Hans-Ulrich Treichel erzählt den Roman einer midlife crisis
Stephans Leben macht einen soliden Eindruck. Sein fünfzigster Geburtstag liegt hinter ihm, er hat eine halbe, dafür aber unbefristete Stelle an der Universität, und er ist verheiratet mit einer erfolgreichen, selbstbewußten Psychoanalytikerin. Dazu hat er eine viel beachtete Erzählung geschrieben über einen älteren Bruder, den seine Eltern gegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Alter von sechzehn Monaten auf der Flucht vor russischen Truppen zurücklassen mußten. Dieser Bruder blieb verschwunden und die bohrenden Schuldgefühle der Eltern überschatteten Stephans Kindheit. Jedoch ist Stephan ehrlich genug sich einzugestehen, daß es ihm in seiner Erzählung im Grunde nicht um den Bruder, sondern vor allem darum ging, die eigenen „ererbten Schuldgefühle“ zu lindern. Hans-Ulrich Treichel rührt in seinem neuen Buch „Menschenflug“ unübersehbar die Zutaten zu dem Roman einer midlife crisis an. Stephan hat alle wesentlichen Lebensbereiche im Griff, er ist einigermaßen gesund, sein Job verschafft ihm ein zuverlässiges Auskommen, seine Ehe darf als harmonisch gelten und er konnte sich sogar mit literarischen Mitteln über seine seelischen Probleme klar werden. Was also ist für ihn noch zu tun? Mit gut fünfzig Jahren weiß er, was er beruflich kann und wer er psychisch ist. Bleibt folglich nur die Frage zu beantworten, was er will. Was er mit dem letzten Drittel seines Lebens anfangen möchte. Tatsächlich hat sich Stephan eine einjährige Auszeit von der Familie genommen, ist allein in eine kleine Dachwohnung gezogen, um über sich und sein Leben nachzudenken. So weit, so gut, für einen Roman sind das prinzipiell reizvolle Ausgangsbedingungen: Was fängt ein Mensch mit sich an, nachdem er alle Aufgaben, die von außen, von Gesellschaft, Familie, Mitmenschen an ihn herangetragen wurden, glanzvoll oder auch glanzlos erledigt hat? Das Unglück des Romans „Menschenflug“ beginnt dann allerdings damit, daß sich Stephan als eine rasend uninteressante Figur entpuppt. Er kennt keinen Ehrgeiz und keine Leidenschaften, er hat keine stillen Laster oder unerfüllten Begierden, sein Temperament ähnelt dem eines Faultiers und seine Bereitschaft, neue materielle oder emotionale Risiken einzugehen, tendiert gegen Null. Er arbeitet ein bißchen, joggt ein bißchen, radelt ein bißchen durch die Stadt und weiß ansonsten nichts mit sich anzufangen. Natürlich könnte sich auch aus diesen Voraussetzungen noch eine bemerkenswerter Roman entwickeln lassen: Die Studie eines Mannes nämlich, der so energielos und gefühlsleer ist, daß er passiv dabei zuschaut, wie sein Leben in den immer gleichen Bahnen auf das unvermeidliche Ende zurollt. Doch wenn Stephan ein solcher Mensch wäre, weshalb legt dann seine kluge und aktive Frau so großen Wert auf das Zusammensein mit ihm? Und warum hat sich dieser angeblich banale, apathische Mensch seinerzeit dazu aufgeschwungen, eine Erzählung zu schreiben, die noch Jahre später manche Leser beschäftigt? Und wieso geht eine ältere, attraktive Archäologien, die er im Urlaub kennenlernt, sofort mit ihm ins Bett? Irgend etwas Besonderes, irgend etwas Anziehendes muß an Stephan dran sein – doch Treichel gelingt es nicht, uns zu zeigen, was das ist. So wirkt Stephan nicht wie eine Romanfigur, sondern wie ein psychologisch wenig überzeugender Pappkamerad. Treichel demonstriert anhand seines Schicksal die nicht eben überraschende Einsicht, daß man den Mut haben muß, sich auf das Leben einzulassen, wenn man am Leben teilhaben will. Stephan scheut regelmäßig im letzten Moment vor den Unbequemlichkeiten und möglichen Enttäuschungen zurück, die jedes Engagement naturgemäß mit sich bringt. Und so endet dieser Roman wie jeder zweite deutsche Roman über eine midlife crisis in den letzten Jahren endete: Stephan bricht seine Familienauszeit ab, möchte zu seiner Frau zurück und muß sich zugleich von den Ärzten sagen lassen, daß seine Herzkranzgefäße zu verkalken beginnen. Eine Diagnose, die der Leser getost als einen überdeutlichen, literarisch abgenutzten Hinweis darauf verstehen darf, daß Stephans Herz auch im metaphorischen Sinne immer hart und härter wird. Hans-Ulrich Treichel zählt heute zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern der mittleren Generation. Zu Anfang wirkte er, wenn man vor allem auf seine Sprache achtete, wie ein amüsanter Neffe Thomas Bernhards. Es gelang ihm sehr ernste Themen literarisch außerordentlich heiter zu verpacken: die seelischen Verwüstungen einer Vertriebenenfamilie (in „Der Verlorene“, 1998), die Selbstfindungsnöte eines jungen Künstlers angesichts eines alternden Weltstars, der ihn an die Wand zu drücken droht (in „Tristanakkord“, 2000) und die durchaus beängstigende Sexualneurose eines vereinsamten Studenten (in „Der irdische Amor“, 2002). In „Menschenflug“ versucht Treichel jenes bewährte Schema hinter sich zu lassen. Die ironische Distanz, mit denen er seine Helden sonst schilderte, ist deutlich geringer geworden. Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden, es wäre engstirnig, Treichel ein für alle Mal auf die literarische Machart seiner vorangegangenen, erfolgreichen Bücher festlegen zu wollen. Doch leider ist zusammen mit der Ironie, mit der er seine Figuren sonst betrachtete, in dem neuen Roman auch viel von deren Charme, Originalität und psychologischer Glaubwürdigkeit verloren gegangen.
Hans-Ulrich Treichel: „Menschenflug“. Roman Suhrkamp, Frankfurt am Main 234 S., 17,80 €