten. In seiner frühen Sammlung „Buch der Lieder“ sind die komischen Einlagen und Einwagen ja noch relativ gering. Er beginnt als Dichter eher auf der Leid- und Wehmuts-Schiene. Erst mit der Zeit wird er dreister. Auch bei der Wahl seiner Reime: Der Germanist Wilhelm Solms hat gezeigt, daß der junge Heine recht konventionelle, „süße“ Reime benutzte, der ältere Heine dagegen „Philozopf“ auf „Hirsetopf“ reimte, und „Mozart“ auf „Rotznas“. Letzteres ist ja nur noch eine Assonanz, das kann man wohl nicht mehr Reim nennen. Mir ist jedoch aufgefallen, daß im Gegenzug Heines Metrik immer raffinierter wird. Zu Anfang sind seine Gedichte fast durchgängig vierhebig, später dichtet er abwechslungsreicher, was seine Gedichte natürlich viel lesbarer macht und gelenkiger.
Wittstock: Wenn Heine in seinem Leben so viel Grund zur Verzweiflung hatte, woher kommt seine Begeisterung für komische Effekte? Gernhardt: Ich glaube, Heine wollte sich immer zwischen alle Stühle setzen. Das war bei ihm habituell. Wenn er seine Leser in einem Gedicht mit einem rührenden Effekt gepackt hatte, dann stach ihn der Haber und er ließ den gefühlvollen Zeilen gleich die witzige Farce folgen. Das zieht sich durchs ganze Werk. Es kommt mir vor, als hätte Heine daraus geradezu ein Konzept gemacht. Er wollte nicht zu fassen, nicht festzulegen sein. Solange er in Deutschland lebte, galt er als Linker. Dann ging er nach Paris und legte sich dort mit den Linken an, mit Börne und dessen Kreisen. Er wollte sich von ihnen nicht vereinnahmen lassen, wollte nicht dazugehören, sondern als Artist Distanz zu den Nicht-Künstlern halten. Und für dieses Ziel, nicht gestellt werden zu können, sind Ausflüge ins Komisch natürlich nützlich. Die bringen alle Festlegungen oder Zuordnungen sehr effektiv durcheinander.
Wittstock: „Und wenn das Herz im Leib ist zerrissen,/ Zerrissen, und zerschnitten, und zerstochen,/ Dann bleibt uns doch das schöne gelle Lachen.“ Schreibt Heine. Warum bleibt uns, wenn das Herz zerrissen ist, doch das Lachen?
Gernhardt: Das ist vermutlich die letzte Möglichkeit, die dem Menschen gegeben ist, aus all seinem Unglück noch einen irgendwie gearteten Lustgewinn zu ziehen. Heine hat das vorgelebt. Er hat auf dem Krankenbett verzweifelte Briefe geschrieben und daneben ein Gedicht wie „Vermächtnis“, in dem er seine Krankheiten testamentarisch an seine Feinde verteilt. „Diese würdgen, tugendfesten / Widersacher sollen erben / All mein Siechtum und Verderben,/ Meine sämtlichen Gebresten.“ Ein wunderbar komischer Einfall, und ich hoffe, daß er auch selber darüber hat lachen können. Ob diese Haltung ein Vorbild sein kann für jeden von uns, für die Menschheit als solche, vermag ich nicht zu sagen. Als ich vor meiner Herzoperation in den Fahrstuhl zum OP geschoben wurde – schon unter Einfluß von Narkosemitteln – waren meine letzten Worte: „Bei so schönem Wetter sollte man eigentlich im Freien operieren“. Alle lachten und mir schwanden die Sinne. Das hätten meine allerletzten Worte sein können. Glücklicherweise ging die Sache gut aus.
Wittstock: Heine hatte nicht nur viel Witz, sondern er hatte auch ein große Begabung zum Haß. Wie geht das zusammen: Heine, der Ironiker und Komiker mit Heine, dem Polemiker?
Gernhardt: Er war kein Humorist. Er hat seine komische Kraft eingesetzt, um Ziele zu erreichen. Das konnte für ihn auch bedeuten: Kämpfe auszufechten und seine Gegner lächerlich zu machen. Wittstock: Eigentlich müssten es die vergnüglichen Dichter doch leichter haben beim Publikum als die traurigen. Doch Heine hatte es nie leicht mit den deutschen Lesern. Warum? Gernhardt: Hatte er es wirklich so schwer? Das „Buch der Lieder“ war wohl der erfolgreichste deutsche Gedichtband des 19. Jahrhunderts. Seine „Reisebilder“ sind viel gelesen worden. Als Korrespondent in Paris erklärte er in seinen Artikeln A) den Franzosen die deutschen Zustände und B) den Deutschen die französischen. Ich glaube, er hat sich immer dann Feinde gemacht, wenn er sich nicht nur mit seinen üblichen Gegnern anlegte, den Völkischen, den Reaktionären, sondern – wie im Fall Börne – auch noch mit dem eigenen Lager. Man muß sich das so vorstellen, als wenn zu Franz Josef Strauß’ Zeiten plötzlich ein bekannter Linker Thesen vertreten hätte, die auch ein Strauß hätte unterschreiben können. Dann wäre dieser Linke doch sofort heftig gezaust worden und man hätte ihm vorgeworfen, er riskiere den Beifall von der falschen Seite. Dieses Lagerdenken war zu Heines Zeiten sicherlich noch ausgeprägter. Dazu gab er sich als Anhänger Napoleons zu erkennen, weil der viel für die Emanzipation der Juden getan hatte. Im Bewußtsein der Deutschen aber war Napoleon in erster Linie der Eroberer und Besatzer. So macht man sich keine Freunde. Und zu allem Überdruß galt er auch noch als unzüchtiger Libertin.
Wittstock: Warum ist Heine heute so beliebt?
Gernhardt: Ja, inzwischen wird er von allen gelobt. Aber wenn er heute wieder erstände, würde sich das mit Sicherheit rasch ändern. Biermann und Rühmkorf, Reich-Ranicki und Raddatz sind sich untereinander nicht gerade grün, aber jeder für sich ist ein Heine-Liebhaber. Wenn Heine heute lebte und schriebe und einer der Genannten böte ihm Anlaß für eine Polemik, würde er wohl nicht zögern und loslegen. Dann bekäme diese Heine-Begeisterung möglicherweise bald die ersten Risse. Auch bei mir natürlich, sollte ich Opfer sein. Heute kostet es nichts mehr, Heine zu mögen, er kann einem nichts mehr tun.
Wittstock: Sie haben mal nach den „Smash-Hits“ der deutschen Lyrik gefragt, also nach Gedichten, die sich wie Schlager ins Sprachbewußtsein der Deutschen eingeprägt haben. Gibt es außer „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ solche lyrischen Smash-Hits von Heine?
Gernhardt: Da ist einmal der „süße“ Heine: „Leise zieht durch mein Gemüt / liebliches Geläute…“ Und jeder gebildete Deutsche glaubt den politischen Heine zu kennen: „Denk ich an Deutschland in der Nacht,/ bin ich um den Schlaf gebracht“! Ein echter Hammer-Satz. Der hat sich allerdings auf Grund eines Mißverständnisses festgesetzt, denn Heine dachte nicht an die politischen Zustände in seinem Vaterland, sondern an seine alte Mutter. Wittstock: Heines Gedichte sind voller wunderschöner Mädchen, in deren „Herzchen keine Liebe glüht“. Die Biographen vermuten, daß der charmante Heine tatsächlich nur wenig Grund hatte, sich über mangelnden Erfolg bei den Frauen zu beschweren. Woher kommen in seinen Gedichten diese vielen Bilder der Zurückweisung? Gernhardt: Möglicherweise weil er die beiden großen Zurückweisungen, die am Anfang standen, nicht verkraftet hat. An seine angeschwärmten Kusinen Amalie und Therese, die Töchter seines reichen Onkels, ist er ja nicht rangekommen. Aber es gibt natürlich noch einen handwerklichen Grund: Man kann aus dem Unglück weit mehr poetischen Stoff ziehen, als aus den Glück. Das trifft ja nicht nur für die Literatur zu, sondern für alle Lebensbereiche. Wenn man aus dem Urlaub zurückkommt und erzählt: Hotel war spitze, Wetter toll, Essen super, dann will das keiner hören. Aber wenn einem ein Tsunami dazwischen kommt, stellen die Leute die Lauscher auf.
Wittstock: Heine war Berufsschriftsteller, er hat vom Schreiben gelebt. Daß hat ihn zu vielen Gelegenheitsgedichten oder journalistischen Auftragsarbeiten gezwungen. Hat das seinem Werk geschadet?
Gernhardt: Ich behaupte, nein. Er ist auch in dieser Hinsicht vorbildlich. Er hat die Grenzen zwischen Literatur oder Journalismus einfach nicht akzeptiert. Es gibt ja diese merkwürdigen manichäischen Behauptungen: Wer journalistisch schreibt, verdirbt sich seinen Stil und kann nicht mehr poetisch schreiben. Oder: Wer einmal komisch dichtet, ist für ernste Themen auf immer verloren. Darum hat sich Heine nie gekümmert, glücklicherweise, und deshalb ist es nach wie vor eine Freude, Heine zu lesen. Er war nun mal ein sehr beweglicher Geist und er ist bis heute auf keiner Seite langweilig. Wittstock: Oft wird der deutschen Literatur nachgesagt, sie sei ernst, trocken und humorfern. Trifft dieses Vorurteil überhaupt zu? Heine paßt zumindest nicht in dieses Schema.
Gernhardt: Nein, es trifft nicht zu. Heine steht ja keineswegs allein. Er bezog sich auf Lessing, der keinem Streit aus dem Weg ging und dabei auch seinen Witz einsetzte. Aber er hätte auch Lichtenberg nennen können, dessen Witz noch heute zündet. Auch Gellert und selbst Goethe haben komische Gedichte geschrieben, die heute noch zum Lachen sind. Und nach Heine hört die Reihe der deutschen Dichter nicht mehr auf, die komische Wirkung anstreben und auch erzielen: Auf Heine folgt Wilhelm Busch, dann Morgenstern, dann Ringelnatz, dann Tucholsky, dann Brecht, dann Kästner, dann Jandl. Nein, die komische Lyrik zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Literaturgeschichte der letzten 250 Jahre. Wittstock: Woher rührt dann dieses Vorurteil, deutsche Schriftsteller seien so unkomisch? Gernhardt: Es werden die falschen Fragen gestellt. Es wird gefragt: Haben die Deutschen solche einen komischen Roman wie den „Don Quixote“? Haben sie Lustspiele wie die von Moliere oder Shakespeare? Aber nach den komischen Gedichten fragt keiner. Außerdem gibt es in der deutschsprachigen Literatur durchaus ein paar Lustspiele: von Nestroy, von Raimund. Daß es darüber hinaus nicht allzu viele sind, liegt wohl daran, daß Deutschland lange Zeit so zersplittert war und keine Metropole hatte. In einer Metropole treffen Information, Zeitgeist, Geld, Widersprüche, anspruchsvolles Publikum zusammen, das ist gut für Komik.
Wittstock: Es ist leichter, in großen Städten witzig zu sein als in kleinen?
Gernhardt: Ja, um höchstes literarisches Komik-Niveau in großen Formen, im Lustspiel oder im Roman zu erreichen, ist eine gewisse Urbanität vonnöten. Nestroy hatte Wien, Moliere Paris, Shakespeare London. Der Autor beobachtet mehr, hat mehr Anregungen, das Publikum ist aufgeschlossener. In großen Städten prallen die Gegensätze überall und prächtig aufeinander. Und daraus lassen sich dann natürlich leichter komische Funken schlagen. Kein Wunder, daß Heine nach Paris ging, kein Wunder, daß Wilhelm Busch sein bestes und welthaltigstes Buch, „Die fromme Helene“, in Frankfurt geschrieben hat – und daß er, als er in die niedersächsische Provinz zurückging, nichts Vergleichbares mehr zustande gebracht hat.

Veröffentlicht unter Robert Gernhardt | Hinterlasse einen Kommentar

Die Dichter und ihre Ersatzreligionen

Dirk von Petersdorff fühlt Benn, Becher, Brecht und Stefan George auf den Zahn

Erstaunlich viele moderne Schriftsteller waren entschiedene Gegner der Moderne. Das ist seltsam, denn mit dem Heraufdämmern der Moderne in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weiteten sich die Spielräume des Einzelnen in Europa und Nordamerika ungeheuer aus. Galt es zuvor als gottgegeben, daß jeder unabänderlich König und Kirche, Familie und Tradition unterworfen war, begann nun eine Zeit individueller Freiheiten, ohne die man sich heute das Leben nicht vorstellen mag und ohne die das hochindividuelle Ausdrucksrepertoire der modernen Literatur gar nicht denkbar wäre. Wendet sich die Abneigung mancher moderner Schriftsteller gegen die Moderne also letztlich gegen die Grundlagen ihrer Arbeit? Waren sie Feinde der eignen Freiheit? Fragen wie diesen ist der Lyriker und Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff bereits in seinem klugen und angriffslustigen Essayband „Verlorene Kämpfe“ (2001) nachgegangen. Nun schickt er ihm die sehr präzise argumentierende Studie „Fliehkräfte der Moderne“ nach, die sich neben dem Werk Nietzsches vor allem der Lyrik Stefan Georges, Gottfried Benns, Johannes R. Bechers und Bertolt Brechts widmet. So unterschiedlich die vier Dichter im einzelnen auch sind, ist ihnen doch eines gemeinsam: Sie nahmen in ihrer Arbeit die Freiheiten der literarischen Moderne in Anspruch, wandten sich aber zugleich dezidiert gegen die Freiheiten der politischen Moderne. Und diese Haltung hatte keineswegs nur literarische Folgen. Benn, Becher und Brecht näherten sich vorübergehend oder langfristig totalitären Ideologien an, zu deren Ziele es gehörte, die Freiheiten des Einzelnen wieder zurückzunehmen. Petersdorffs Beschreibung der Moderne ist deutlich von Luhmanns Systemtheorie und dem amerikanischen Pragmatismus beeinflußt. Die im 18. Jahrhundert voranschreitende Erschütterung der metaphysischen Gewißheiten durch die Religionskritik, vieler philosophischer Verbindlichkeiten durch Kants Erkenntnistheorie und der politischen Traditionen durch die Französische Revolution betrachtet er in erster Linie nicht als eine Geschichte des Verlust von unwiderlegbaren Wahrheiten, sondern im Sinne des Liberalismus vor allem als einen Zuwachs von Unabhängigkeit für das Individuum. In Nietzsche sieht Petersdorff einen der ersten Theoretiker, der die Bedeutung dieser historischen Verwerfungen für den Einzelnen intellektuell ausmißt. Dabei grenzt er dessen Werke der mittleren Phase, in denen – wie in „Menschliches, Allzumenschliches“ – ein ironisches Denken jenseits aller letztgültigen Sicherheiten erprobt wird, konsequent ab gegen den späteren Nietzsche, der sich mit „Also sprach Zarathustra“ selbst zum Propheten einer kommenden Geistesaristokratie erklärt, die für sich in Anspruch nimmt, neue verbindliche Lebensgesetze formulieren zu können. Diesen gegenläufigen Prozeß, einerseits um das Ende aller unhinterfragbaren Gewißheiten zu wissen, andererseits derartige Gewißheiten verzweifelt wieder aufrichten zu wollen, weist Petersdorff dann in detaillierten Analysen auch im Werk der vier Lyriker nach. Natürlich kann man es sich einfach machen und schlicht feststellen, daß George mit seinem Kreis, Benn mit seiner vorübergehenden Annäherung an die Nazis, und Becher sowohl wie Brecht mit der Übernahme des marxistischen Weltbildes aus politischen Überzeugungen so etwas wie Ersatzreligionen entwickelten. Doch es ist verblüffend zu sehen, wie genau sich dieser Vorgang in den Gedichten der Autoren nachweisen läßt und wie tief er jeweils in die Konstitution ihres lyrischen Ichs hineinwirkte. Petersdorffs Buch umkreist damit zugleich eine merkwürdige Leerstelle der literarischen Moderne: Obwohl die westlichen Industrienationen politisch wie wirtschaftlich eine hohe Leistungskraft und Attraktivität auszeichnet, gibt es bis heute keine ästhetische Theorie, die – so schrieb Petersdorff schon in seinem Essayband – „von der offenen Gesellschaft, von ihrem Wahrheitsbegriff, ihrem Zeitverständnis, ihrem Begriff von Individualität“ ausgeht. Im Gegenteil, große Bereiche der modernen Literatur sind in fundamentaler Opposition zur offenen Gesellschaft entstanden und nur vor dem Hintergrund dieser Gegnerschaft zu verstehen. Ja, nicht wenige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts – so zum Beispiel Becher und Brecht – steigern sich im Kampf gegen Demokratie und Liberalismus in ein zunehmend militaristisches, gewaltverliebtes Vokabular hinein. Für eine an friedlichen Konfliktlösungen interessierte Gesellschaft kann das schwerlich das passende künstlerische Vorbild sein. Ist es also an der Zeit, fragt Petersdorff deshalb zum Abschluß seiner eindrucksvollen Untersuchung, sich mit Blick auf unseren Kanon nach einer anderen modernen Literatur umzuschauen?

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 14. Januar 2006

Dirk von Petersdorff: „Fliehkräfte der Moderne“ Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 305 S., 54,- €

Veröffentlicht unter Dirk von Petersdorff | Hinterlasse einen Kommentar

„Im Sinkflug“

Alexander Schimmelbuschs verzweifelt komischer Roman

Muß man das lesen? Das unbekannte Buch eines unbekannten Autors aus einem unbekannten Verlag? Meiner Erfahrung nach muß man nicht. Meistens. Dafür gibt es einen einfachen Grund. Alle Schriftsteller wollen für ihre Bücher bestmögliche Startchancen. Also schicken sie ihre Manuskripte zunächst an die bekannten Verlage, denn die verstehen sich glänzend darauf, öffentlich für ihre Titel zu trommeln und zu werben. Und dort arbeiten kluge Lektoren, die unter den eingehenden Texten eine kluge Auswahl treffen. Dieses Filtersystem des Literaturbetriebs funktioniert gut, man kann ihm vertrauen. Meistens. Aber nicht immer. Man steht in einer Buchhandlung, blättert skeptisch in so einem unbekannten Buch eines unbekannten Autors aus einem unbekannten Verlag, liest eine Seite, liest weiter, liest sich fest – und läuft beglückt mit dem Band zur Kasse, denn man ist ganz unerwartet auf ein schönes, eigenwilliges, originelles Talent gestoßen. Das Buch, für das ich hier trommeln und werben möchte, heißt „Im Sinkflug“ und das Herrlichste an ihm ist sein Haß. Dieser Haß zielt zunächst einmal auf „Investmentbanker“ und „Vorstandsvorsitzende“ in New York. Oder auch auf den Prototyp des „jungen Erfolgsdeutschen“, der in Amerika mit der passend blondierten „Beautyfarmschönheit“ an seiner Seite sein Leben in vollendeter Oberflächlichkeit verplempert. Es ist ein rhetorisch hochgespannter, sprachmächtiger, schwungvoller Haß, der in langen Satzperioden voller Verachtung, Bosheit und unversöhnlichem Ekel über die Gehaßten herfällt – und der sie nicht schlicht treffen möchte, sondern der sie mit Worten regelrecht niederzumetzeln, zu zerstückeln, zu vernichten versucht. Nun habe ich offen gestanden von New Yorker Investmentbankern oder Vorstandsvorsitzenden und deren Leben nur eine sehr vage Vorstellung. Ob der Haß dieses Romans ihnen zu recht gilt oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht finden sich unter ihnen ebenso viele hassens- und liebenswerte Einzelexemplare wie unter den Angehörigen fast jedes anderen Berufsstands auch. Aber letztlich ist das gar nicht wichtig. Denn wer glaubt, die flammenden, savonarolahaften Haßtiraden dieses außerordentlichen kleinen Romans seien tatsächlich und ausschließlich auf Investmentbanker und Vorstandsvorsitzende gemünzt, mißversteht ihn gründlich. Nein, der dreißig Jahre junge, bislang völlig unbeachtete, aber sehr bemerkenswerte Autor Alexander Schimmelbusch ist als Deutscher in New York aufgewachsen und hat in London fünf Jahre lang als Investmentbanker gearbeitet. Man kann ihm also die Kenntnis des Milieus, von dem er schreibt, schwerlich absprechen. Und sein Erzähler sagt von sich, er „entstamme einer verschwiegenen alten Sippe von Vorstandsvorsitzenden und kenne die Sorte gut“. Der Roman arbeitet sich also vorzugsweise an einem Personenkreis ab, mit dem sich der Autor und sein Held bestens auskennen – dem Haß ist somit unübersehbar eine gute Portion Selbsthaß beigemischt. Die Gründe für diesen Groll sind allerdings nicht allein beruflicher, sondern zudem metaphysischer Natur. Denn Schimmelbuschs Erzähler nimmt den Zielscheiben seines Zorns nicht nur ihre Arbeit übel, die seiner Meinung nach absolut hochstaplerische Züge trägt, sondern vor allem daß sie die „gähnende Leere“ hinter dieser Arbeit nicht sehen wollen. Er verabscheut sie, weil sie ausschließlich ihre Karriere kennen und ihren Erfolg dank zahlloser „Verdrängungshilfen und Selbstbetrugsmechanismen“ bereits für „Glück und Sinn“ halten. Schimmelbuschs Roman ist letztlich eine einzige große, wutschnaubende Brandrede: Sowohl gegen die – um mal wieder auf einen alten Begriff von Camus und Sartre zurückzugreifen – Absurdität des Daseins in einer Epoche, der alle religiösen oder metaphysischen Sicherheiten abhanden gekommen sind, als auch gegen Menschen, die, obwohl sehr intelligent, die Augen vor dieser Absurdität und Sinnleere schließen. Die sich aber dennoch als souveräne global player aufspielen und so tun, als verfügten sie über umfassende, blitzsauber funktionierende Welterklärungsmodelle und Weltproblemlösungen. Die Geschichte des Romans ist schnell erzählt. Ein junger Mann aus steinreicher Familie mit Haus in den Hamptons und Schloß im Taunus verbringt seine Tage damit, sich in diversen New Yorker Hotel-Bars, Clubs, Restaurants zu betrinken. Er hat sich angesichts der metaphysischen Obdachlosigkeit unserer Zeit in „maligne Traurigkeit“ vergraben und hat festgestellt, daß er seiner sinnfreien Existenz mit „$28-Martinis sehr effektiv die scharfen Kanten“ nehmen kann. Seine Lieblingstätigkeit besteht darin, die Söhne anderer steinreicher Familien, die sich noch nicht ausschließlich den Martinis hingegeben haben, zu hassen und zu beschimpfen. Schließlich bricht er mit dem Wagen auf, fährt quer durch den Kontinent – wobei der Gelegenheit findet, noch ungezählte andere Menschen anderer Berufsgruppen zu hassen und zu beschimpfen – bevor er sich an der Westküste im kalten Pazifik ertränkt. Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Die permanenten Haßausbrüche des Erzählers sind letztlich beides zugleich – sowohl von brütendem, depressivem Ernst, als auch von brüllender, selbstironischer Komik. Natürlich erinnert Schimmelbuschs Held damit an die überwältigenden Figuren Thomas Bernhards, an all die Theatermacher und Weltverbesserer, die nur winzige Anlässe oder Kränkungen brauchen, um in endlose Monologe der Menschen- und Weltverachtung auszubrechen. Doch die brachiale Frechheit, mit der sein Erzähler über die Wichtigtuereien heutiger Wirtschafts-Warlords herzieht, verleiht seinem Roman durchaus sehr eigene Qualitäten – und zudem eine ungemein erfrischende Bissigkeit. Glücklicherweise hat Schimmelbusch der Versuchung widerstanden, die Geschichte seines traurigen Helden ins Fahrwasser der eleganten amerikanischen Boheme der Roaring Twenties zu lenken. Sicher, die New Yorker Kapitel seines Romans spielen an den gleichen Schauplätzen und in den selben gatsbyhaften Gesellschaftskreisen: Sprößlinge bestens betuchter Familien leiden am Leben und flüchten vor Eltern und Establishment in mondäne Selbstzerstörung. Doch wer heute in die Fußstapfen der Dandys von damals zu treten versucht, wird – das spürt Schimmelbuschs Held sehr genau – damit eben nicht zum Dandy, sondern zum kümmerlichen Klischee eines Dandys. Also verfolgt er die Aussteiger aus dem selbstgefälligen Leben des modernen Geldadels mit dem gleichen hingebungsvollen Haß wie den Geldadel selbst. Über ihre Anstrengungen, sich möglichst stilvoll von ihren Eltern zu unterscheiden, also über ihre „durch mühselige Abgrenzungsarbeit erschlichene Klassifikation als Bohemien“, kann er sich nur lustig machen. Denn auch die ist in seinen Augen letztlich nur eine Krücke, mit der sie ihre labile Persönlichkeit zu stützen versuchen, so wie brave Karrieristen ihr Selbstwertgefühl durch ihren mit „jahrelanger Rücksichtslosigkeit erstrittenen Titel eines Managing Directors“ aufrecht erhalten. Eine bemerkenswerte Sicht der Dinge, in deren Licht sich die selbsternannten Bohemiens unter den deutschen Popliteraten gleich ganz anders ausnehmen. Ein solcher Furor kann natürlich kein gutes Ende finden. Schimmelbusch sorgt dafür, daß sein Erzähler auch nicht den kleinsten Ausweg aus seinem Weltekel und also aus seinem stets gut alkoholisierten Lebens-Sinkflug findet. Im Gegenteil, die Erinnerungen an das eigene, finanziell stets gut unterfütterte Kindheitselend, die ihn auf seinem Weg nach Westen einholen, sind nur dazu angetan, seine Melancholie noch zu steigern. So bleibt schließlich nur das nasse Ende im Pazifik. Kein schöner Tod. Aber ein schönes, verzweifelt komisches Buch.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 17. Dezember 2005

Alexander Schimmelbusch: <em>“Im Sinkflug“. Roman.  Verlag Luftschacht, Wien 2005 178 S., 19,90 € ISBN 978-3-902373-14-8

Veröffentlicht unter Alexander Schimmelbusch | Hinterlasse einen Kommentar

Die Sache mit den Baströckchen

André Heller meint es gut mit einem Kontinent und zeigt in Frankfurt sein Spektakel „Afrika! Afrika!“ 

Hat es eigentlich Sinn, Artisten nach Hautfarben zu sortieren? Also, braune zu braunen, gelbe zu gelben, schwarze zu schwarzen? Offen gestanden, ich bin mir nicht sicher. André Heller macht das nun schon geraume Zeit und augenscheinlich erfolgreich. Aus Indien und China, Nord- und Südamerika, Sinti und Roma hat er schon Zirkus-, Varieté- oder andere Shows gemacht. Nun ist Afrika dran, oder besser: „Afrika! Afrika!“ wie Hellers neues, jetzt in Frankfurt erstmals vorgezeigtes Spektakel benannt ist, um ihm schon im Titel so den richtigen Ausrufezeichen-Schwung zu geben. Und Schwung hat es, soviel ist sicher. Die Live-Musik, die Tänzer, die Masken, das Tempo, der echte Schweiß der Artisten! Für mich ist das immer wieder das Sympathischste an Hellers diversen Darbietungen. Andere höchstgelobte Größen des Showbiz wuchten zehn Meter hohe King-Kong-Gorillas aus purer Software auf die Leinwand, Saurier, Sternenzerstörer oder komplette Klimakatastrophen. Heller dagegen zeigt einfach Menschen vor, Menschen, die etwas Besonderes können. Dazu hat er ein paar Tricks, mit denen er diese Leute so in Szene setzt, daß selbst ein sauriergewohntes Publikum noch einmal bereit ist, zu starren, zu staunen und sich zu freuen. Dieser angolanische Schlangenmensch Makaya Dimbelolo zum Beispiel, genannt Huit Huit, zwangt sich durch einen Tennisschläger. Durch einen normalgroßen Tennisschläger! Unglaublich! Dickson Oppong von der Elfenbeinküste kann nicht nur sieben kreisende Schüsseln gleichzeitig balancieren, sondern dazu noch größere Mengen Wasser in seinem Körper speichern und wie ein Springbrunnen kristallklar hervorsprudeln lassen. Irre! Mary Romulad Materego und Mariam Juma Msenmakweli lassen nur mit ihren Füßen zwei Tische minutenlang durch die Luft wirbeln. Wahnsinn! Und Lunga Nokulunga Buthelezi aus Südafrika kann ihre Gliedmaßen gegen alle anatomischen Gesetze derart verbiegen und verknoten, daß einen blankes Entsetzen packt und Heller sie lieber zusammen mit eine Sängerin in die Arena schickt, die gefühlvolles Liedgut anstimmt, damit die Leibesübungen nicht gar so monströs wirken. Danke! Sicher, all das macht Heller exzellent. Doch der quasi-ethnologische Anspruch, mit dem er sich gelegentlich schmückt, kann einem schon kräftig aufstoßen. Diesmal erzählt er allen, die ihm zuhören, er habe für „Afrika! Afrika!“ ganze „Teams von Mitarbeitern“ kreuz und quer durch den Kontinent geschickt, damit sie dort nach Show-Begabungen Ausschau halten. Nicht wenige seiner Artisten sind aber gut eingeführte Profis auf dem weltweiten Schaustellermarkt. Wer Hellers Besetzungsliste in die Suchmaschinen des Internet füttert, hat schnell den Eindruck, ein Gutteil davon ließe sich weitaus bequemer bei den branchenüblichen Varieté-Agenten abhaken als auf ausgedehnten Talent-Safaris. Aber André Heller will seinen Zuschauern eben mehr verkaufen als nur ein Zirkus-Vergnügen. Er bietet ihnen dazu noch eine Art kulturpolitisches Statement von geradewegs interkontinentalem Zuschnitt: Das elende, kriegszerrissene, seuchengeplagte Afrika einen Abend lang als „Sonnenkontinent“, von dessen Lebenslust wir Weiße uns eine Scheibe abschneiden sollten. Für dieses Ziel jedoch muß er die Artisten nach ihren Hautfarben gut sortieren und lädt diesmal eben nur die ein, die auch nach Afrika aussehen, damit sich beim Publikum ja das richtige Afrika-Feeling einstellt. Damit bekommt seine Show aber einen spürbaren Stich ins Disneyhafte. Die meisten Nummern haben nämlich bei näherem Hinsehen herzlich wenig mit Afrika zu tun. Gut, die Musik und die Tänze sorgen für afrikanische Grundstimmung, Ansonsten aber präsentiert auch Heller keine Négritude der Zirkuskunst. Wenn sich jemand durch einen Tennisschläger zwängt, ist das nichts typisch Afrikanisches. Also wird die Nummer von Heller afrikanisch dekoriert, indem er rechts und links hinter den Schlangenmenschen malerische Maskenträger plaziert und auch sonst nicht mit Tribal-Mustern auf den Kostümen spart. Man sieht ihn förmlich vor sich, während an den Ausstattungsdetails seines Spektakels gefeilt wird. Wie weit muß er gehen, damit auch noch der letzte Zuschauer kapiert, wie afrikanisch das alles gemeint ist? Und wie weit darf er gehen, bevor er rettungslos in abgefingerten Klischees versackt? Keine einfache Entscheidung. Nehmen wir zum Beispiel die Sache mit den Baströckchen. Kann er seinen Tänzern heute noch Baströckchen anziehen? Oder wäre das ein wenig zu dick aufgetragen? Vor allem aber: Wäre es politisch korrekt? Kann er seine Show noch als Fanal für die kulturelle Emanzipation Afrikas anpreisen, wenn er seine schwarzen Leute vor weißem Publikum in Baströckchen auf die Bühne schickt? Um ehrlich zu sein, daß sich André Heller um diese politisch korrekten Bedenken einen Teufel schert und kaltschnäuzig genug ist, seine Truppe selbstverständlich in Baströcken tanzen zu lassen, nötigt mir schon wieder Respekt ab. Und der Erfolg gibt ihm ganz offensichtlich recht. Wer, wie Heller, immerhin einen ganzen Euro pro Eintrittskarte für Afrika spendet, muß es einfach von Herzen gut meinen mit diesem Kontinent. Wer wollte daran zweifeln?

Veröffentlicht unter André Heller | Hinterlasse einen Kommentar

„Das zerbrechliche Glück“

Eberhard Straub über die Wandlungen der Ehe zwischen Ideal und Wirklichkeit

Vielleicht sollte man die romantische Liebesehe als eine Art modernes Gesamtkunstwerk betrachten. Denn zu den Grundzügen der modernen Kunst gehört ihr Wunsch, die Grenze zwischen Kunst und Leben zu überschreiten, also die künstlerischen Ideale im Diesseits Wirklichkeit werden zu lassen. Und wenn sich die Natur des Menschen den Vorgaben der Künstler nicht fügen will, dann gilt das in den Augen der Künstler noch allemal als grobe Sünde der Menschen. Das Ideal der romantischen Liebe und die Sehnsucht, sie zu erleben, hat es wohl zu allen Zeiten gegeben. Doch erst die beginnende Moderne ist auf die gesamtkünstlerische Idee verfallen, romantische Liebe und lebenslange Ehe zu verknüpfen und zu einer gesellschaftlich weithin verbindlichen Zielvorstellung zu machen. Womit der Ehe enorme Verantwortung zufällt: In ihr soll sich nicht nur die romantische Liebe realisieren – und das möglichst für die Dauer des ganzen Lebens. Sie ist zudem zuständig für die Befriedigung sämtlicher sexueller Leidenschaften beider Partner und Grundlage für die materielle Absicherung der Familie. Das Traumbild Liebe wird so verschmolzen mit den sehr irdischen Interessen an Sex, an Geld und an der Fürsorge für den Nachwuchs. Natürlich ist es großartig, wenn ein Paar all dies harmonisch in Balance zu halten versteht. Es gibt Beispiele dafür. Andererseits sollte sich niemand wundern, wenn die Institution Liebesehe, die derart unterschiedlichen Ansprüchen genügen muß, unter ihren gläubigen Anhängern im Allgemeinen eher für Verdruß als für Freude sorgt. Zumal selbst die kameradschaftlichen Gefühle, die sich zwischen Ehepartnern nach dem Abkühlen ihrer anfänglichen emotionalen und sexuellen Euphorien hoffentlich einstellen, vor dem Hintergrund des romantischen Ideals nicht als erstaunlicher Triumph der Zuneigung zweier Menschen gelten, sondern nur als die zweitbeste Lösung und letztlich also als halbe Niederlage. Die Liebesehe mit ihrem Unendlichkeitsanspruch hat sich erst seit zwei- bis dreihundert Jahren als Sehnsuchtsziel in den Herzen und Köpfen des Abendlandes festgesetzt. In den Jahrhunderten zuvor gab es zahlreiche andere Modelle für das Zusammenleben der Geschlechter, die sich durchaus bewährten, aber selbstverständlich ebenfalls nicht ohne Nachteile waren. Der Historiker Eberhard Straub stellt sie jetzt in seinem ebenso klugen wie elegant geschriebenen Essay „Das zerbrechliche Glück“ vor. Er konzentriert sich dabei ausschließlich auf die europäische Geschichte. Die Ehe zwischen einem Mann und mehreren Frauen, wie sie nicht nur die islamische Kultur kennt, kommt bei ihm genauso wenig vor wie andere Ehemodelle afrikanischer oder asiatischer Herkunft. Straubs historisches Panorama der abendländischen Liebesverhältnisse führt noch einmal vor Augen, wie eng die Entdeckung romantischer Empfindungen verbunden ist mit der zunehmenden Individualisierung – und wie eng diese wiederum gebunden ist an eine Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen. Die Idee, daß intime Gefühle zweier Menschen irgendeine stabile Entsprechung in der realen Welt finden sollten, hatte bis in die frühe Neuzeit hinein schon aus ganz handfesten Gründen wenige Realisierungschancen. Ehepaare waren über Jahrhunderte hinweg vor allem Hausvater und Hausfrau, die mit Kindern, Verwandten, Knechten, Mägden und anderem Personal auf so engem Raum zusammenlebten, daß für innige Zweisamkeit kaum Gelegenheit blieb. Folglich wurde der Zweisamkeit eine deutlich geringere Bedeutung eingeräumt als einem funktionierenden Miteinander innerhalb des ganzen Hauses, das die Daseinsgrundlage ausmachte. Natürlich variierten die herrschenden Vorstellungen zu Liebe und Ehe je nach den wirtschaftlichen oder kulturellen Rahmenbedingungen einer Epoche. In vergleichsweise wohlhabenden Phasen des römischen Reiches etwa gewann die Frau beträchtliche Unabhängigkeit von ihrem Mann, da sie nach der Heirat rechtlich der väterlichen Gewalt zugeordnet blieb – und so ihre Mitgift und ihr Erbe der Kontrolle des Gatten entzogen war. Die Eheleute begegneten sich deshalb tendenziell auf Augenhöhe, und also spielten Zuneigung und Wohlwollen zwischen ihnen eine spürbare Rolle. Im Zeitalter der Reformation dagegen wurde aus religiösen Gründen den Gefühlen das geringste Gewicht bei der Gattenwahl zugebilligt. Die Ehe fand ihre Würde allein in der gewissenhaften Erfüllung der Haushaltspflichten. Sinnlichkeit galt Calvinisten und Pietisten als Sünde, und also hatten Söhne und Töchter denjenigen Partner zu heiraten, den die Väter für sie auswählten, denn ihre Entscheidung galt als von Gott erleuchtet. Von all dem ließ sich der Adel jedoch nicht daran hindern, wie schon in den Jahrhunderten zuvor, Heiratspolitik in erster Linie nach strategischen Interessen und genealogischen Zweckmäßigkeiten zu betreiben. Doch nicht nur die romantischen Gefühle, sondern auch die Sexualität hatte in der Ehe über lange Zeit hinweg keinen hohen Stellenwert. Den Frauen wurden ohnehin alle heftigen sexuellen Bedürfnisse abgesprochen. Folglich galt es durchaus als vernünftig, daß ein Ehemann nur selten mit der eigenen Frau schlief, um bei ihr gar nicht erst verwerfliche Leidenschaften zu wecken. Wenn sich Männer in Griechenland oder Rom statt dessen mit Sklavinnen vergnügten, oder später dann Adlige mit Mätressen oder Bürger im Bordell, war das kein Skandal, sondern alltäglich, schlimmstenfalls wurde es als Kavaliersdelikt betrachtet. Erst der zunehmende Wohlstand und die Verbesserung der Wohnverhältnisse, die den Rückzug in eine dem intimen Glück gewidmete Privatsphäre ermöglichten, bereiten dann dem Siegeszug der Liebesehe den Boden. Empfindsamkeit und Individualisierung, die aus dem immer weiter sich säkularisierenden Christentum hervorgingen, trieben diesen Siegeszug weiter voran – und beides scheint ihn heute paradoxerweise zu stoppen. Denn daß eine funktionierende Ehe vor allem Kompromißfähigkeit braucht, liegt auf der Hand. Doch je kompromißloser die eigene Empfindsamkeit und Individualität gelebt werden, desto größer das Risiko für die Havarie der Liebesehe. Aber selbst ihr massenhaftes Scheitern heute ändert wenig daran, daß sie ein alle Zweifel überglänzendes Wunschbild bleibt.

Eberhard Straub: „Das zerbrechliche Glück“. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit Verlag wjs, Berlin 2005 145 Seiten, 16,00 €

Veröffentlicht unter Eberhard Straub | Hinterlasse einen Kommentar

„Hit me with your Klapperstock“

Essays, Reportagen, Deutschlanderfahrungen von Oliver Maria Schmitt

Der Begriff Polemik geht, verrät das Lexikon der Etymologie, auf das griechische Wort pólemos zurück – und das bedeutet Krieg. In diesem Sinne ist Oliver Maria Schmitt ein echter Krieger, der in seinem neuen Buch keine Gefangenen macht. Er hat einen begnadeten Blick für den tagtäglichen kleinen oder auch schon stattlichen Wahnsinn in diesem Land. Ob er in Magdeburg die „Bundesvereinigung Demographische Umkehr“ besucht, in Amorbach die Verblendungszusammenhänge in Adornos Lieblingshotel betrachtet, in Düsseldorf „Deutschlands exklusivsten Golfclub“ feiert („Dieses Land wäre ärmer ohne die Reichen“) oder in Bad Bellingen die Gastlichkeit von „Deutschlands schlechteste Autobahnraststätte“ genießt – immer ist das Ergebnis zugleich bitterböse und knallkomisch. Sicher, man hat ein wenig Mitleid mit den „1300 übergewichtigen älteren Damen“, die in Oberstdorf zum „Walking Stick Kongreß“ auflaufen und sich damit Schmitts Furor ausliefern. Aber wenn er feststellt, daß diese Damen „unter der Tarnbezeichnung ‚Nordic Walking’ eine weitere fiese Variante des Freizeit- und Krachbelästigungswahnsinns installiert“ hätten, durch die selbst in abgelegenen Landstrichen eine „ungeahnte Qualität des Radaumachens erreicht“ werde – ja, dann muß man ihm einfach aus ganzem Herzen recht geben.

Oliver Maria Schmitt: „Hit me with your Klapperstock“ Edition Tiamat, Berlin 159 S., 12,- €

Veröffentlicht unter Oliver Maria Schmitt | Hinterlasse einen Kommentar

Im leeren Zimmer das All

Der Südkoreaner Kim Chi Ha ist ein engagierter Poet, ein Held, ein Schelm und ein Berg
Ja, es gibt sie wirklich: Die Dichter an denen Diktatoren sich ihre Zähne ausbeißen. Der Südkoreaner Kim Chi Ha ist so einer: Ein Poet, ein Held, ein Schelm, ein Berg. Ein Berg? Ich gebe zu, das klingt wie eine ziemlich pathetische Metapher. Aber sie drängt sich auf, wenn man Kim Chi Ha in seiner Wohnung irgendwo vor Seoul auf seinem Sessel sitzen sieht. Er ist kein Riese, er ist nicht groß oder massig wie ein Berg, sondern von gewöhnlicher, etwas gedrungener Gestalt. Aber er hat die Ruhe eines Berges. Er strahlt eine Unerschütterlichkeit, eine Gelassenheit aus, die an die Unverrückbarkeit der Berge erinnert. Er weiß das, und er schreibt das auch in seinen Gedichten: Unterhalb des Chongbal Berges, ein Apartment. In dem Apartment eingesperrt: ich. In mir der Chongbal Berg, im Chongbal Berg wiederum Sonne, Mond, Sterne und Wind. Für ein solches Leben, brauchte es wohl auch die Ruhe und die Unbeirrbarkeit eines Berges: Kim Chi Ha war noch nicht zwanzig, als er 1960 an den Studentenaufständen teilnahm, die den Diktator Song-man Rhee zum Rücktritt zwangen. Doch die Proteste flauten auch danach nicht ab, die Bürger forderten mehr Demokratie und die Wiedervereinigung mit dem Norden des Landes – bis sich der nächste Diktator, General Park Chung Hee an die Macht putschte. Seit jenem Jahr, seit 1961, gab es für Kim Chi Ha zwei gleichermaßen unbehagliche Gegenspieler: seine Tuberkulose, die ihn zu monatelangen Krankenhausaufenthalten zwang, und den Koreanischen Geheimdienst KCIA, vor dem er sich wieder und wieder verbergen mußte, und der ihn wieder und wieder verhaftete. Zu einer Ikone der Bürgerrechtsbewegung wurde Kim Chi Ha mit dem langen Gedicht „Die fünf Banditen“. Nach der alten Regel, daß Lächerlichkeit zu den tödlichsten Waffen im öffentlichen Meinungsstreit gehört, stellte er die korrupten Machthaber des Regimes nicht nur bloß, sondern machte sich zugleich nach Kräften über sich lustig. Er nutzte dazu die Eigenheit der in Korea noch oft gebrauchten chinesischen Schriftzeichen, deren buchstäbliche Lesart einen anderen Sinn ergeben kann als deren phonetische Lesart. Zu den „Fünf Banditen“ seines Landes zählte er in seinem Gedicht nach buchstäblicher Bedeutung die Monopolherren, die Parlamentarier, die hohen Regierungsbeamten, die Generäle und die Minister samt Vizeminister. Nach phonetischer Lesart aber waren das in seiner Schreibweise: eine Meute toller Köter, bucklige, listige Hunde, verdienstlose Schweine, Gorillas und tolle Hunde, die in die aufgehende Sonne zwinkern. Damit stieg Kim Chi Ha nicht nur zum Helden, sondern auch zum Schelm, zum subversiven Clown unter den Regimekritikern auf. Und daß er sie nicht nur Banditen nannte, sondern ihnen dazu noch eine Nase drehte, verzieh ihm der Machtapparat des Diktators am allerwenigsten. Wieder einmal wurde er verhaftet – und mit ihm gleich der Herausgeber und sämtliche Redakteure der Zeitschrift, die das Gedicht gedruckt hatte. Entlassen wurde er erst, als sich seine Tuberkulose so radikal verschlechterte, daß er dem Tod näher schien als dem Leben. Nach eben diesem Muster ging es in den folgenden Jahren weiter. Kaum zu Kräften gekommen veröffentlichte Kim Chi Ha Gedichte oder publizierte Theaterstücke, woraufhin er wieder festgenommen und seine Gesundheit weiter ruiniert wurde. Zwei seiner groß angelegten Protestaktionen heizten die Stimmung der Bürger derart auf, daß die Regierung Notstandsmaßnahmen über das Land verhängte. Bis das Regime dann schließlich 1974 den Konflikt auf seine Weise zu beenden versuchte: Kim Chi Ha wurde verhaftet und am 13.Juli von einem Militärgericht zum Tode verurteilt. Wenig später begnadigte man ihn zwar zum lebenslänglicher Haft, doch das kam bei seinem Gesundheitszustand einem Todesurteil gleich. Man sperrte ihn, schrieb er später, in wechselnde, fensterlose, vier Quadratmeter kleine „kahle Zellen, mit nichts als stets schwach brennenden Glühbirnen, die einen nicht unterscheiden lassen, ob es Tag oder Nacht ist.“ Daß er das Gefängnis noch einmal für einige Monate hinter sich lassen und seine Krankheit in den Griff bekommen konnte, verdankt er einem internationalen Rettungskomitee, das mit hartnäckigem publizistischen Einsatz für seine Befreiung kämpfte und an dem unter anderem Jean-Paul Sartre, Noam Chomsky, Heinrich Böll und Willy Brandt mitarbeiteten. Doch nachdem er 1975 in einer der größten Tageszeitungen des Landes einen Bericht über seine Lebensbedingungen und Folterungen in den Straflagern veröffentlichte, wurde er erneut festgenommen und nun für die kommenden Jahre bis 1980 in Einzelhaft gehalten. Wie überlebt man so etwas? Vielleicht nur, wenn man die Ruhe und die Kraft eines Berges hat. Noch heute sprechen Kim Chi Has Gedichte von grenzenloser Einsamkeit und von der Erfahrung rabiater (Selbst-)Beschränkung auf das absolut Notwendigste. Im leeren Zimmer Bin ich allein, ich habe überlebt. Am Leben sein, am Leben sein. Im leeren Zimmer Ist das ganze All. Alle Geschöpfe leben, alle sind allein und springlebendig An einem klaren Herbsttag Bin ich im leeren Zimmer am Leben. Nach dieser jahrelangen Haftzeit kehrte Kim Chi Ha als ein anderer Mensch in das öffentliche Leben zurück, distanzierter und weniger aggressiv als zuvor. Der Diktator Park Chung Hee war inzwischen von seinen eigenen Sicherheitsleuten ermordet und von dem nicht minder brutalen General Chun Doo Hwan abgelöst worden. Doch Kim Chi Has Lyrik verlor in den achtziger Jahren mehr und mehr ihren kämpferischen und bissig satirischen Charakter. Nicht mehr das Leiden am Militärregime war ihr zentrales Thema, sondern das Leiden der Menschen schlechthin. Seine Gedichtbände eroberten Südkoreas Bestellerlisten und wurden zugleich von den Bürgerrechtlern des Landes scharf angegriffen. Ein Höhepunkt erreichte der Konflikt, als Kim Chi Ha 1991 in einem Manifest die Protestbewegung beschwor, die öffentlichen Selbstverbrennungen während der Demonstrationen gegen das Regime zu stoppen. Das Leben habe, erklärte er damals, ein höheres Recht als der Widerstand. Damit sei er, meinten manche seiner Gegner, der Demokratiebewegung in den Rücken gefallen. Wie schon viele engagierte Schriftsteller vor ihm mußte auch Kim Chi Ha die paradoxe Erfahrung machen, daß er mit dem Sieg seiner politischen Ziele umgehend einen Großteil der Aufmerksamkeit einbüßte, die er zuvor im Medienbetrieb seines Landes genossen hatte. Sobald sich die politischen Verhältnisse liberalisierten, sobald eine funktionierende Opposition in Parlament und Presse zur Selbstverständlichkeit wurde, richteten sich weit weniger Mikrophone und Kameras auf ihn, wenn er sich öffentlich gegen die Regierenden wandte. Dabei ist seine Kritik an der Situation des Landes und vor allem an der gigantischen Metropole Seoul heute vielleicht noch grundsätzlicher geworden als früher. Der rasend voranschreitenden Industrialisierung und Modernisierung Südkoreas versucht er eine sehr subjektive Ideen-Mixtur aus Buddhismus und Umweltschutz, Christentum, Schamanismus und konfuzianischen Traditionen entgegenzusetzen. Durchs verfaulte Fleisch der Stadt leuchten eitertriefend die dünnen Adern des alten Dorfs. Laß uns den Adern folgen, mein Freund Doch all die vergangenen und die noch andauernden Kämpfe dieses Lebens können die Ruhe Kim Chi Has offensichtlich nicht stören. Er lebt heute in einem Vorort Seouls in einem Bürohochhaus. Es ist eines unter Hunderten von Hochhäusern, die sich an einer zehnspurigen Straße entlang ziehen. Man kann es von den anderen unterscheiden, weil im Erdgeschoß in einem Showroom hinter riesigen Schaufenstern chromgrau schimmernde BMW-Limousinen auf Käufer warten. Gut zehn Stockwerke höher sitzt ein Dichter, der zwei Jahrzehnte lang ein zähes Duell mit den Diktatoren des Landes ausfocht und schreibt: Ach, Spatzen zwitschern, noch blühen Blumen, und am Himmel ziehen sogar weiße Wolken. Hingekauert im Apartment Kann ich ein Stück leeren Himmel sehen, deshalb ist auch mein Leben noch in Ordnung.

Kim Chi Ha: „Blütenneid“. Gedichte. Wallstein Verlag, Göttingen 2005 80 Seiten, 14,- €

Veröffentlicht unter Kim Chi Ha | Hinterlasse einen Kommentar

Die Titanic und Herr Berg

Der erste Roman von Kirsten Fuchs
Junge Frau liebt älteren Mann – so ganz nagelneu ist dieses Motiv nicht. Origineller erscheint da schon der Schauplatz, an dem Kirsten Fuchs in ihrem ersten Roman die beiden Hauptdarsteller zusammenführt. Tanja ist sexuell sehr aktiv, beruflich dafür aber ausgesprochen passiv. Auf dem Sozialamt, von dem sie sich mit dem Lebensnotwendigen versorgen läßt, beschließt sie, sich in den für sie zuständigen Sachbearbeiter zu verlieben, weil der so traurig ausschaut. Peter ist zweimal geschieden, Vater zweier jugendlicher Kinder, einsam und in seiner Freizeit hauptsächlich mit Onanie beschäftigt. So bedenkenlos und leidenschaftlich sich Tanja in die neue Affäre stürzt, so zögerlich und widerborstig führt sich Peter auf. Er scheint jedes Liebesglück von vornherein für unmöglich zu halten und wartet nur darauf, daß alles eine Wendung zum Schlechten für ihn nimmt – was unter dieser Voraussetzung auch nicht lange auf sich warten läßt. Das beste an Kirsten Fuchs’ Debüt sind die grundverschiedenen Tonfälle, die sie für ihre beiden Figuren erfindet: Tanjas Stimme legt ein Tempo vor, mit dem sie sich über die zahllosen Untiefen ihres Lebens hinwegzuretten versucht. Peter dagegen verwandelt mit seinem Generalbass noch die angenehmste Fügung des Schicksals in eine Katastrophe.

Kirstin Fuchs: „Die Titanic und Herr Berg“. Roman Rowohlt Verlag, Berlin 286 S., 18,90 €

Veröffentlicht unter Kirstin Fuchs | Hinterlasse einen Kommentar

Kein Protest für „Esra“

 Ein Kommentar 

Seit zweieinhalb Jahren ist der Roman „Esra“ von Maxim Biller in Deutschland verboten. Zwei Frauen aus München sind der Meinung, in dem Buch porträtiert zu sein. In fünf Verfahren – zuletzt vor dem Bundesgerichtshof – mußten Richter in ihren Urteilen abwägen zwischen der Freiheit der Literatur und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte. Obwohl sich „Esra“ im Untertitel als Roman, also als eine fiktive Geschichte, zu erkennen gibt und die angeblich porträtierten Personen nicht mit Namen genannt werden, hat sich auch der Bundesgerichtshof für das Verbot entschieden. Damit wurde nicht allein für dieses Buch, sondern für jede Literatur in Deutschland eine heikle juristische Grenze gezogen. Wer auch immer sich in einem Roman, einem Gedicht oder einem Theaterstück wiederzuerkennen glaubt und den Richtern dafür einige Anhaltspunkte liefern kann, hat jetzt Machtmittel gegen den jeweiligen Autor in der Hand. Tatsächlich sind seit Beginn des Verfahrens gegen Biller bereits Verbote gegen zwei weitere Bücher ausgesprochen worden. Man sollte glauben, dies müßte die einst so kämpferischen Interessenvertreter der Autoren, also den PEN-Club, den Verband deutscher Schriftsteller (VS) oder auch den Börsenverein des deutschen Buchhandels zu lauten Protesten oder wenigstens zu leisen Warnungen bewegen. Doch obwohl die drei Organisationen sonst mit Resolutionen nicht eben zimperlich sind, verloren sie zum Fall Biller bislang kein öffentliches Wort. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch, der „Esra“ veröffentlichte, hat den kostspieligen Prozeß nicht nur bis zum Bundesgerichtshof durchgefochten, sondern jetzt auch Verfassungsbeschwerde eingelegt. Der zuständige Berichterstatter des Verfassungsgerichtes, Brun-Otto Bryde, fordert nun das Überfällige ein: Er verlangt von PEN, VS und Börsenverein, in der Sache Stellung zu beziehen – schließlich können sie sich nicht nur dann zur Literaturfreiheit äußern, wenn es ihnen bequem ins jeweilige politische Schema paßt. Außerdem hat Bryde noch das Bundeskanzleramt um seine Meinung gebeten. Doch das ist in diesem Fall befangen. Denn einer der beiden Kläger, der im Windschatten des Verfahrens gegen Biller einen Roman, einen Krimi, hat verbieten lassen, war kein anderer als Noch-Bundeskanzler Gerhard Schröder

Veröffentlicht unter Maxim Biller | Hinterlasse einen Kommentar

Und plötzlich sitzt er neben dir

Ingo Schulze bringt mit seinem Roman „Neue Leben“ den Teufel zurück in die Gegenwartsliteratur

Der Teufel ist wieder da. Zumindest als Romanheld. Einen so weltgewandten, so charmanten und doch zugleich auch gespenstischen Auftritt wie in diesen Tagen hat er in der Literatur schon lange nicht mehr gehabt. Ingo Schulzes Wiedervereinigungs-Roman „Neue Leben“ (Berlin Verlag) gehört zu den wichtigsten, zu den meistdiskutierten Neuerscheinungen auf der Frankfurter Buchmesse 2005. Und eine zentrale Figur darin ist der häßliche, aber unwiderstehliche Clemens von Barrista, ein enger Verwandter der großen Teufelsgestalten der Weltliteratur. Ingo Schulze treibt ein ebenso kluges wie ironisches und witziges Spiel mit diesen Vorbildern. Denn der Teufel gehörte lange zu den Lieblingsfiguren der Schriftsteller. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert war er für sie nur noch selten der plumpe Bösewicht mit Hörnern, Bocksbeinen und Schwefelgeruch. Viel lieber machten sie ihn zum raffinierten Verführer, zu einem mal eleganten, mal etwas schäbigen Versucher und Seelenfänger. Von Dante bis Boccaccio, von Christopher Marlowe bis John Milton, von Byron bis Shelley, von Victor Hugo bis Maupassant, von Paul Valéry bis André Gide, von Dostojewski bis Tolstoi und Michail Bulgakow haben einige der größten Autoren der Welt ihm literarisch Referenz erwiesen. Doch die bedeutendste Rolle spielten Beelzebuben, Satane, Mephistos und Höllenfürsten wohl in der deutschen Literaturgeschichte. Seit dem 500 Jahre alten Volksbuch über den „Schwarzkünstler“ D. Johann Faust ist der Teufel hierzulande in jeder Epoche zum (Anti-)Helden wichtiger Bücher gemacht worden. Lessing und Klopstock, Goethe und Klinger, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, Lenau und Grabbe, Heine und Hauff, Hugo von Hofmannsthal und Thomas Mann haben ihm mitunter nur Neben-, oft genug aber auch Hauptrollen in ihren bedeutendsten Dramen oder Romanen eingeräumt. So ist es letztlich nur folgerichtig, wenn Ingo Schulze angesichts des zutiefst deutschen Themas Wiedervereinigung an diese zutiefst deutsche Literaturtradition anknüpft. In „Neue Leben“ erzählt Schulze von Türmer, einem jungen DDR-Schriftsteller, der so gern zu einem literarischen Regimekritiker geworden wäre, der aber nach dem Fall der Mauer seinen Lebensplan durchkreuzt sieht und nun mit Freunden eine Zeitung aufbaut. Sie beginnen als Idealisten, die zur Demokratisierung ihres Landes beitragen wollen. Aber schon bald wird ihnen klar, daß sie vor allem Geld verdienen müssen, wenn sie ihre Zeitung am Leben erhalten wollen – und so gründet Türmer schließlich ein kostenloses Anzeigenblatt, daß zwar keinen journalistischen Anspruch mehr hat, dafür aber rosige materielle Perspektiven. Den Helden mancher Märchen und mancher Meisterstücke der deutschen Literatur geht es ähnlich. Wie Türmer seine Ideale, so tauschen sie ihr Lächeln, ihren Schatten oder eben – wie Faust – ihre Seele ein für Geld, Macht oder das Wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und der, der sie zu diesem Tausch verführt, der sie mit immer neuen Versuchungen lockt, ist, gleichgültig hinter welcher Maske er sich verbirgt, allemal der Teufel selbst. Noch heute spürt man in diesen alten Büchern etwas von der Angst, die viele Autoren zu Beginn von Aufklärung beschlich, als sie begriffen, daß sich die Welt anschickte, die Zauber der Traditionen und die religiösen Gewißheiten einzutauschen gegen die Freiheiten und den Wohlstand des modernen Lebens. Auch Ingo Schulze teil die Rolle dessen, der den Zeitungsgründern nach und nach ihre Träume raubt und sie in die entzaubernden Gesetze der Marktwirtschaft einführt, dem Teufel zu. Allerdings hüllt er seinen Teufel Clemens von Barrista in sehr zeitgenössische und sachlich angemessene Kleider, nämlich in die eines Unternehmensberaters. Und legt ihm dazu noch das Glaubensbekenntnis eines überzeugten Wirtschaftsliberalen in den Mund: „Das eigene Interesse“ predigt Barrista den ach so naiven Nachwuchsjournalisten, „sei noch immer der beste Ratgeber, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gemeinschaft, ja für die Menschheit. Davon sei er zutiefst überzeugt.“ Schon die Szene, mit der Schulze diesen diabolischen Manager in sein Buch einführt, zeigt sein schriftstellerisches Geschick. Bereits die großen Romanciers der Vergangenheit ließen den Teufel nicht mit Blitz und Donner vor ihren Helden aus dem Boden fahren, sondern – was letztlich viel beklemmender wirkt – ließen ihre Helden in einem ruhigen Moment begreifen, daß der Teufel längst geraume Zeit still bei ihnen sitzt. Der Adrian Leverkühn Thomas Manns zum Beispiel oder auch der Iwan Karamasow Dostojewskis schauen nichtsahnend in ihren Zimmern auf und sehen den Leibhaftigen vor sich. Fast genauso bei Schulze: Türmer arbeitet am Schreibtisch, bis er das undeutliche Gefühl hat, als würde ihm jemand „vorsichtig von hinten einen Hut aufsetzen“. Er dreht sich um und da sitzt Barrista, leise, geduldig wartend, mit schwarzem Haar, blasser Haut und einem einäugigen Hund als Begleiter. Doch nicht nur auf literarische, auch auf biblische Motive greift Schulze in seinem Roman zurück. Das Matthäusevangelium (4, 1-11) erzählt von der Versuchung Jesu: Der Teufel führt ihn auf „einen sehr hohen Berg“, zeigt ihm die „Welt und ihre Herrlichkeiten“ und verspricht ihm alles, wenn er Gott abschwört. Auch Barrista führt Türmer auf einen Turm, von dem aus sie ihre Stadt bequem überschauen können. Doch er zeigt ihm nicht die Herrlichkeiten der Welt, sondern – eine wunderbare ironische Volte Ingo Schulzes – die ehemaligen DDR-Betriebe der Region, die nach der Wende unfehlbar Bankrott gehen werden. Und Barrista macht Türmer klar, welche Gefahren, aber auch welche riesigen Chancen diese Situation für einen jungen Unternehmen birgt. Ein Mißverständnis wäre es jedoch zu glauben, Schulze spiele in seinem Roman einen kapitalistischen Teufel gegen eine Schar edler sozialistischer Engel aus. Nein, er läßt keinen Zweifel daran, was für ein immenses Glück es für Türmer und seine Freunde bedeutet, den kleinkarierten Diktatoren der DDR entkommen zu sein. Barrista lehrt sie lediglich, die Möglichkeiten zu nutzen, die sich ihnen nach dem Fall der Mauer bieten. Er lehrt sie Champagner, kostbare Weine, Austern zu genießen und schickt sie auf Reisen ans Mittelmeer. Die Welt steht ihnen offen, was sie nun daraus machen, liegt ganz bei ihnen selbst. Und das ist vielleicht die eigentliche Funktion all der Teufel in den Literatur der Neuzeit: Nämlich die Menschen daran zu erinnern, daß sie frei sind.

Veröffentlicht unter Ingo Schulze | Hinterlasse einen Kommentar