Ingo Schulze bringt mit seinem Roman „Neue Leben“ den Teufel zurück in die Gegenwartsliteratur
Der Teufel ist wieder da. Zumindest als Romanheld. Einen so weltgewandten, so charmanten und doch zugleich auch gespenstischen Auftritt wie in diesen Tagen hat er in der Literatur schon lange nicht mehr gehabt. Ingo Schulzes Wiedervereinigungs-Roman „Neue Leben“ (Berlin Verlag) gehört zu den wichtigsten, zu den meistdiskutierten Neuerscheinungen auf der Frankfurter Buchmesse 2005. Und eine zentrale Figur darin ist der häßliche, aber unwiderstehliche Clemens von Barrista, ein enger Verwandter der großen Teufelsgestalten der Weltliteratur. Ingo Schulze treibt ein ebenso kluges wie ironisches und witziges Spiel mit diesen Vorbildern. Denn der Teufel gehörte lange zu den Lieblingsfiguren der Schriftsteller. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert war er für sie nur noch selten der plumpe Bösewicht mit Hörnern, Bocksbeinen und Schwefelgeruch. Viel lieber machten sie ihn zum raffinierten Verführer, zu einem mal eleganten, mal etwas schäbigen Versucher und Seelenfänger. Von Dante bis Boccaccio, von Christopher Marlowe bis John Milton, von Byron bis Shelley, von Victor Hugo bis Maupassant, von Paul Valéry bis André Gide, von Dostojewski bis Tolstoi und Michail Bulgakow haben einige der größten Autoren der Welt ihm literarisch Referenz erwiesen. Doch die bedeutendste Rolle spielten Beelzebuben, Satane, Mephistos und Höllenfürsten wohl in der deutschen Literaturgeschichte. Seit dem 500 Jahre alten Volksbuch über den „Schwarzkünstler“ D. Johann Faust ist der Teufel hierzulande in jeder Epoche zum (Anti-)Helden wichtiger Bücher gemacht worden. Lessing und Klopstock, Goethe und Klinger, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, Lenau und Grabbe, Heine und Hauff, Hugo von Hofmannsthal und Thomas Mann haben ihm mitunter nur Neben-, oft genug aber auch Hauptrollen in ihren bedeutendsten Dramen oder Romanen eingeräumt. So ist es letztlich nur folgerichtig, wenn Ingo Schulze angesichts des zutiefst deutschen Themas Wiedervereinigung an diese zutiefst deutsche Literaturtradition anknüpft. In „Neue Leben“ erzählt Schulze von Türmer, einem jungen DDR-Schriftsteller, der so gern zu einem literarischen Regimekritiker geworden wäre, der aber nach dem Fall der Mauer seinen Lebensplan durchkreuzt sieht und nun mit Freunden eine Zeitung aufbaut. Sie beginnen als Idealisten, die zur Demokratisierung ihres Landes beitragen wollen. Aber schon bald wird ihnen klar, daß sie vor allem Geld verdienen müssen, wenn sie ihre Zeitung am Leben erhalten wollen – und so gründet Türmer schließlich ein kostenloses Anzeigenblatt, daß zwar keinen journalistischen Anspruch mehr hat, dafür aber rosige materielle Perspektiven. Den Helden mancher Märchen und mancher Meisterstücke der deutschen Literatur geht es ähnlich. Wie Türmer seine Ideale, so tauschen sie ihr Lächeln, ihren Schatten oder eben – wie Faust – ihre Seele ein für Geld, Macht oder das Wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und der, der sie zu diesem Tausch verführt, der sie mit immer neuen Versuchungen lockt, ist, gleichgültig hinter welcher Maske er sich verbirgt, allemal der Teufel selbst. Noch heute spürt man in diesen alten Büchern etwas von der Angst, die viele Autoren zu Beginn von Aufklärung beschlich, als sie begriffen, daß sich die Welt anschickte, die Zauber der Traditionen und die religiösen Gewißheiten einzutauschen gegen die Freiheiten und den Wohlstand des modernen Lebens. Auch Ingo Schulze teil die Rolle dessen, der den Zeitungsgründern nach und nach ihre Träume raubt und sie in die entzaubernden Gesetze der Marktwirtschaft einführt, dem Teufel zu. Allerdings hüllt er seinen Teufel Clemens von Barrista in sehr zeitgenössische und sachlich angemessene Kleider, nämlich in die eines Unternehmensberaters. Und legt ihm dazu noch das Glaubensbekenntnis eines überzeugten Wirtschaftsliberalen in den Mund: „Das eigene Interesse“ predigt Barrista den ach so naiven Nachwuchsjournalisten, „sei noch immer der beste Ratgeber, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gemeinschaft, ja für die Menschheit. Davon sei er zutiefst überzeugt.“ Schon die Szene, mit der Schulze diesen diabolischen Manager in sein Buch einführt, zeigt sein schriftstellerisches Geschick. Bereits die großen Romanciers der Vergangenheit ließen den Teufel nicht mit Blitz und Donner vor ihren Helden aus dem Boden fahren, sondern – was letztlich viel beklemmender wirkt – ließen ihre Helden in einem ruhigen Moment begreifen, daß der Teufel längst geraume Zeit still bei ihnen sitzt. Der Adrian Leverkühn Thomas Manns zum Beispiel oder auch der Iwan Karamasow Dostojewskis schauen nichtsahnend in ihren Zimmern auf und sehen den Leibhaftigen vor sich. Fast genauso bei Schulze: Türmer arbeitet am Schreibtisch, bis er das undeutliche Gefühl hat, als würde ihm jemand „vorsichtig von hinten einen Hut aufsetzen“. Er dreht sich um und da sitzt Barrista, leise, geduldig wartend, mit schwarzem Haar, blasser Haut und einem einäugigen Hund als Begleiter. Doch nicht nur auf literarische, auch auf biblische Motive greift Schulze in seinem Roman zurück. Das Matthäusevangelium (4, 1-11) erzählt von der Versuchung Jesu: Der Teufel führt ihn auf „einen sehr hohen Berg“, zeigt ihm die „Welt und ihre Herrlichkeiten“ und verspricht ihm alles, wenn er Gott abschwört. Auch Barrista führt Türmer auf einen Turm, von dem aus sie ihre Stadt bequem überschauen können. Doch er zeigt ihm nicht die Herrlichkeiten der Welt, sondern – eine wunderbare ironische Volte Ingo Schulzes – die ehemaligen DDR-Betriebe der Region, die nach der Wende unfehlbar Bankrott gehen werden. Und Barrista macht Türmer klar, welche Gefahren, aber auch welche riesigen Chancen diese Situation für einen jungen Unternehmen birgt. Ein Mißverständnis wäre es jedoch zu glauben, Schulze spiele in seinem Roman einen kapitalistischen Teufel gegen eine Schar edler sozialistischer Engel aus. Nein, er läßt keinen Zweifel daran, was für ein immenses Glück es für Türmer und seine Freunde bedeutet, den kleinkarierten Diktatoren der DDR entkommen zu sein. Barrista lehrt sie lediglich, die Möglichkeiten zu nutzen, die sich ihnen nach dem Fall der Mauer bieten. Er lehrt sie Champagner, kostbare Weine, Austern zu genießen und schickt sie auf Reisen ans Mittelmeer. Die Welt steht ihnen offen, was sie nun daraus machen, liegt ganz bei ihnen selbst. Und das ist vielleicht die eigentliche Funktion all der Teufel in den Literatur der Neuzeit: Nämlich die Menschen daran zu erinnern, daß sie frei sind.
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