Mit „Neue Leben“ hat Ingo Schulze den Roman der deutschen Wiedervereinigung geschrieben
An keinen anderen ostdeutschen Schriftsteller haben sich seit der Wende so große literarische Hoffnungen geheftet, wie an Ingo Schulze. Seine beiden ersten Bücher „33 Augenblicke des Glücks“ (1995) und „Simple Storys“ (1998) wurden von den Kritikern mit Lob und Preisen förmlich überschüttet. Dieser Autor besitzt, das war von Beginn an nicht zu übersehen, ein herausragendes Talent als Erzähler. Souverän jonglierte er mit den unterschiedlichsten Formen und Tonfällen, jede seiner Geschichten wirkte ganz mühelos gekonnt, woran auch immer er sich erprobte, es gelang ihm. Obwohl er beim Erscheinen dieser Bücher erst Mitte Dreißig war, schien es bereits eine ausgemachte Sache zu sein: Ingo Schulze zählt zu den Stars, zu den jungen Meistern der deutschen Gegenwartsliteratur. Doch dann wurde es auffällig still um ihn. Fast drei Jahre der Suche hat er benötigt, so berichtet er heute, „bis dann die ersten Sätze auf dem Computer waren“ zu seinem nächsten Buch. Und fünf weitere Jahre brauchte er, um es zu schreiben. Jetzt ist es endlich da, ein 800-Seiten-Roman mit dem Titel „Neue Leben“ – und die Erwartungen sind nach so langer Wartezeit naturgemäß enorm. Doch zu Enttäuschungen besteht nicht der geringste Anlaß, Ingo Schulze löst tatsächlich jede Hoffnung ein, die man in ihn setzte. Was für ein ungeheures, was für ein großartiges Buch! Ich habe seit Jahren keinen neuen deutschen Roman mehr gelesen von solchem literarischen Rang. „Neue Leben“ ist vieles zugleich: Ein Roman des deutschen Wiedervereinigungsjahres 1990 aus ostdeutscher Sicht, ein Roman über die frühere Dissidentenszene der DDR, der diese Szene nicht schont, ein Künstlerroman, der nicht von der Kunst schwärmt, sondern vor ihr warnt, und nicht zuletzt ein Roman über Gefahren und Genüsse des freien Unternehmertums. Vor allem aber ist Schulzes Buch ein ironisch funkendes, an einige der schönsten Traditionen der deutschen Literaturgeschichte kunstvoll anknüpfendes, ein vor Erzählfreude übersprudelndes Lesevergnügen. Der Held der „Neuen Leben“ heißt Enrico Türmer. Gleich nach dem Mauerfall baut er zusammen mit Freunden in einer thüringischen Provinzstadt eine kleine, aber freie Wochenzeitung auf: das „Altenburger Wochenblatt“. Auch Ingo Schulze hat sich in jenen Jahren als Zeitungsgründer versucht, und es ist zu vermuten, daß er manche schmerzhafte Erfahrung aus dieser Zeit in sein Buch einfließen ließ. Türmer und seine Mitstreiter starten voller hochfliegender Ideale, sie wollen als Journalisten die Demokratisierung ihres Land vorantreiben, die Politiker kontrollieren und den Bürgern eine öffentliche Stimme geben. Doch die veränderte Realität im wiedervereinigten Deutschland holt sie unerbittlich ein. Selbst mit dem übelsten Skandal, den sie aufdecken, erreichen sie nur noch ein Bruchteil jener Resonanz, die in alten DDR-Zeiten schon ein kleines ungenehmigtes Flugblatt erzielte. Und um die Zeitung am Leben und den Mitarbeitern die Arbeitsplätze zu erhalten, müssen sie sich weit mehr Gedanken über Betriebswirtschaft machen als über Politik. Schon nach ein paar Wochen sind die früheren Freunde tief zerstritten und Türmer startet ein kostenloses Anzeigenblatt, das zwar Geld bringt, dafür aber auf jeden journalistischen Anspruch verzichtet. Zu den wunderbaren Kunstgriffen Schulzes gehört, daß er seinen Helden von diesem rasanten Ernüchterungsprozeß in lauter Briefen selbst erzählen läßt: An jeder Zwischenstation seiner Wandlung ist Türmer fest davon überzeugt, den einzig moralisch richtigen Standpunkt einzunehmen – und doch entwickelt er sich vor den Augen des Lesers mit gespenstischer Folgerichtigkeit vom naiven Idealisten zum begeisterten Geschäftemacher. Vorangeschubst wird er auf diesem Weg zudem durch einen westlichen Unternehmensberater, einen überaus häßlichen, aber charmanten und weltgewandten Verführer, den Ingo Schulze nach guter alter literarischer Tradition als Teufel, als eine Art modernen Mephisto inszeniert. In einer anderen Serie von Briefen berichtet Türmer einer westdeutschen Freundin von seiner Jugend in der DDR. Früh schon fühlte er sich zur Literatur berufen, startete erste pubertäre Schreibversuchen und rechnete sich sofort prächtige Chancen aus, von den Machthabern irgendwann als regimekritischer Schriftsteller in den Westen ausgewiesen zu werden. Doch schnell muß er feststellen, daß auch mit der Dissidentenszene nicht gut Kirschenessen ist: Der einzige Mitschüler, der seine Abneigung gegen die DDR offen teilt, tritt fast genauso anmaßend und dogmatisch auf wie der SED-treue Lehrer. Sobald der erste echte Konflikt auftaucht, fühlt sich Türmer von beiden Seiten gleichermaßen unter Druck gesetzt. Wie Schulze in diesen Szenen aus dem Schulbetrieb der DDR zentrale Motive der großen deutschen Schülerromanen und -novellen von Robert Musil, Herrmann Hesse oder Thomas Mann gleichermaßen zitiert und ironisiert, ist schlichtweg hinreißend. Die jugendlichen Helden jener Klassiker suchten bei der Literatur Zuflucht, weil sie von ihren Klassenkameraden als Außenseitern abgelehnt und ausgeschlossen werden. Schulzes Held Türmer dagegen hat beschlossen Schriftsteller zu werden und fühlt sich deshalb regelrecht verpflichtet, ein Außenseiter zu sein. Doch zu seiner Ernüchterung stellt er fest, daß ihn seine Mitschüler gar nicht im erwarteten Maße ablehnen, und daß zudem die ersehnte Außenseiterrolle bereits von einem fanatischen Wehrdienstverweigerer besetzt ist. Vor allem aber versucht Ingo Schulze am Beispiel Türmers zu zeigen, welche verblüffende, gleichsam religiöse Funktion der Westen für manche DDR-Bürger übernahm, solange der Eiserne Vorhang noch eisern geschlossen war. „Der Westen war unser Jenseits“, sagt Schulze heute, „das real existierende Paradies.“ Gerade weil die Mauer für ihn unüberwindbar ist, gibt sich Türmer insgeheim der Vorstellung hin, der Westen sei ganz und gar frei von allen Sorgen, Nöten, Problemen, mit denen er sich in der DDR herumplagen muß. Im Westen, so glaubt er, warte so etwas wie Erlösung auf ihn. Doch als dann die Mauer fällt, durchschaut er seine Illusionen, wird krank, verbringt wie eine verpuppte Raupe einige Wochen im Schlafsack, und ist nach dieser Metamorphose bereit die Rolle des renitenten Ost-Autors mit der eines gewieften Geschäftsmanns zu vertauschen. Es ist bewundernswert, wie leichthändig und zugleich spannend Schulze sowohl die Jugendgeschichte Türmers als auch seine Krise während der ersten Wochen der Wende und dazu noch seine rasante Karriere als Zeitungsmanager zu erzählen versteht. Er bändigt in diesem Buch Materialmengen, die spielend für drei Romane ausgereicht hätten. Oft wird behauptet, unsere Gegenwart sei zu komplex geworden, als daß es noch möglich wäre, in einem Gesellschaftsroman ein zutreffendes Bild von ihr zu zeichnen. „Neue Leben“ darf man getrost als Gegenbeispiel zu dieser These betrachten: So wie Jonathan Franzens Roman „Korrekturen“ das bürgerliche Amerikas während der Jahre des Börsenbooms porträtiert, so entwirft Schulze mit „Neue Leben“ ein überzeugendes Panorama des bürgerlichen Deutschlands während der Wiedervereinigung. Das schönste an diesem Roman jedoch ist, daß er zwar einerseits den Druck nicht verniedlicht oder verschweigt, unter dem fast jeder Ostdeutsche stand, der nach der Wende ein neues Leben beginnen mußte. Doch andererseits gelingt es Schulze, etwas von dem Glück der Befreiung, von dem Taumel und dem Jubel einzufangen, der das Land nach dem Fall der Mauer erfaßte. In diesen Passagen vibriert eine unbändige Lust an der frisch gewonnen Souveränität: Es ist, schreibt Türmer triumphierend zu Beginn des Jahres 1990, „als wäre ich endlich befugt, am Leben teilzunehmen.“ Dies alles, den Jubel und die danach aufbrechenden Sorgen, die Erinnerung an das verquere Leben in einer Diktatur und den krisenhaften Start in eine unbekannte Zukunft in ein Buch gebannt zu haben – das ist eine reife, eine wahrhaft meisterliche literarische Leistung.
Ingo Schulze: „Neue Leben.“ Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa.
Berlin Verlag, Berlin 2005, 790 Seiten, 22,00 €