Spätsommerliche Begegnung mit dem japanischen Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe
Im besten Hotel Frankfurts, zwischen all den Clubsesseln, lautlosen Pagen, Mahagonitischchen und Stofftapeten, mit denen beste Hotels so gern renommieren, sitzt Kanzaburo Oe auf einem kleinen Sofa. „Life is so dark“, sagt er, „so dark“, legt sich dazu eine Hand auf die Brust wie zum Schwur und lacht breit über sein siebzigjähriges Kindergesicht: „So dark.“ Draußen leuchtet ein lichtblauer Himmel. Der herrlichste Spätsommer seit Jahren schenkt der Stadt wundersamen Glanz und ihren Menschen vorübergehend eine seltene Sanftheit, Lockerheit. Es ist definitiv kein Tag, an dem man gern hört, daß die Welt finster sei, so finster. Aber sie ist es. Natürlich. Da darf sich niemand vom Wetter täuschen lassen. Der Sonnenschein vergeht, die Finsternis bleibt. In Oes Erzählung „Stolz der Toten“ zum Beispiel steigen zwei Studenten aus dem Tageslicht in den Leichenkeller ihrer Universität herab. Dort werden in einer riesigen alkoholgefüllten Wanne Menschenkörper aufbewahrt, bis die Pathologen sie brauchen. Einige der Leichname, erzählt der Verwalter, warten schon seit Jahren. „In dunkelbraune Flüssigkeit getaucht“, so beginnt das Buch, „mit verschlungenen Armen, die Köpfe aneinanderdrängend, treiben wie eine einzige Masse die Toten herauf, um allmählich wieder zu versinken.“ Ja, so ist das mit den Menschen, die für den kurzen Augenblick eines Lebens aus der Flut der Zeit herauftreiben, um allmählich wieder darin zu versinken. Dann sind die beiden Studenten und der Verwalter einen Moment ganz leise und hören, wie die Toten flüstern: „Manchmal werden sie still und verfallen schlagartig in Schweigen; dann plötzlich setzt das Geraune wieder ein.“ Nicht, daß die drei sonderlich erschrocken wären über dieses Mitteilungsbedürfnis aus dem Jenseits. Die shintoistischen Japaner achten zeitlebens darauf, mit den Ahnen einen alltäglichen Umgang zu pflegen, sie besucht sie oft in ihren Schreinen.
Uwe Wittstock: Können die Lebenden mit den Toten sprechen, Herr Oe?
Kenzaburo Oe: Ich bin jetzt siebzig Jahre alt, ich bin ein alter Mann, der Tod wird mir immer vertrauter. Er steht mir inzwischen als natürlicher Übergang vor Augen. Da liegt es nahe, den Dialog mit denen zu suchen, die den Übergang schon hinter sich haben. Es gibt definitiv ein Gespräch zwischen Toten und Lebenden. Dieses Gespräch ist ein wichtiger Teil der Kultur, es macht in gewissem Sinne die Kultur aus. In seinem jetzt erschienenen Roman „Tagame“ entwirft Oe einen solchen Dialog – der natürlich eine Fiktion ist und zugleich mehr als Fiktion. 1997 beging der japanische Regisseur Itami Juzo Selbstmord. Mit Filmen wie „Beerdigungszeremonie“, „Tampopo“ oder „Tanz am Abgrund“ war er zu einer beherrschenden Figur des japanischen Kinos herangewachsen und wurde auch international gefeiert. Sein überraschender Freitod erschütterte Oe, denn er ist mit Itamis Schwester verheiratet und war mit ihm seit Jugendjahren befreundet. In seinem Roman heißt der Regisseur Goro. Er hat für seinen Freund, einen Schriftsteller namens Kogito, einen Stapel mit Tonbandkassetten besprochen, bevor er von einem Hochhaus sprang. „Ich werde mich nun also ins Jenseits aufmachen“, nuschelt Goro alkoholisiert auf einem der Bänder, spielt dann als effektsicherer Regisseur das Geräusch eines Körpers ein, der aus großer Höhe auf Asphalt aufschlägt, und fährt fort: „Aber ich breche das Gespräch mir dir nicht ab.“ Wittstock: Lernen man etwas über sich selbst, wenn man mit den Toten spricht? Oe: Es gibt tatsächlich ein solches Tonband, das Itami vor seinem Tod für mich besprochen hat. Es ist nur eine einzige Kassetten, gerade zwanzig Minuten lang. Itami redet darauf zum Beispiel über Albert Camus oder über die Gewalt. Er hat gewissermaßen einen Themenkatalog abgesteckt für künftigen Gespräche. Dieses Tonband habe ich mitgenommen, als ich bald nach Itamis Tod als Gastprofessor nach Berlin eingeladen wurde und habe dann in Deutschland die Arbeit begonnen an meinem neuen Roman. Ich ließ das Band laufen, hörte ein paar seiner Sätze, stoppte und versuchte ihm dann zu antworten. Manches von diesen Dialogen ist dann in das Buch eingegangen. Habe ich dabei etwas über mich gelernt? Früher kam ich mir sehr dumm vor, wenn ich mit Itami sprach, er schien alles schneller zu begreifen als ich. Heute habe ich das Gefühl, daß ich gar nicht so schlecht war in den Gesprächen, die wir in unserer Jugend hatten. Wieder lacht Oe, als sei er, Japans Literaturnobelpreisträger, noch heute stolz darauf, in den Gesprächen mit seinem Freund eine ganz gute Figur gemacht zu haben und sei zugleich ein wenig verlegen, sich auf solche Weise ungeniert selbst zu loben. Sein Roman „Tagame“ reicht weit zurück in die Vergangenheit Goros und Kogitos. Die beiden verbindet ein Geheimnis aus den Jahren der amerikanischen Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg, an das sie als Erwachsene jahrzehntelang nicht rühren: „DIESE SACHE“. Haben sie sich um ein Haar in die Machenschaften einer nationalistischen Terrorgruppe hineinziehen lassen, die Anschläge gegen die amerikanischen Truppen plante? Oder geht es um eine homosexuelle Begegnung zwischen Goro und einem amerikanischen Offizier? Oder um beides? Immer wieder rückt das Buch die zwei Romanfiguren bis zum Verwechseln nahe an die realen Personen Itami und Oe heran. Kurz nach dem finsteren, später so sorgsam beschwiegenen Zwischenfall ihrer Jugend will der künftige Regisseur ein Foto vom künftigen Schriftsteller machen: Kogito soll auf einem Spiegel liegen, Wange an Wange mit seinem Spiegelbild, umgeben von seinen Notizzetteln. Blättert der Leser nach dieser Szene im Buch um, findet auf der folgenden Seite eben dieses Foto, und der junge Mann darauf ist dem jungen Oe wie aus dem Gesicht geschnitten.
Wittstock: Obwohl man in Japan engere Beziehungen zu den Ahnen pflegt als wir in Europa, scheinen die Japaner dazu zu neigen, über bestimmte historischen Tatsachen konsequent zu schweigen. Vor allem mit Blick auf die Rolle Japans im Zweiten Weltkrieg.
Oe: Ich bewundere Deutschland für die Entschlossenheit, mit der es sich der eigenen Vergangenheit konfrontiert hat. Die Verehrung der Ahnen ist bei uns in Japan sehr pauschal. In dem Schrein, in dem sich die Seelen der Soldaten versammeln, die im Krieg gefallen sind, werden Kriegsverbrecher ebenso geehrt, wie zum Beispiel einfache Dorfbewohner, die vom japanischen Militär zum Selbstmord gezwungen wurden, damit sie nicht in amerikanische Kriegsgefangenschaft gerieten. Damals mußten Mütter ihre Säuglinge töten und dann sich selbst. Die Seelen dieser ermordeten Babys finden nun im gleichen Schrein ihre Ruhe wie die Seelen deren, die ihre Ermordung anordneten. Ich habe ein Buch über das Schicksal dieser Babys geschrieben und bin verklagt worden von Hinterbliebenen jener Offiziere, die damals das Kommando führten. Wittstock: Können die Japaner also, gerade weil sie ihre Ahnen so verehren, nur schwer ein kritisches Verhältnis zur Vergangenheit ihres Landes entwickeln? Oe: Ja. Das ist das ein Grund. Aber alle Kriegstoten unterschiedslos in einem Schrein zu verehren, ist auch Teil der Regierungspolitik. Diese Politik sorgt für viel Zorn in anderen asiatischen Ländern wie China und Korea. Uns fehlt eine Gedenkstätte für die Menschen, die von den japanischen Truppen im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden. Ich habe großen Respekt vor dem Mahnmal, das jetzt in Berlin für die ermordeten Juden Europas errichtet wurden. Das ist eine wichtige Sache. Die Toten geben Kenzaburo Oe keine Ruhe. Er habe, sagt er, sein neues Buch „Tagame“ geschrieben, um sich ihrem Urteil zu stellen, um sich von ihnen kritisieren zu lassen kann. Und das Urteil der Toten ist streng, eine Menge Ausreden, Ablenkungen, Illusionen werden in ihrer Gesellschaft erkennbar als das, was sie sind: Ausreden, Ablenkungen, Illusionen. „Wie ist das denn für einen jungen Studenten wie Sie? Es ist doch sicher merkwürdig für Sie, bei den Toten zu arbeiten“, fragt der Verwalter des Leichenkellers in der Erzählung „Stolz der Toten“ einen seiner beiden Begleiter: „Wenn man noch voller Hoffnung ist! Gerät sie nicht ins Wanken beim Anblick der Toten?“ Oe war gerade erst 23 Jahre alt und Student, als er diese Geschichte veröffentlichte. „Ich habe keine Hoffnung“, antwortet sein junger Held. „Man braucht keine Hoffnung zu haben. Ich will mein Leben gut führen und gut studieren. Für ein solches Leben braucht man keine Hoffnung. Ich habe, außer in der Kindheit, nie mit Hoffnung gelebt, ich hatte kein Bedürfnis danach.“ Keine Hoffnung. Die Pagen huschen vorüber, die Gäste schmiegen sich in die Ledersessel. Draußen streicht die laue Luft des Spätsommers über die Lebenden. Drinnen sitzt Oe, spricht von den Toten und lacht.
Kenzaburo Oe: Tagame. Berlin – Tokyo S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 285 Seiten, 19,90 €