„42“

Thomas Lehr schreibt eine Warnutopie

Wer einen utopischen Roman schreiben will, muß eine neue Welt erfinden können. Denn wenn das Buch tatsächlich gründlich utopisch ausfallen soll, darf das Geschilderte eben nur entfernt an unsere vertraute Welt erinnern und muß dem Leser ansonsten ein sinnreich erdachtes, komplexes Sozialgefüge mit nie gekannten Riten und Regeln vor Augen führen. Das ist beileibe keine Kleinigkeit, es verlangt nicht wenig von einem Schriftsteller. Er muß ein Epiker sein pathetischen Sinne des Wortes, der fähig ist, materialreiche Erzählströme vor dem Leser auszubreiten und sie gleichwohl übersichtlich und lebendig zu halten. Thomas Lehr, der 1999 für seine Liebesabenteurergeschichte „Nabokovs Katze“ vielstimmig gepriesen und gefeiert wurde, hat sich jetzt mit „42“ an ein solches Unternehmen gewagt. Die Welt, die er in diesem utopischen Roman präsentiert, sieht exakt so aus wie unsere Gegenwart und ist dennoch ganz und gar anders. Eine siebzigköpfige Reisegruppe aus Journalisten, Politikern und Wissenschaftlern besucht die unterirdischen Anlagen des Forschungszentrums für Teilchenphysik CERN bei Genf. Alles verläuft normal, doch als die Teilnehmer nach ihrer Rückkehr um 12:47 Uhr und 42 Sekunden wieder ans Tageslicht treten, müssen sie erkennen, daß an der Oberfläche inzwischen die Zeit stehen geblieben ist. Die gesamte Umwelt ist wie eingefroren, wie in einem dreidimensionalen Foto stillgestellt. Die Menschen verharren in skurrilen Zufallsposen, der Straßenverkehr ruht, Vögel schweben reglos in der Luft. Unverrückbar steht und strahlt über allem die Mittagssonne. Den schockierten CERN-Besucher wird nach und nach klar, daß jeder von ihnen für sich in einer Art Zeitblase weiterlebt und sich normal bewegen kann. Ansonsten aber müssen sich die 70 Verschontgebliebenen mit schmerzlichen und seltsamen Bedingungen arrangieren: Von den Speisen, nach denen sie greifen und die sie damit in ihre Zeitblase aufnehmen, können sie sich problemlos ernähren. Auch mechanische Apparaturen sind für sie weiterhin benutzbar. Doch alle komplizierteren Maschinen, Autos, Computer versagen ihren Dienst. Vor allem: Sobald sich einer der Überlebenden den aus der Zeit gefallenen Tieren oder Menschen zuwendet, gewinnen die ihre alte Lebendigkeit nicht zurück, sondern fallen mit einem letzten Stöhnen wie bewußtlos zu Boden. Was Lehr nun folgen läßt, erinnert an viele andere utopische oder phantastische Romane, in denen ein kleiner Kreis von Menschen nach einer Katastrophe in den Resten der Zivilisation fortzuexistieren versucht. Erst zögerlich, dann immer schneller lassen die Überlebenden die alten Vorstellungen von sozialer oder moralischer Ordnung hinter sich, geben fast jede traditionelle gesellschaftliche Rücksicht auf. Schnell kommt es zu den ersten Konflikten, den ersten Toten. Die Davongekommenen stehen sich also keineswegs bei in der Not, sondern mißtrauen einander, bewaffnen und bekämpfen sich. Zudem beginnen sie bald schon mit den bewegungs- und willenlosen Menschen, die von der geheimnisvollen Zeitkatastrophe gleichsam zu Wachsfiguren verwandelt wurden, ziemlich rüde umzuspringen – und ihren offenbar höchst regen sexuellen Appetit an ihnen zu stillen. In den Mittelpunkt des Romans hat Lehr einen Journalisten namens Adrian Haffner gestellt, der Genf und die anderen Überlebenden verläßt und sich auf die Suche nach seiner Frau macht. Zwar hat er kaum Hoffnung, sie anders denn als Standbild ihrer selbst vorzufinden. Dennoch macht er sich auf eine Wanderung durch Europa, um ihr an einem unbestimmtem Urlaubsort auf die Spur zu kommen. In Berlin stößt er auf Indizien, daß sie nicht mit einer Freundin an die Ostsee, sondern mit einem heimlichen Liebhaber nach Florenz gereist ist. Er scheut den Fußmarsch nach Italien nicht, findet sie in eindeutiger Situation vor und rächt sich auf eigenwillige Weise an seinem hilflosen Nebenbuhler. Man sollte glauben, „42“ hätte mit diesen Zutaten ein recht bewegter und spannender Roman werden können, der die traurige Erkenntnis bestätigt, daß die Menschen schon unter normalen Umständen oft lügen und betrügen, daß sie aber, sobald die zivilisatorische Kontrolle erlischt, sich schnell von ihren übelsten Seiten zeigen. Allerdings ist Lehrs Grundidee, die Zeit anzuhalten, ziemlich bizarr, und sie bringt dem Buch literarisch kaum mehr ein, als vage gehaltene und kaum originelle Überlegungen über die rätselhafte Natur der Zeit. Zudem muß Lehr wiederholt Kompromisse zwischen seinem Sujet und der naturwissenschaftlichen Logik schließen: Wäre die Weltuhr tatsächlich wie von Zauberhand gestoppt worden, müßte dann nicht auch das Licht verlöschen? Denn auch das Licht existiert nicht jenseits des Zeitkontinuums. Solche Schnitzer wäre man als Leser allerdings gern bereit, in Kauf zu nehmen, wie bei so vielen Krimis die ein oder andere unglaubwürdige Wendung, wenn das Buch eine fesselnde Geschichte zu bieten hätte. Doch konzentriert sich Lehr nicht darauf, dem Leser eine klar strukturierte Handlung vorzuführen, sondern gibt sich viel zu oft damit zufrieden, Seite um Seite mit langen Beschreibungen regloser Menschen zu füllen, die in beliebigen Alltagsszenen gleichsam tiefgefroren wurden. Was eine gewisse Logik hat: In einem Roman über den Stillstand der Zeit, hält er auch den Erzählstrom immer wieder an. Doch das ändert für den Leser wenig daran, daß ihn dieses Buch auf manche harte Geduldsprobe stellt. Überhaupt wird die außerordentlich dramatische Geschichte des Buches erstaunlich undramatisch erzählt. Ob Lehr nicht anders kann oder anders will, darf hier offen bleiben: Er entwirft kaum je eine aktionsreiche Szene oder einen Dialog, der über den temperamentlosen Austausch von Phrasen hinausgeht. Statt dessen verbirgt er die Handlung in einem Verhau unübersichtlicher, verschachtelter Sätze, als daß er sie mit Gespür für erzählerische Höhepunkte klar herausarbeitete. So hinterläßt der Roman den Eindruck eines recht kuriosen Gedankenspiels, das der Autor seinen Lesern nicht souverän präsentiert, sondern in dem er sich selbst rettungslos verirrt und verzettelt.

Thomas Lehr: „42“. Roman Aufbau Verlag, Berlin 2005 368 S., 22,90 €

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