“ Volker Brauns neuer Lyrikband
Einst glaubte Volker Braun felsenfest an die marxistische Geschichtsphilosophie und hielt in seinen Gedichten dem realen Sozialismus die Ideale des Sozialismus vor. Die Funktionäre der DDR verstrickten ihn deshalb in einen zähen Abnutzungskleinkrieg, der ihm mehr und mehr zur Qual wurde. Dennoch konnte er die Wende 1989 nicht als Befreiung empfinden, sondern quittierte er sie mit der Zeile: „Der Sozialismus geht, und Johnny Walker kommt“. Angesichts der gründlich veränderten politischen Lage fürchtete er, seine literarische Arbeit könnte Ziel und Zweck verlieren: „Unverständlich wird mein ganzer Text“. „Auf die schönen Possen“ heißt nun der neue Lyrikband von Volker Braun, und er ist sein persönlichstes, sein intimstes Buch seit langem. Braun hat inzwischen das klassische Rentenalter erreicht, und also sollte man sich nicht wundern, wenn er mit Blick auf die Zukunft seltener von politischen Utopien und dafür immer öfter vom Friedhof spricht. „Der Wechsel der Zeiten, der keine Hoffnung ist“, schreibt er, „bis du dem Boden / Gleich bist: Braun“. Doch diese Aussicht ist für ihn nicht nur ein Anlaß zur Melancholie, sondern ebenso ein Grund mehr, den Augenblick genießen zu wollen: „Geh und lebe mit Lust“, ruft er sich aufmunternd zu und verteidigt ausdrücklich die titelgebenden schönen Possen: „An die Liebe halt dich, die vergeht. / Nach Höhrem nicht verrenk den Geist. / Bereichre dich an der Vergänglichkeit / Nur was verwelkt gewährte Lust.“ Sicher, auch in der Vergangenheit hat Braun in seiner Lyrik neben den großen theoretischen Fragen immer Platz gehabt für ein Loblied auf Liebe, Lust und Sinnlichkeit. Doch nie fiel sein Plädoyer so brüsk und entschieden aus wie diesmal: „Das Großeganze ist geschenkt: / Von Einzelheiten werd ich satt.“ Hat Braun, der wie wenige andere unter unseren Gegenwartsdichtern eben jenes Großeganze der Gesellschaft zum lyrischen Thema machte, sich nun also den Gesängen auf private Freuden zugewandt? Er wäre nicht der erste Dichter, der – nachdem ihm die politischen Utopien unerreichbar wurden – die Liebe als größte aller Utopien für sich entdeckt. Manchmal scheint es so: In einem Zyklus mit „Totentänzen“ werden Nachrufe angestimmt auf „Kommunismus“, „Ideologie“ oder „Klassenkampf“. Und daran schließt sich demonstrativ ein Zyklus mit Liedern vom „Liebeslager“ an. Doch dann ist wieder, wie in alten Zeiten, von der „herrschenden Klasse“ die Rede, den „Arbeitern und Bauern“, denen ihre „beschißne Bescheidenheit“ vorgehalten wird. Oder es wird nostalgisch die Mauer betrauert, die zwar eine „finstere“, aber auch eine „funktionierende Sache“ gewesen sei: „Zu schnell weggerissen / Das war der Leichtsinn / Eines ahnungslosen Jahrhunderts“. Natürlich schwingt in solchen Zeilen immer ein wenig Ironie mit, doch belegen sie zugleich ganz unironisch, daß Braun in seinen Gedichten trotz des lauten Tuschs „Auf die schönen Possen“ keineswegs vom Großenganzen lassen möchte. So macht das neue Buch alles in allem einen etwas zerfahrenen und ratlosen Eindruck. Mal heißt es im Kassandraton, es werde „in diesem Jahrhundert rauher zugehen auf dem Planeten“ – dann wieder ist kühl davon die Rede, wir gingen „aus einem kurzen / In ein belangloses Jahrhundert“. Natürlich würde dem klugen Dialektiker Braun so manche Entgegnung auf diese Diagnose einfallen, mit der er die widersprüchlichen Töne seines Bandes leichthändig zu den je zwei Seiten der selben Medaille erklärte. Und wirklich, wir leben in widersprüchlichen Zeiten – weshalb sollte gerade ein Dichter von ihnen verschont bleiben? Aber wie immer man den Befund auch wendet: In einer Lyriksammlung, die den Lüsten und der Sinnlichkeit programmatisch einen so hohen Rang einräumt, müßten Lüste und Sinnlichkeit letztlich spürbarer werden als hier. Doch in dem Band gibt es kaum sinnliche Details, die tatsächlich Ausstrahlungskraft gewinnen, kaum eine Zeile, die ins Ohr geht, kaum ein Bild, das sich in der Erinnerung festsetzt. So erweist sich Brauns Ankündigung, seine gewohnte Welt der geschichtsphilosophischen Ideenlyrik hinter sich zu lassen und sich dichtend kopfüber ins pralle Leben zu stürzen, als ein (vorerst?) nur theoretisches Vorhaben. Natürlich, seine Gedichte sind nach wie vor konzentriert und klug, aber seine Sprache wirkt gleichsam verkanten und verschraubt. Braun fällt sich immerzu selbst ins Wort, packt Einfälle, Anspielungen, historische Reminiszenzen, Text-Fundstücke, Dialoge, Impressionen, Wortspielereien in seine Gedichte, die damit für jeden literarischen Rätselfreund zum gefundenen Fressen werden. Aber sie büßen jeden Schwung, jeden Rhythmus, jede Sprachkraft ein. Schade.
Volker Braun: „Auf die schönen Possen“. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 97 Seiten, 16,90 €