Schriftsteller sind keine besseren Menschen

Der bekannte Epiker der DDR, Erwin Strittmatter, gehörte einem SS-Regiment an. Die SED wusste das und schwieg in der Öffentlichkeit dazu.

Erwin Strittmatter, der große Epiker der DDR, gehörte im Zweiten Weltkrieg, so wurde jetzt bekannt, einem SS-Regiment an. In seiner Romantrilogie „Der Wundertäter“ hatte er Kriegserfahrungen verarbeitet, seinen Lesern aber zeitlebens vorenthalten, dass er in einer Truppe diente, die an Massakern und Geiselerschießungen beteiligt war. Die SED wusste mehr als die Leser und schwieg öffentlich dazu. Ob sie Strittmatter, der sich mitunter regimekritisch geäußert hat, mit diesem Wissen erpresste, ist unklar. Dass er erpressbar war, liegt auf der Hand. An Nachrichten wie dieser war in den jüngsten Jahren kein Mangel. Etliche Intellektuelle und Schriftsteller, die nach dem Krieg anderen ihre Nazi-Verstrickungen vorgehalten hatten, mussten sich nun mit Belegen für eigene Mitgliedschaften in NSDAP oder SS konfrontieren lassen. Prominentester Fall ist Günter Grass, der sich 2006 dazu bekannte, 1944 als 17-Jähriger zur Waffen-SS einberufen worden zu sein. Anders als Strittmatter überließ er damit die Entdeckung des heiklen biografischen Punkts nicht den Historikern, sondern gestand ihn ein. Niemand wird ihm zum Vorwurf machen wollen, dass er als Jugendlicher zur Waffen-SS geriet. Doch dass er trotz des moralischen Rigorismus, mit dem er von anderen die Offenlegung ihrer Vergangenheit forderte, selbst über dieses Kapitel seines Lebens lange schwieg, beschädigt selbstverständlich seine Glaubwürdigkeit. Die Verehrung von Schriftstellern als Repräsentanten oder als Gewissen der Nation hat in Deutschland Tradition. In einem lange unter seiner inneren Zersplitterung leidenden Land ist das verständlich. Kultur und Sprache mussten über Jahrhunderte die Klammer bilden, die den Bürgern politisch vorenthalten blieb. Zur Zeit der Weimarer Klassik gab es in Deutschland Dutzende von Kleinstaaten – aber nur einen Goethe. Nach dem Zweiten Weltkrieg dann lag das Land politisch und moralisch am Boden. Nur zu gern richteten sich die Deutschen am Glanz ihrer kulturellen Tradition wieder auf: Dieses Volk hatte Hitler hervorgebracht – aber auch Thomas Mann. Also wurde von den Autoren zuallererst Belehrung, Ernst, Sinnstiftung, Würde erwartet. Nüchtern betrachtet eignen sich Schriftsteller für eine solche Rolle nicht gut. Viele von ihnen sind, wie die meisten Künstler, labile, gefährdete und oft sehr selbstbezogene Menschen. Ein Künstler darf, wie ein Kunstwerk, nie ganz festlegbar, nie völlig berechenbar sein. Er muss überraschen und verblüffen können, muss unbewussten Eingebungen folgen dürfen, ohne sich zu jeder Zeit mit kritischer Vernunft über sein Vorgehen Rechenschaft abzulegen. „Ein Dichter ist“, um es mit Thomas Mann zu sagen, „ein auf allen Gebieten ernsthafter Tätigkeit unbedingt unbrauchbarer, einzig auf Allotria bedachter, dem Staate nicht nur nicht nützlicher, sondern sogar aufsässig gesinnter Kumpan.“ Diese habituelle Aufsässigkeit sorgt allerdings dafür, dass Schriftsteller in Diktaturen nicht selten zu Symbolfiguren von Oppositionsbewegungen heranwachsen wie Solschenizyn – oder schließlich ganz ins politische Fach wechseln wie Václav Havel. Der Mut, sich gegen vorherrschende Meinungen zu stellen, prädestiniert Autoren in manchen Situationen auch dazu, unterdrückte oder unerwünschte Ansichten in die Öffentlichkeit zu tragen wie Emil Zola in der Dreyfusaffäre oder Heinrich Böll mit seinem Aufruf „Freies Geleit für Ulrike Meinhof“. Doch all dieser oft bewundernswerten Qualitäten zum Trotz haben Schriftsteller naturgemäß keine höhere Einsicht in politischen Fragen als andere Bürger. Anders als es die Genieästhetik will, sind sie nicht von erhabenen Geistern inspiriert. Zumal in offenen, liberalen Gesellschaften, in denen jeder am politischen Meinungsstreit teilnehmen kann, dürfen sie für ihre Sicht der Dinge keine Privilegien in Anspruch nehmen. „Wenn sie sich politisch äußern“, schreibt der Philosoph Odo Marquard, „ergibt das keine politpriesterlichen Verlautbarungen des Weltgeistes ex cathedra, sondern es handelt sich dabei dann selber um politische Maßnahmen, die politisch klug und produktiv oder – insbesondere, wo sie Eitelkeiten pflegen und Wichtigkeitserlebnisse suchen – politisch unklug und kontraproduktiv sein können.“ Kurz: In politischen Fragen verdient ein Schriftstellen nicht mehr Verehrung als ein Politiker. Und er kann wie ein Politiker seine Glaubwürdigkeit gründlich verspielen.

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Peter Rühmkorf ist tot

Kleine Erinnerung an einen Paradiesvogeldichter
Peter Rühmkorf war ein Genießer. Und hinter dieser Bereitschaft zum Genuss, hinter seiner Freude an der Schönheit und am Witz steckte keine kleine Leistung. Als vaterloser Sohn, der in Deutschlands düsteren dreißiger Jahren aufwuchs, dürfte ihm früh klar geworden sein, dass der Menschen Tage auf diesem Planeten gewöhnlich nicht mit Zuckerschlecken verbracht werden. Wäre Rühmkorf ein Dichter der Schwermut geworden, es hatte niemanden wundern dürfen. Aber irgendwann einmal muss er für sich beschlossen haben, dass trübe Laune keine Lösung ist, und dass er Leben und Literatur allem Anlass für Melancholie zum Trotz so viel Glück, Glanz, Reiz und Lust wie möglich abgewinnen will. Manchmal genügte es zu sehen, wie Rühmkorf an einer Zigarette zog, um zu spüren, wie sehr er jeden Augenblick, ja buchstäblich jeden Atemzug auszukosten verstand. Er war ein ungeheuer gebildeter Dichter, aber seine Gelehrtheit hatte nie etwas Gravitätisches. Er liebte Intelligenz, weil sie schlicht viel funkelnder, anregender, unterhaltsamer ist als die Dummheit. Er liebte es, wenn Verse einen musikalischen Klang haben, weil das der Sprache etwas Sinnliches hinzufügt und sie so noch reicher macht – zumal es ohnehin viel zu viel ärmliche, klanglose, unsinnliche Sprache gibt allerorten. Er liebte das Artistische und Feinnervige, das Zündende und Bezaubernde, kurz: das Außergewöhnliche, das nur selten gelingt. All das machte Rühmkorf und seine Literatur jederzeit so zugänglich. Zum deutschen Dichter gehörte lange Zeit eine gewisse Vorliebe für den gewichtigen Auftritt als Großfürst des Geistes. Rühmkorf war das fremd. Er gehörte zum Geschlecht der fahrenden Sänger. Ihm war eine verrauchte Jazz-Kneipe allemal lieber als eine Akademie-Sitzung. Vermutlich war er der Lebenslust, um die es ihm ging, dort auch viel näher als auf den feierlich blankgeputzen, repräsentativen Podien des Kulturbetriebs, die oft als die Siegertreppchen unseres literarischen Lebens ausgegeben werden. „Nein“, schrieb er einmal, „Literatur ist ja gar nicht diese exklusive Verschlußsache, deren Siegel nur die Berufskritik zu erbrechen vermöchte, weshalb ich einem neuen Märchenbuch auch gleich des Wahlspruch ‚In dubio pro publico’ mit auf den Weg gegeben habe.“ Im März 2008 traf ich Peter Rühmkorf noch einmal zu einem Gespräch über seinen neuen Gedichtband „Paradiesvogelschiß“. Er lag während des Besuchs angekleidet auf dem Bett. Die Krankheit hatte seinen Körper fest im Griff. Was ihn nicht davon abhielt, seinen Geist schweifen zu lassen, neugierig zu fragen, zu erzählen, zu rauchen, mit seiner Frau Eva die Vorzüge und Nachteile bestimmter Heißgetränke zu erörtern und zwischendurch am Telefon mit seinem Verleger Alexander Fest die Gestaltungsdetails seines neuen Buches zu erörtern. Er war fest entschlossen, auch diesen grauen Wintertag zu genießen. Es war schön, ihm dabei zuzusehen.

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„Esra“ ist frei und verboten. Ein Kommentar

„Esra“ ist frei und verboten. Ein Kommentar 
Im vergangenen Oktober hat der erste Senat des Bundesverfassungsgericht den Roman „Esra“ von Maxim Biller mit fünf zu drei Stimmen endgültig verboten. Senatspräsident Hans-Jürgen Papier ließ es sich nicht nehmen, das Urteil während der Buchmesse zu verkünden. Dem in Frankfurt versammelten Literaturbetrieb sollte auf diese Weise wohl symbolsprachlich ins Bewusstsein gebracht werden, wer hierzulande über Möglichkeiten und Grenzen der Literaturfreiheit das letzte Wort zu sprechen hat. Nämlich die Juristen, nicht die Autoren. Das Verbot erfolgte auf Grund der Klage von Billers Ex-Freundin, die sich in dem Roman wiedererkannte und in ihrer Intimsphäre verletzt fühlte. Eine zweite Klage von deren Mutter, die sich in dem Buch verunglimpft sieht, hat das Verfassungsgericht bei dieser Gelegenheit an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen. Der musste nun noch einmal prüfen, ob auch deren Klage zu recht besteht – und hat den Roman jetzt gegen die zweite Klägerin in Schutz genommen. Nach den neuen Vorgaben, die das Verfassungsgericht formuliert habe, gebührt nach Ansicht des BGH in diesem Fall „der Kunstfreiheit der Vorrang“. Das ändert nichts an dem Urteil im ersten Fall. Billers Roman „Esra“ bleibt auch künftig verboten. Es hat aber Auswirkungen auf die Schadenersatzansprüche der zweiten Klägerin. Das Münchner Landgericht hat der ersten Klägerin bereits Schmerzensgeld in Höhe von 50 000 Euro zugesprochen. Die zweite wollte ebensoviel, wird nun aber leer ausgehen. Das belegt noch einmal, welche enorme Bedeutung das Urteil des Verfassungsgerichts vom letzten Herbst hatte. Es hat die Literaturfreiheit hierzulande neu definiert. Wie bereits die drei Gegenstimmen innerhalb des Ersten Senates zeigten, bleibt es ein hochproblematisches Urteil. Aber es hat zumindest für so viel Klarheit gesorgt, dass Bücher in manchen anderen Fällen leichter freigesprochen werden können.

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Österreichische Kindheit um 1950

Zu Gerhard Roths Autobiographie „Das Alphabet der Zeit“ anlässlich einer Lesung in Frankfurt am Main

Die griechische Mythenwelt kannte neun Musen. Sie alle waren Töchter des Zeus. Um in dieser beeindruckend großen Schar den Überblick zu bewahren, welche der Musen für welche Kunstrichtung zuständig war, gaben ihnen die Griechen auf Abbildungen Gegenstände in die Hände, an denen sich ihre Aufgaben ablesen ließen. Thalia zum Beispiel, der Schutzgöttin der Komödie, eine lachende Theatermaske und Euterpe, der Schutzgöttin der Lyrik und des Flötenspiels naturgemäß eine Flöte. Bei zwei dieser Zeustöchter können allerdings selbst exzellente Kenner der Mythologie leicht mal ins Schwimmen kommen: Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, trägt als Erkennungszeichen eine Buchrolle und einen Schreibgriffel, Kalliope aber, die Muse der epischen Dichtung, deren schöne Stimme besonders gepriesen wurde, statteten die griechischen Malern oder Bildhauern mit exakt den gleichen Merkmalen aus, mit Buchrolle und Schreibgriffel. Ein Zufall ist das nicht. Für die Griechen waren Epos und Geschichtsbericht einander so nahe, dass sie zwischen beidem mitunter nur wenig oder schlicht keinen Unterschied machten. Wer heute Romane schreibt, wird schnell ein Erzähler genannt. Bei Gerhard Roth trifft diese Bezeichnung nicht genau. Seine schriftstellerischen Leidenschaften zielen aufs Epische, auf den großen, breiten, ungeheuere Materialmassen bewegenden Erzählstrom. Er formt seine Bücher gern zu umfangreichen Zyklen und betreibt mit ihnen immer auch das, was man literarische Geschichtsschreibung nennen kann. Um es im mythologischen Vokabular zu sagen: Wenn sich Gerhard Roth an ein Manuskript setzt, dann nehmen regelmäßig Klio und Kalliope neben ihm Platz. 1991 schloss Roth nach zehnjähriger Arbeit seinen Romanzyklus „Die Archive des Schweigens“ ab, der so etwas wie ein Bewusstseinspanorama Österreichs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwirft. „Die Welt“, hat Roth einmal in einem Gespräch gesagt, „in die meine Generation hineingeboren wurde, war bankrott. Alle Sinnsysteme sind am Boden gelegen. Der nationalsozialistische Staat wie der kommunistische, der christlich-soziale wie die katholische Kirche selbst. Auch wenn sie weiter bestanden oder bestehen, hat das nichts zu sagen. Man blickte in einen erloschenen Vulkan, der dastand wie eine ewige Erinnerung an das Grauen.“ Roths sieben Romane der „Archive des Schweigens“ machen sich auf die Suche nach den Gründen für diesen Vulkanausbruch. Wie konnte es zu der Katastrophe kommen? Aber sie deklinieren dabei nicht noch einmal die allgemein bekannten politischen Daten und Vorgänge durch, sondern fahnden nach einem verborgenen Schattenreich der Geschichte, das der offiziellen Historiographie entgeht, das aber die Mentalitäten der Menschen bereit machte für den Nationalsozialismus. Wie Michel Foucault in Frankreich mit philosophischen Mitteln, so erforschte Roth mit literarischen Mitteln am Beispiel Österreichs wie ein Staat mit den Ausgegrenzten, mit den Obdachlosen, den Geisteskranken oder Kriminellen umgeht. Wie Schule, Justiz, Medizin und vor allem Militär die Menschen zurechtstutzten und reif machten für den Gewaltausbruch des Nationalsozialismus. Und wie diese Institutionen auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihren alten Mechanismen noch immer nachwirkten. Was ihn literarisch reizt, ist das, was die traditionelle Geschichtswissenschaft lange Zeit als unbedeutend beiseite schob oder immer noch beiseite schiebt. In seinem folgenden Romanzyklus mit dem Titel „Orkus“, an dem Gerhard Roth seither arbeitet, hat er dieses Geschichtsprojekt behutsam ins Internationale erweitert. In den bislang fünf Bänden „Der See“, „Der Plan“, „Der Berg“, „Der Strom“ und „Das Labyrinth“ stehen zwar auch Österreicher und damit ihre österreichische Heimat im Mittelpunkt, die Schauplätze allerdings liegen oft genug in anderen, mitunter fernen Ländern und bringen so neue, andere Perspektiven in Roths Arbeit hinein. Doch hat er darüber das spezifisch österreichische Geschichtstrauma nicht aus den Augen verloren. Sein jüngstes Buch „Das Alphabet der Zeit“ ist zugleich sein persönlichstes geworden. Es sind seine autobiographischen Aufzeichnungen über Kindheit und Jugend, beginnend mit den frühesten Gedächtnisspuren rund um das Kriegsende 1945 bis hin zu den Erinnerungen des einundzwanzigjährigen Medizinstudenten Roth, der im November 1963 im Autoradio von der Ermordung John F. Kennedys hört. Aber auch wenn Roth hier zum ersten Mal überhaupt direkt und unverstellt von seinem Leben erzählt, dann ist in dem Buch dennoch zugleich von mehr die Rede als nur von der eigenen Biographie. Das „Alphabet der Zeit“ ist sein persönliches Epos – und dennoch gemäß seines fortgesetzten literarischen Geschichtserforschungsprogramms zugleich ein Werk der Historiographie. Auch bei der Arbeit zu diesem Buch haben Roth Klio und Kalliope schwesterlich vereint zur Seite gestanden. Die Methode, mit der Roth hier über seine frühen Jahren schreibt, ist bemerkenswert. Er erzählt keine kontinuierliche, in sich geschlossene Lebensgeschichte, sondern er legt so etwas wie ein Lebensmosaik aus. Die Bruchlinien zwischen den einzelnen Gedächtnissplittern sind ihm wichtig. Schließlich wissen wir alle sehr genau, wie leicht uns unsere Erinnerungen täuschen, wie schnell wir solche Splitter und Fragmente zu logischen, sinnvollen Geschichten zurechtkneten – weil wir es so gerne hätten, dass unser Leben logisch und sinnvoll verlaufen ist und wir rückblickend feststellen wollen, dass wir logisch und sinnvoll gehandelt haben. Doch wer ehrlich ist mit sich selbst, der gibt zu, wie wenig er über sich und seine Motive weiß und dass seine Erinnerungen, wie Gerhard Roth im Motto zu seinem „Alphabet der Zeit“ sagt, nur „eine Fata Morgana sind in der Wüste des Vergessens.“ Dieses literarische Verfahren eines Lebensmosaiks erinnert an ein großes autobiographisches Buch des 20. Jahrhunderts. 1932 reiste Walter Benjamin nach Nizza mit dem festen Vorsatz, sich dort in einem Hotel umzubringen. Er schieb Abschiedsbriefe, bestimmte einen Nachlassverwalter – und führte das Vorhaben dann doch nicht aus. Stattdessen begann er Prosaminiaturen über seine Kindheit im Berliner Großbürgermilieu zu schreiben, deren hoch entwickelte Lebenskultur mit dem Ersten Weltkrieg unwiederbringlich versunken war. Doch Benjamin erging sich nicht in naiver Nostalgie. Er versuchte vielmehr mit den Miniaturen einerseits die Welt seiner Kindheit in der Imagination wiederzubeleben, sie andererseits aber akribisch nach jenen Keimen der Zerstörung zu durchmustern, mit denen das Bürgertum schließlich zum Ersten Weltkrieg und damit zum eigenen Untergang beitrug und dem Nationalsozialismus den Weg bahnte. Eben die Nazis sorgten dann dafür, dass Benjamin dieses Erinnerungs-Buch, dem er den Titel „Berliner Kindheit um 1900“ gab, zu seinen Lebzeiten nie als Buch in Händen halten konnte. Es erschien erst lange nach seinem Tod, herausgegeben von seinem Freund Theodor W. Adorno. Gerhard Roth ist, wie es der Zufall oder die Musen wollten, bis auf wenige Tage genau 50 Jahre nach Walter Benjamin geboren. Seinem „Alphabet der Zeit“ darf man mit Seitenblick auf Benjamins Buch vielleicht den Nebentitel „Österreichische Kindheit um 1950“ beigeben. Denn Roth betreibt hier schreibend etwas, das den Absichten Benjamins sehr ähnlich ist und das doch zugleich das spiegelbildliche Gegenstück darstellt. Während Benjamin über das noch scheinbar intakte, kultivierte Großbürgertum schrieb, in dem aber schon die Weichen gestellt wurden hin zu jenem Vulkanausbruch der Gewalt, der dann nicht nur diese Großbürgerkultur unter sich begrub, schreibt Gerhard Roth über das Leben nach der kompletten politischen, moralischen, geistigen Zerstörung und sucht in dieser wüsten Zeit nach den ersten Keimen eines erwachenden aufklärerischen Bewusstsein, das begreifen will, wie es zu dieser umfassenden Katastrophe kommen konnte. Wie in einer Diashow führt Roth Erinnerungsbild um Erinnerungsbild vor und durchforscht sie nach zweierlei, nach den Spuren der Verrohung, die der gerade erst überstandene Nationalsozialismus und die Kriegjahre unter den Menschen hinterlassen haben, aber auch nach den ersten Anzeichen für den Wunsch des Kindes, hinter die Kulissen zu schauen, die dunklen Stellen seiner Umwelt auszuleuchten, das von den Erwachsenen gezielt oder auch unbewusst Verschwiegene endlich zu erforschen und zur Sprache zu bringen. In einem Erinnerungssplitter Gerhard Roths scheint mir diese literarische Technik recht exemplarisch zum Ausdruck zu kommen. Der kleine Gerhard ist gerade zur Schule gekommen, er hat zwei Brüder, den etwas älteren Paul und den zwei Jahre jüngeren Helmut. Es ist der Nikolaustag 1948 oder 49 und zu den drei Kindern kommt – den Vorweihnachts-Traditionen folgend – der Nikolaus mit Bischofsmütze und Krummstab und in seiner Begleitung der Gehilfe namens „Krampus“, gehüllt in ein schwarzes Fell, das Gesicht hinter einer Teufelsmaske mit Hörnern versteckt und mit einem Korb, österreichisch „Butte“ genannt, auf dem Rücken. „Wir rissen“ erinnert sich Roth in seinem Buch, „vor Schreck die Münder auf und hörten wortlos zu, was der Nikolaus sagte. Er las jedem von uns aus seinem dicken Buch vor, was wir falsch gemacht hatten und sprach so ausführlich über unsere Missetaten, als ob er dabei gewesen wäre. … Erschrocken fragten wir uns, wie das möglich war. Als er Helmut beschuldigte, nicht folgsam gewesen zu sein, streckte ihm dieser die Zunge heraus. Das Weitere geschah so schnell, dass wir starr vor Schreck waren. Der Krampus hob den verdutzten Helmut in seine Butte und lief mit ihm davon. Ich hörte meinen Bruder vor der Tür laut schreien und sprang ihm die Stiegen hinunter nach, um ihn zu retten. Draußen war es schon dunkel, und vor der Gartentür bekam ich die Butte zu fassen und zerrte an ihr, dadurch brachte ich die Gestalt aus dem Gleichgewicht und der weinende Helmut konnte herausspringen. Bevor noch Schlimmeres geschah, kam unsere Mutter angelaufen und beschwerte sich beim Krampus, dass er zu weit gegangen sei. Im selben Augenblick schob dieser sich die Maske aus dem Gesicht, und ich erkannte in der Dunkelheit, den lachenden Herrn Schlack“, einen Nachbarn. „Auch der Nikolaus war inzwischen herbeigeeilt und gab sich vor Charme sprühend als der verwitwete Schneider Pechstein zu erkennen. Das bestärkte nur meine Zweifel an dem, was ich vom Leben zu sehen bekam. Ich fühlte mich durch den Vorfall ebenso betrogen wie gedemütigt. Wurden wir nicht wie Narren behandelt?“ Bemerkenswert ist an dieser Erinnerungsminiatur Roths nicht nur, wie grundsätzlich der sechsjährige Gerhard die Demaskierung von Nikolaus und Krampus erlebte. Bemerkenswert ist auch die Leichtfertigkeit und der Mangel an Einfühlungsvermögen mit der die beiden maskierten Männer zuvor den vielleicht gerade mal vierjährigen Helmut ängstigten, die Bedenkenlosigkeit, mit der sie ihre Überlegenheit ausspielten und den an sich harmlosen Nikolaus-Brauch wie ein Strafgericht über die Kinder inszenierten. Mit solchen Gedächtnissplittern fügt Roth Fragment für Fragment eine Art mosaikhaftes Porträt der Zeit um 1950 zusammen. Und er richtet dabei den Blick wieder besonders genau auf den Umgang mit Hilflosen oder Hilfsbedürftigen, weil der seinem Verständnis nach besonders verräterisch ist für den Zustand der Epoche. Er beschreibt das Verhältnis seines Vaters, dem Arzt, zu seinen Patienten, aber auch der Behörden zu seinem Vater, der als Rumäniendeutscher in Österreich staatenlos war und als nahezu rechtlos behandelt wurde. Er erzählt, wie die Nachbarn mit seiner Großmutter umsprangen, die an einem Tourette-Syndrom, einem eigentümlichen Gesichtszucken, litt und vor allem, wie erst die Schule, später die Universität ihn gefügig zu machen versuchte. Michel Foucault nennt das Zusammenspiel solcher Institutionen, die darauf zielen, die ihnen anvertrauten Menschen nach den Vorstellungen der Gesellschaft zurechtzubiegen, die „Mikrophysik der Macht“. Gerhard Roth breitet in seinem „Alphabet der Zeit“ ein Album von Erinnerungsbildern aus, auf denen diese Mikrophysik der Macht gleichsam bei ihrer Arbeit festgehalten wird – in dem aber auch der gar nicht so leise Triumph des jungen Mannes namens Gerhard Roth spürbar wird, sich der zurichtenden Gewalt dieser Mikrophysik nach und nach zu entziehen.

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Verbrannt und vergessen

Volker Weidermann erzählt die Geschichten der Dichter, deren Bücher von den Nazis vernichtet wurden  

Das ist alles gar nicht so lange her, 75 Jahre sind ja noch ein verhältnismäßig überschaubarer, vorstellbarer Zeitraum – und doch kommt es einem vor wie aus einer anderen Welt. Man muss sich das einmal in seinen zeitlichen Abläufen vorstellen: Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichkanzler ernannt. Im März gründete sich ein so genanntes „Hauptamt für Presse und Propaganda der Deutschen Studentenschaft“. Am 8. April kündigte es als seine erste Maßnahme die „Öffentliche Verbrennung jüdisch zersetzenden Schrifttums durch die Studentenschaften der Hochschulen aus Anlass der schamlosen Hetze des Weltjudentums gegen Deutschland“ an. Nur einen Monat später, am 10. Mai brannten dann an fast allen deutschen Universitäten die Scheiterhaufen, ohne dass Proteste dagegen laut wurden. So rasend schnell ging das. Nur drei Monate brauchte es vom Machtantritt Hitlers bis zu dem Tag, an dem Professoren und Studenten der höchsten deutschen Lehranstalten die Bücher von 94 deutschsprachigen und 37 fremdsprachigen Dichtern vor Publikum verfeuerten. Dazu noch Werke etlicher Philosophen, Theoretiker und Sachbuchautoren. Keiner von ihnen wurde mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen, die Bücherverbrennung war keine staatlich angeordnete Zwangsmaßnahme, sondern eine Propaganda-Aktion ideologisch vernagelter Studenten. Man konnte sich ihr entziehen, wie Beispiele zeigten, ohne dramatische Konsequenzen fürchten zu müssen – aber fast niemand tat es. Volker Weidermanns „Buch der verbrannten Bücher“ ist – 75 Jahre nach dieser öffentlichen Einäscherung von Kulturgut – der erste Versuch, die Lebenswege all jener Autoren nachzuzeichnen, die seinerzeit auf der Liste der „Schönen Literatur“ standen. Zusammen ergeben die pointiert und lebendig geschriebenen Biografien so etwas wie ein Riesenfresko, wie ein Wimmelbild des Literaturbetriebs der Weimarer Republik, vorsortiert aus einer borniert rechtsradikalen Perspektive, in den Details aber liebevoll gemalt von dem Nachgeborenen Weidermann. Er konzentriert sich dabei auf die deutschsprachigen Schriftsteller, seine Porträts der fremdsprachigen sind eher summarisch. Die Autoren der verbrannten Sachbücher lässt er beiseite. Ein gewisser Wolfgang Herrmann hatte die Vernichtungs-Liste zusammengestellt, ein Bibliothekar und NSDAP-Mann von gerade mal 29 Jahren. Auf seinen Belletristik-Index setzte er keine sozial engagierten Klassiker wie Heinrich Heine oder Georg Büchner, sondern fast ausschließlich Autoren, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs seinen Zorn erregt hatten. So erweist sich seine Aufstellung, nachdem Weidermann sie mit biografischem Leben erfüllt hat, als eine Art soziologische Feldstudie über jenen Teil unter den deutschen Schriftstellern der Weimarer Republik, der die Ehre hatte, im Weltbild der Nazis unangenehm aufzufallen. Das ist höchst lehrreich. Denn was wir heute in den Literaturgeschichten über jene Epoche lesen, konzentriert sich – zu Recht – auf die Stars des Gewerbes, also auf Autoren wie Brecht und Benn, wie die Brüder Mann, wie Kafka, Döblin, Anna Seghers, Feuchtwanger oder Hofmannsthal. Über viele andere, weniger begabte Schriftsteller muss die Wissenschaft inzwischen mit Schweigen hinweggehen. Doch will man genau wissen, wie das literarische Leben damals aussah, darf man diese Talente nicht ausblenden. Der Literaturbetrieb jener Zeit war, wie die Weimarer Republik insgesamt, hoch politisiert und zugleich tief zerrissen. Eine Ahnung von jenem Klima der permanenten, fiebrigen Erregungszustände weht einen an, wenn man Weidermanns Buch liest. Es waren Jahre, in denen von den Schriftstellern gern alles bis ins Extrem vorangetrieben wurde, in denen Stefan George seine lyrischen Jubelfeiern auf Führerkult und Massenverachtung vollendete, Brecht mit der „Maßnahme“ seine theatralische Rechtfertigung des Stalinismus schrieb oder Ernst Jünger den Kampf als inneres Erlebnis pries. Sicher, im Werk von Autoren dieser Größenordung werden derartige Vorlieben fürs Extrem aufgehoben in bestechende literarische Konzepte und so gleichsam veredelt und ein wenig genießbarer gemacht. Doch von den linken wie rechten Mitläufern einer solchen Neigung zum Unbedingten, hört man heute nur noch wenig, obwohl auch sie dazu beitrugen, die Stimmung der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre immer weiter aufzurüsten, gleichsam verbal zu militarisieren – und dabei die wenigen besonnenen, demokratischen Stimmen, die sich zu Wort meldeten, noch mehr in den Hintergrund zu drängen. Dem Nazi-Bibliothekar Herrmann war das, als er seine Schwarze Liste zusammenstellte, einerlei: Liberale oder linke, besonnene oder extremistische, talentierte oder dilettierende Schriftsteller, das war ihm gleichgültig. Für ihn zählte nur ihre aus seiner Sicht falsche Gesinnung oder Religionszugehörigkeit. Weshalb also jüdische oder kommunistische Autoren seinen Zensoreneifer erregten, liegt auf der Hand. Bei anderen dagegen ist man auf Vermutungen angewiesen. Offenbar hatten all jene Schriftsteller Chancen, in sein Verzeichnis der zu verbrennenden Literatur zu kommen, die nicht bereit waren, die Kämpfe des Ersten Weltkriegs zu glorifizieren, sondern die das Morden in den Schützengräben als Gemetzel darstellten. Aber selbst wenn man, wie der Berliner Anwalt und Autor Alfred Schirokauer zu Beginn des Ersten Weltkriegs einen Roman veröffentlicht hatte, der die Kampfesfreude deutscher Soldaten beschwor und verherrlichte, konnte ihn das vor dem Bücherscheiterhaufen nicht retten, denn auf sein Konto ging auch eine schwärmerische Biografie des Arbeiterführers Ferdinand Lassalle. Doch letztlich ist es müßig, über die Motive dieses seltsamen Bibliothekars mit so ausgeprägten Wünschen nach Literaturvernichtung zu spekulieren. In manchen Teilen beruhte seine Liste vermutlich auf barer Willkür – wie die spätere Zensur der Nazis mitunter ja auch. Aus Weidermanns Buch kann man lernen, für welche absurden Pointen Herrmanns Liste sorgte: Bücher von Waldemar Bonsel, dem Vater der „Biene Maja“, wurden zum Beispiel verbrannt, obwohl er für sich in Anspruch nehmen konnte, ein gestandener Antisemit zu sein. Der Roman der Tänzerin Johanna Blaschke kam ins Feuer vermutlich nur, weil sie als Autorin das jüdisch klingende Pseudonym Rahel Sanzara benutzte. Und Hanns Heinz Ewers schließlich, dessen Name sich ebenfalls auf Herrmanns Nazi-Index findet, war 1931 von Adolf Hitler persönlich per Handschlag in die NSDAP aufgenommen worden und hielt acht Tage nach der Bücherverbrennung bei einem Berliner Empfang eine verehrungsvolle Begrüßungsrede für Propagandaminister Goebbels, den er zum Abschluss sogar noch mit einer Hitler-Büste beschenkte. Mit anderen Worten: Weidermanns Buch veranschaulicht nicht zuletzt, was für ein unzureichendes Instrument eine Auflistung ist, wenn es gilt, etwas so Individuelles und hoch Differenziertes wie literarische Werke zu ordnen und zu beurteilen. Fehler lassen sich da kaum vermeiden. Doch auch wir heute, 75 Jahre später, lieben unsere Listen. Sie sind aus dem Literatur- und Kulturbetrieb von heute nicht wegzudenken. Bestsellerlisten, Hitparaden, Charts, Rankings, sie sind fast allgegenwärtig. In unseren postmodernen Zeiten, in denen es keine allgemein verbindlichen kulturellen Hierarchien mehr gibt, sind sie ein gern genutztes Ordnungsmittel, mit dem wir unser ansonsten komplett unübersichtliches literarisches Leben zu strukturieren versuchen. Wie himmelweit entfernt sind all diese Listen von jener einen, zusammengestellt vom mediokren Bibliothekar Wolfgang Herrmann, von dem schon sehr bald selbst die Nazis ideologischer Verfehlungen wegen nichts mehr wissen wollten. So willkürlich seine Liste war, sie entschied Schicksale. Sie raubte Schriftstellern die Existenz, stigmatisierte sie vor ihrer Umwelt, drängte sie zur Emigration und damit in eine ungeschützte Lebenssituation, in der nicht wenige von ihnen endgültig den Boden unter den Füßen verloren. Weidermanns „Buch der verbrannten Bücher“ entfaltet diese Biografien Kapitel für Kapitel, 94 Existenzen, die durch eine fast zufällige Auflistung rabiat verkrümmt, verbogen, vernichtet wurden. Damit aber wird aus Volker Weidermanns Buch noch mehr als ein liebevoll ausgemaltes Gruppenporträt aus dem literarischen Leben der Weimarer Republik und der qualvollen Emigrationsjahre. Das Buch misst unausgesprochen und indirekt auch dem Literaturbetrieb von heute die Temperatur. Oder genauer, jener Kritik am Literaturbetrieb, die ihm so gern vorwirft, er sei oberflächlich, orientierungslos, ja chaotisch bis hin zum Verlust der Maßstäbe. Beliebigkeit lautet dann der beliebte Vorwurf – ein jeder stelle sich heute seine eigenen Lese-Listen nach eigenen Vorlieben zusammen. Anything goes! Ja sicher, die Probleme damit sollen nicht verleugnet werden. Aber wie mikroskopisch klein sind sie im Vergleich mit denen, die man vor 75 Jahren hatte, als es nicht Hunderte von Listen gab, sondern alles auf eine einzige ankam, mit der sich für 94 Schriftsteller fast alles entschied.

Volker Weidermann: „Das Buch der verbrannten Bücher“ Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008 253 Seiten, 18,95 Euro

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„Das letzte Feuer“

Ein Stadtrand-Drama von Dea Loher und ein Aufsatz über Afghanistan  

Dass Dea Loher zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren zählt, die gegenwärtig für die Bühne schreiben, ist inzwischen weithin anerkannt. In ihrem jüngsten Stück steht, wie schon in vielen anderen ihrer Theaterarbeiten, die Frage nach dem Umgang mit Schuld im Vordergrund. „Das letzte Feuer“ beschreibt ein auf den ersten Blick unscheinbares Stadtrand-Drama: Bei einer irrtümlichen Auto-Verfolgungsjagd durch ein heruntergekommenes Viertel wird ein Kind überfahren. Jeden der Beteiligten trifft eine gewisse Mitschuld, keinen kann man als alleinigen Verantwortlichen hinstellen. Dea Loher entwirft ein Bild fast unentrinnbarer Verstrickung. In „Land ohne Worte“ fasst sie als Monolog ihre niederschmetternden Erfahrungen von einem längeren Aufenthalt in Afghanistan zusammen.

Dea Loher: „Das letzte Feuer. Land ohne Worte“ Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2008 136 Seiten, 14,- €

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„Stadt der wilden Hunde“

 Martin Mosebachs Nachrichten über das alltägliche Indien und über sich selbst
Unter deutschen Schriftstellern der letzten zweihundert Jahren trifft man gelegentlich auf eine recht unerfreulich Haltung zum Reisen. Sie berichten aus anderen Ländern mit einer übersteigerten, aus Klassik und Romantik abgeleiteten Bildungsschwärmerei, die ein glanzvolles Licht nur auf das Alte, wenn möglich Antike fallen lässt und alles Zeitgenössische als Zumutung und Verfallserscheinung betrachtet. Diese Attitüde wird gern kulturkonservativ genannt. Doch kann der Begriff kaum bemänteln, dass die Autoren so die Reize der Gegenwart eintauschen gegen ein idealistisch aufgemöbeltes, schon daheim unverrückbar zusammen gezimmertes, antiquarisches Weltbild, und dass sie es der Realität offenbar nicht verzeihen wollen, wenn die sich das Recht herausnimmt, Winckelmanns Vorstellungen von „edler Einfalt und stiller Größe“ zu widersprechen. Martin Mosebach, der Büchner-Preisträger des vergangenen Jahres, hat zweifellos starke kulturkonservative Neigungen. Zu seiner Arbeitsweise gehören ausgedehnte Auslandsreisen, während denen er in abgelegenen Orten an seinen Romanen über die Frankfurter Heimat schreibt. Einige der Erfahrungen, die er bei solchen Aufenthalten sammelte, hat er vor zehn Jahren in dem Italien-Buch „Die schöne Gewohnheit zu leben“ verarbeitet. Jetzt erscheint unter dem Titel „Stadt der wilden Hunde“ ein zweiter Reisebericht, der diesmal von einem mehrmonatigen Rückzug in die westindische Kleinstadt Bikaner erzählt. In seinem Buch über Italien war Mosebach nicht immer ganz frei von jener kulturkonservativen Verklärung des Vergangenen. Doch rettete ihn sein unermüdliches Interesse für die Alltagsphänomene der Gegenwart davor, sich dieser Neigung allzu sehr hinzugeben. Sicher, Mosebach lässt wenig Zweifel daran, dass er die Moderne als eine Phase des kulturellen Niedergangs betrachtet. Aber von den Indizien dieses Abstiegs wendet er sich nicht mit Verachtung ab, sondern widmet sich ihnen mit einer liebevollen, leise ironischen, fast zärtlichen Aufmerksamkeit, an der man als Leser auch dann seine helle Freude haben kann, wenn man Mosebachs Geschichtsbild in keiner Weise teilt. Wie ein begeisterter Gerichtsmediziner, der einen in Auflösung begriffenen Kadaver seziert, beugt er sich mit unermüdlicher Forscherfreude über die bunt schillernden, zu bizarren Formen aufblühenden Verfallsmerkmale am Kulturkörper der Epoche. An Respekt gegenüber Indien, den Indern und der hinduistischen Religion lässt es Mosebach in seinem neuen Reisebuch, wie schon in seinem Roman „Das Beben“, nicht fehlen. Allerdings ist auch hier nicht zu übersehen, dass ihn die Geschichte des Landes, oder besser: die Vorstellung, die er sich von der Geschichte des Landes macht, mehr beeindruckt, als dessen Gegenwart. Die Moderne bleibt das mit Interesse studierte Feindbild. Wenn er sich beispielsweise für die Natur, die Landschaften, die Architektur Indiens begeistert, verschweigt er dabei nicht die Symptome einer verbreiteten Verwahrlosung. Doch beschreibt er sie eben als „Zeichen der Moderne“, als „Zeugnis einer Erschütterung, die der Zusammenprall mit industriellen Produktionsformen hervorgerufen hat. Auch Europa wurde schmutzig, als es sich zu industrialisieren begann.“ Im Zentrum des Buches steht Mosebachs Interesse an der Religiosität der Inder. Er ist in Bikaner, schreibt er, bei einem hinduistischen „Ehepaar aus der akademischen Bourgeoisie“ untergebracht, und begleitet den Hausherren Sudhir zu etlichen Tempeln oder heiligen Stätten, befragt ihn zu Gurus oder dem Kastenwesen, und lässt sich von ihm in einfachere Opferzeremonien oder Gebetsriten einführen. Die Ergebnisse seiner Erkundigungen überbewertet er nicht, er betrachten sich als Europäer, der „an indischen Religionsphänomenen naschend“ der spirituellen Welt des Landes näher zu kommen versucht, letztlich aber weiß, dass er nie wirklich völlig vertraut mit ihr werden kann. Mosebach spürt mit anthropologischer Neugier einer religiösen Grundhaltung nach, die ihm nicht nur für Indien bezeichnend zu sein scheint. Das Heilige sei für seinen Gastgeber, schreibt er, ein unbezweifelbares Grunderlebnis, ein Axiom. Doch suche er es nie in sich selbst, sondern immer im Alten: „Das Alte und das Heilige waren beinahe synonym“. Auch die üblichen Widersprüchlichkeiten, die sich mit der Vorstellung des Heiligen verknüpfen, könnten Sudhir nicht stören, denn in seinen Augen müsse das Heilige als Teil einer höheren Ordnung im Diesseits zwangsläufig absurd wirken. Mit diesem Charakterbild seines Gastgebers aber hat er, gesteht Mosebach, sich in Indien selbst wiedergefunden. Denn in diesem psychologischen Porträt verbirgt sich unübersehbar ein Selbstbildnis des antimodernen, in die Absurditäten der katholischen Orthodoxie verliebten Martin Mosebach.

Martin Mosebach: „Stadt der wilden Hunde“. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien Carl Hanser Verlag, München 2008 174 Seiten, 16,90 €

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Liebe und Verrat, Terror und Tod

 Vier Autoren erzählen von der Macht und den Machthabern im Frühjahr 2008: Michael Kumpfmüller, Dirk Kurbjuweit, Bernhard Schlink und Lukas Bärfuss

Kurz und syllogistisch knapp sagt es Odo Marquard: „Menschen – schrieb Aristoteles – sind politische Lebewesen. Schriftsteller sind Menschen. Also sind Schriftsteller politische Lebewesen.“ Aber seit gut dreißig Jahren, seit sich die Dichter der Studentenbewegung dutzendweise in Richtung Neuer Innerlichkeit verabschiedeten, spielt der politische Roman in der deutschen Literatur nur eine Nebenrolle. Einen Autor wie Don DeLillo, der seit Jahrzehnten von Buch zu Buch ein politisches Porträt Amerikas zeichnet, gibt es hierzulande nicht. Doch vielleicht gilt diese Diagnose nicht mehr lange. In diesem Frühjahr erscheinen immerhin gleich vier deutschsprachige Romane, die von Politik oder Politikern erzählen. Sicher, auch in der Vergangenheit fehlte es nicht an politischen Stellungnahmen, Protesten oder Manifesten von Schriftstellern. Doch selbst wenn solche Erklärungen – um nochmals Marquard zu zitieren – oft wie „politpriesterliche Verlautbarungen des Weltgeistes ex cathedra“ klingen, sind es letztlich doch nur Äußerungen zur Politik, die Autoren als Bürger jenseits der Literatur von sich geben. Ein politischer Roman dagegen macht die Politik und das politische Milieu selbst zu dem Gegenstand, von dem er erzählt. Wird dieses Terrain gegenwärtig von deutschsprachigen Schriftstellern mit neuer Vehemenz erobert? Das hängt nicht zuletzt davon ab, wie ernst die Autoren ihr Thema nehmen. Michael Kumpfmüller zum Beispiel liefert mit seinem Roman „Nachrichten an alle“ nur so etwas wie politisierte Kolportage. Der Held seiner Geschichte ist ein Innenminister, der wie eine Mischung aus Otto Schily und Joschka Fischer wirkt. In dem fiktiven Deutschland, dessen Regierung er angehört, gibt es monatelange Vorstadt-Revolten wie 2005 in Frankreich. Doch nicht die stehen im Zentrum des Romans und auch nicht der völlig zusammenhanglos an den Anfang der Geschichte gestellten Tod der Tochter des Ministers. All das ist nur Staffage, durch die Kumpfmüller eine Affäre des Ministers mit einer Journalistin ausschmückt. Natürlich kann auch eine solche versteckte Liebe im Regierungsviertel ein reizvolles, aber im Grunde unpolitisches Thema abgeben. Doch Kumpfmüller fällt dazu wenig Originelles ein, ja er lässt seine Geschichte wiederholt in blanken Kitsch abgleiten – zum Beispiel wenn sein Held sich bei der ersten Begegnung mit der künftigen Gespielin „Typ Jean Seberg“ gleich wie „geblendet“ fühlt. Auf den ersten Blick ähnlich und doch völlig anders ist Dirk Kurbjuweits Roman „Nicht die ganze Wahrheit“. Hier hat der Chef ein großen Volkspartei, der ein wenig an Franz Müntefering erinnert, eine Affäre mit einer Abgeordneten aus der eignen Fraktion. Kurbjuweit erzählt aus der Perspektive eines Detektivs, der im Auftrag der betrogenen Ehefrau die Email-Korrespondenz der beiden ausforscht. Die elektronischen Liebesdialoge zeigen aber, wie konfliktreich sich hier Gefühl und Politik verschränken. Die junge Abgeordnete gehört nämlich zu einer Gruppe von Fraktions-Rebellen, die sich gegen ihren Kanzler stellen, da er „Sozialabbau“ betreibe. Der Parteichef muss also seine Geliebte, deren Idealismus ihn bezaubert und an eigene Träume erinnert, im Sinne der Realpolitik zum Verrat an ihren Überzeugungen zwingen. Vor allem mit der klugen, frechen und zugleich sehr verliebt Nachwuchspolitikerin ist Kurbjuweit hier eine literarisch eindrucksvolle Figur gelungen. Während sich Kurbjuweit ganz auf das alltagsgraue Tagesgeschäft des Berliner Politikbetriebs einlässt, greift Bernhard Schlink, der mit seinem Roman „Der Vorleser“ einen Welterfolg feierte, in seinem neuen Buch „Das Wochenende“ unübersehbar die Debatte um die Begnadigung Christian Klars auf. Die zentrale Figur ist hier ein Terrorist, der nach über zwanzig Jahren aus der Haft entlassen und von seiner Schwester vor der Presse zunächst in ein abgelegenes Landhaus in Sicherheit gebracht wird. Dort erwarten ihn alte Freunde, die einst manche seine Überzeugungen teilten, aber klug genug waren, sich nie zu Gewalttaten verführen zu lassen. Wer das Buch als realistischen Roman liest, wird wenig Freude an ihm haben, denn vieles wirkt konstruiert. Man kann es aber auch als ein stilisiertes, lehrstückhaftes Kammerspiel betrachtet, in dem wie in einem Kriminalroman Agatha Christies alle Beteiligten an einem Verbrechen für ein Wochenende auf einem unzugänglichen Adelssitz zusammengeführt werden. Dann beweist es seine Qualitäten, denn es führt dem Leser nicht nur politische Argumente vor Augen, sondern mit beträchtlicher Intensität auch einige von politischem Fanatismus zerstörte Schicksale. Der stärkste Roman stammt allerdings von dem jüngsten der vier Autoren. Lukas Bärfuss wurde 1971 in Zürich geboren und gilt heute – vor allem wegen seines großartigen Stückes „Der Bus“ – als einer der wichtigsten jüngeren Dramatiker des deutschsprachigen Theaters. In seinem ersten Roman „Hundert Tage“ wagt er sich jetzt als Erzähler an den Völkermord in Ruanda 1994. Seine Hauptfigur ist ein Schweizer Entwicklungshelfer, der die letzten Jahre vor dem Gewaltausbruch im Lande miterlebt und mit bestem Gewissen seiner Arbeit nachgeht. Ordnungssinn und Organisationskraft wollen seine Kollegen und er den Einheimischen vermitteln – und müssen sich nach dem Genozid eingestehen, das Morden hätte nie so entsetzlich effizient ablaufen können, wäre es nicht von gelehrigen Ruandern mit großem Ordnungssinn und viel Organisationskraft akribisch vorbereitet worden. Im Roman von Bärfuss wird die (Entwicklungs-)Politik selbst zum Thema – nämlich das Dilemma der westlichen Welt, moralisch zur Unterstützung der Dritten Welt verpflichtet zu sein, andererseits aber durch Eingriffe in die Machtbalance dieser Länder oft genug korrupten Eliten in die Hände zu spielen und so neues Unheil zu säen. Auch in diesem Buch gibt es eine Liebesgeschichte, doch lenkt sie nicht – wie bei Kumpfmüller – von den politischen Ereignissen ab. Vielmehr demonstriert Bärfuss an ihrem Beispiel, wie kenntnis- und verständnislos sein Schweizer Held den afrikanischen Verhältnissen gegenübersteht: So sehr er seine einheimische Geliebte auch begehrt, so fremd bleibt sie ihm in ihrem archaischen Verhältnis zu Macht und Gewalt. Wer sich millimetergenau an die Regeln politischer Korrektheit hält, wird an diesem Porträt einer jungen Frau als Einpeitscherin des Massenmordes Anstoß nehmen. Wer jedoch Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ gelesen hat, wird manche literaturhistorische Parallele entdecken.

Michael Kumpfmüller: „Nachricht an alle“. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008 383 Seiten, 19,95 €
Dirk Kurbjuweit: „Nicht die ganze Wahrheit“. Roman. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2008 220 Seiten, 19,90 €
Bernhard Schlink: „Das Wochenende“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2008 225 Seiten, 18,90 €
Lukas Bärfuss: „100 Tage“. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2008 197 Seiten, 19,90 €

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„Eine Art Verrat“

Karl Heinz Bittel hat eine Menge Erfahrungen mit Schriftstellern und daraus jetzt seinen ersten Roman gemacht.

Seine Frau, erzählt Karl Heinz Bittel, stelle ihn anderen Leuten neuerdings gern als den „Dichter Karl Heinz Bittel“ vor. Die Verleihung dieses weihevollen Titels ist dann natürlich Teil eines halb achtungsvollen, halb ironischen Spiels unter Eheleuten. Aber im Grunde spricht wenig dagegen, Bittel mit ganzem Ernst so zu nennen, denn er hat jetzt seinen ersten Roman veröffentlicht: „Eine Art Verrat“. Allerdings widerspricht Bittel, sobald seine Frau ihn mit der neuen Standesbezeichnung umkränzen möchte. „Ein Dichter“, sagt Bittel, „kann nicht leben, ohne zu schreiben.“ So große Bedeutung habe das Schreiben für ihn nicht: „Ich kann auch anders. Nachweislich.“ Karl Heinz Bittel ist Lektor. Ein Büchermensch war er schon immer, ein Verlagsmensch ist er erst relativ spät geworden: Er arbeitete zuvor im Münchner Kulturdezernat und hatte den 40. Geburtstag hinter sich, als er seine neue Aufgabe beim Albrecht Knaus Verlag antrat. Solche ungeraden Lebens- und Laufbahnen sind unter Lektoren nichts Ungewöhnliches. Schließlich gibt es für ihren Beruf keinen festgelegten Ausbildungsgang, sondern nur die jeweils selbst gebahnte Wege, die bei dem einem mal mehr, bei dem anderen mal weniger direkt zum Ziel führen. Das ist wohl auch gut so, denn was ein Lektor neben der Leidenschaft fürs Büchermachen und möglichst umfassenden Kenntnissen zur Literatur am dringendsten braucht, ließe sich ohnehin schwer lehren. Zum einen nämlich die Fähigkeit, sich immer wieder neu auf die Eigentümlichkeiten, kleinen Schwächen und großen Eitelkeiten jedes einzelnen Schriftstellers einzustellen – und zu dieser Berufsgruppe gehören bei Gott nicht eben die holdseligsten Charaktere. Zum anderen, das diplomatische Geschick, die Bedürfnisse der Schriftsteller mit den Bedürfnissen der Verleger in Einklang zu bringen, die ebenfalls nicht zu den durch und durch rationalen, unkomplizierten Wesen gehören – denn sonst würden sie vermutlich Schraubenfabriken und nicht Buchverlage leiten. Wie weit es Bittel in der hohen Schule dieser Diplomatie gebracht hat, ahnt man, wenn man liest, wie klar und dennoch schonungsvoll er einmal die Aufgaben seiner Tätigkeit umrissen hat. Die Rolle des Lektors sei, schreibt er, „hoch ambivalent. Er ist dem Autor und dem Verlag in gleicher Weise zur Loyalität verpflichtet. Deren Interessen scheinen allenfalls dem oberflächlichen Betrachter identisch. Sie sind es nicht: Auf der einen Seite regiert der literarische Eigensinn, auf der anderen Seite herrscht das ökonomische Kalkül. Sie standardisierten Abläufe der Verlagsproduktion kollidieren nur allzu leicht mit der künstlerischen Emphase und der ihr innewohnenden Maßlosigkeit auf Seiten des Autors.“ Kaum hatte Bittel 1988 seine Verlagsarbeit angetreten, lernte er den wichtigsten Autor des Verlages kennen, Walter Kempowski, der in der Zusammenarbeit zugleich als einer der gelinge gesagt schwierigen galt. Und der kündigte ihm noch am gleichen Abend das aufwendigste, umfangreichste, wirtschaftlich fragwürdigste Projekt seiner Karriere an. Kempowski hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Wochen der Schlacht um Stalingrad als die entscheidende Wende des Zweiten Weltkriegs aus den Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Lebensberichten und Fotos unbekannter Menschen jener Jahre zu rekonstruieren. Es solle ein mehrere tausend Seiten umfassender gewaltiger Chor alltäglicher Stimmen werden, die in der üblichen Geschichtsschreibung zumeist übergangen werden. Auch einen Titel für das Großunternehmen hatte er schon: „Echolot. Ein kollektives Tagebuch“. Bittel war begeistert. Er ahnte sofort, welche literarischen und intellektuellen Qualitäten dieses Mammutprojekt haben konnte. Aber er stand noch so sehr am Anfang seiner Karriere als Lektor, dass er daneben nicht auch ahnte, welche Schwierigkeiten damit auf ihn zukommen würden. „Wie viele tausend Seiten?“ wurde er im Verlag gefragt. „Und keine Zeile von Kempowski? Nur Zitate? Wer soll das kaufen?“ Solche ungläubige Sätze hörte Bittel von nun an noch sehr lange. Einerseits weil Kempowski fünf Jahre brauchte, um das Manuskript zusammenzustellen, das sich zu einem Halbmeter hohen Papierstapel auswuchs. Andererseits weil der Knaus Verlag ein Teil des Medienkonzerns Bertelsmann ist, in dem sich innerhalb jener fünf Jahren das Personalkarussell gleich mehrfach so heftig drehte, das Bittel in schöner Regelmäßigkeit neuen Vorgesetzen gegenübersaß. Denen hatte er das Vorhaben jeweils zu erläutern, um dann die inzwischen vertrauten, scharfsinnigen Fragen zu hören: „Das ist also gar kein richtiger Roman? Keine Zeile von Kempowski? Wer soll denn das kaufen?“ Erfahrungen wie diese sind gar nicht so selten im Leben eines Lektors. Schriftsteller verlieben sich tatsächlich immer wieder gern in die Idee, Unmögliches zu versuchen. Verlage aber sind, aller Begeisterungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter zum Trotz, letztlich eben doch wie Schraubenfabriken in erster Linie darauf ausgerichtet, Mögliches auf den Markt zu bringen. Was diesen speziellen Fall von so vielen anderen unterscheidet, ist, das er mit einem Triumph des Autors – und an seiner Seite auch des Lektors – endete. Kempowskis monströses, 300 Mark teures „Echolot“ verkaufte sich in wenigen Wochen 25.000mal und wurde so zu einem spektakulären Erfolg. Dennoch wäre es falsch, Bittel für den Mut und die Energie zu bewundern, mit der er dieses scheinbar aussichtslose Vorhaben im Verlag durchkämpfte. Bewundern muss man ihn und seine Kollegen vielmehr für den Mut, mit denen sie sich für jene Projekte ihrer Autoren einsetzten, die sich im Nachhinein als erfolglos herausstellen. Denn man kann sich leicht vorstellen, wie ihnen nach solchen Niederlagen all die nüchternen Köpfe im Verlag begegnen, die zuvor schon vor dem absehbaren Fehlschlag gewarnt und die beliebte Frage stellten: „Wer soll das denn kaufen?“ Schlägt man Karl Heinz Bittels Roman auf, ist man nicht wirklich überrascht, wenn auch der von Schriftstellern samt ihren spezifischen Eigenarten handelt. Bittel erzählt, ohne die Namen der historischen Personen zu benutzen, von den Emigrationsjahren Thomas Manns, also einem ebenso dramatischen wie traumatischen Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. Vor allem dem prekären Verhältnis zwischen Thomas Mann und seinem ältesten Sohn Klaus spürt er nach. Klaus Mann hatte gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 im Amsterdamer Verlag Querido „Die Sammlung“ gegründet, eine Zeitschrift, die er zum literarischen, aber auch politischen Sprachrohr der aus Deutschland geflohenen Schriftsteller gegen das Nazi-Regime machen wollte. Auch dieses Unternehmen war, da die Zeitschrift naturgemäß in Hitlers Deutschland nicht verkauft werden durfte, unter verlegerischen Gesichtspunkten ein unmögliches Projekt. Doch Klaus Mann verließ sich nicht zuletzt auf die Anziehungskraft des Namens seines Vaters, der seine Mitarbeit an der „Sammlung“ zugesagt hatte. Doch gerade als das erste Heft erschien, versuchte der S.Fischer Verlag den ersten Teil von Thomas Manns Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ in Deutschland auf den Markt zu bringen und drängte den Autor deshalb, sich von der Zeitschrift seines Sohnes öffentlich zu distanzieren. Thomas Mann tat das mit Rücksicht auf die Absatzchancen seines neuen Buches tatsächlich, was sein Sohn verständlicherweise sowohl in politischer wie persönlicher Hinsicht als „eine Art Verrat“ empfand. Doch nicht allein dieses, von vielen Biographen bereits erzählte Kapitel aus der Familiengeschichte der Manns macht Bittels Roman zu einem bemerkenswerten Stück Literatur. Vielmehr erweist sich Bittel zum einen als begabter Stimmimitator, der sein Buch über Thomas Mann in der Tonlage Thomas Manns zu schreiben versteht. Zum anderen hat er den Figuren seines Romans die Namen aus Thomas Manns Erzählung „Unordnung und frühes Leid“ gegeben – und erinnert den Leser damit an einen viel früheren, vermutlich viel schmerzhafteren Verrat, den der Vater an seinem Sohn verübte. In dieser Erzählung nämlich, die 1925 erschien als Klaus gerade 19 Jahre alt war, berichtet Thomas Mann fast so ungeschminkt wie Bittel es heute tut, vom Leben mit seinen Kindern. Als Vater warf er darin einen gnadenlos kalten Blick auf seinen Sohn, hier Bert genannt, und auf dessen Absichten, Schauspieler zu werden. „Mein armer Bert“, ließ Thomas Mann den Patriarchen seiner Geschichte denken, „der nichts weiß, und nichts kann und nur daran denkt, den Hanswursten zu spielen, obgleich er gewiss nicht einmal dazu Talent hat!“ So sind sie – führt uns Bittels Roman vor – so sind die großen Dichter, die nicht leben können ohne zu schreiben, schaut sie euch an: Jeder wird vor ihren Augen zu Material für ihr Werk und jeder wird allein unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob er dem Werk nützt oder ob er ihm schadet. Schön ist das nicht für die Menschen in ihrer Umgebung, schön ist nur ihr Werk.

Karl Heinz Bittel „Eine Art Verrat“. Roman
Osburg Verlag, Berlin 2008 298 Seiten, 19,95 €

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Cicero-Verlagsranking

2008 publizierte die Zeitschrift „Cicero“ eine von 20 Branchen-Kennern zusammengestellte Liste der 20 deutschsprachigen Verlage mit dem höchsten Ansehen. Dazu der folgende Kommentar: Verbeugung.

Carl Hanser an der Spitze der Verlags-Bestenliste? Ja, was denn sonst. Mit dieser Wahl bringt sich die CICERO-Jury aus 20 Kennern des deutschsprachigen Literaturrummels nicht in den Verdacht übergroßer Originalität. Im Grunde paraphiert sie einen Gemeinplatz. Sie zieht huldigend den Hut vor der Lebensleistung des Hanser-Chefs Michael Krüger, im Betrieb vertraulich „Michel“ genannt. Mit 22 Jahren im Amt ist er einer der dienstältesten Verlagsleiter, ein dynamischer Doyen, dessen Ansichten zu Wohl und Wehe des Gewerbes gern wie Orakelsprüche weitergereicht und dessen kleine Marotten von jüngeren Kollegen inzwischen hemmungslos kopiert werden. Zwei Beispiele dafür, wie prächtig es derzeit bei Hanser läuft. Fast fünfundzwanzig Jahre lang veröffentlichte Wilhelm Genazino bei Rowohlt Buch um Buch, doch Leser und Kritiker mochten sich nur mäßig für ihn erwärmen. 2000 erschien ein erster Roman von ihm bei Hanser und machte umgehend Furore. 2004 erhielt er den Büchner-Preis und ist seither literarisch ein gemachter Mann. Bei Martin Mosebach ähnlich: Zwanzig Jahre publizierte er in fünf verschiedenen Verlagen mit sehr überschaubarer Resonanz. 2005 erschien ein erstes Buch bei Hanser und fand mehr Anerkennung als alle anderen zuvor. 2007 erreichte dann auch ihn der Büchner-Preis als endgültiger Ritterschlag, und Michael Krüger hat seither einen Starautor mehr im Haus. Gibt es ein Geheimnis dieses Erfolgs? Intelligenz natürlich, literarische Kennerschaft, innige Kontakte zu den wichtigen internationalen Verlagen. Dazu hat Krüger ein untrügliches Gespür für die tiefe Gespaltenheit des literarischen Bewusstseins hierzulande. Fragt man ihn, welche Literatur er liebt, schwärmt er von ruhmvollen Lyrikern der Moderne und belächelt all die zahllosen Liebes-, Ehe- oder Familienromane, weil sie angeblich „immer die gleichen Geschichten“ erzählen. Schlägt man dann eine Hanser-Programmvorschau auf, kündigt sie lauter Liebes-, Ehe- oder Familienromane an und weit hinten, auf den letzten Seiten der Vorschau finden sich zwei, drei Bände ruhmvoller Lyrik. So gibt Krüger allen, was sie brauchen, den Lesern ihre Romane und dem idealistischen deutschen Glauben an höchste, ja allerhöchste Literatur-Sphären die dringend benötigten Dichter-Heiligen. Frankfurter Fragen. </strong>S.Fischer und Suhrkamp, die beiden großen Frankfurter Bücherhäuser als Verfolger von Hanser auf den Plätzen 2 und 3 – das ist definitiv keine Selbstverständlichkeit. Nach dem Weggang von Programm-Chef Arnulf Conradi Mitte der neunziger Jahre rutschte S.Fischer tief in eine Krise. Ich war in jenen Jahren Lektor dort und werde deshalb einen Teufel tun, öffentlich auch nur ein Wort über die Gründe dafür zu verlieren, sie waren ohnehin unübersehbar. Aber ich ahne, wie viel Kraft es gekostet haben muss, aus jener Asche wieder einen Phönix aufsteigen zu lassen, der es hier bis zur Silbermedaille bringt. Das ist eine echte Überraschung, deshalb: Gratulation an die alten Kollegen. Suhrkamp dagegen, der viel umjubelte König unter den deutschen Verlagen in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren, ist in sanftem Sinkflug begriffen. Nachdem so viele Autoren dem Haus den Rücken kehrten, vom Nobelpreisträger Imre Kertész bis Martin Walser, von Daniel Kehlmann bis Bodo Kirchhoff, von Ernst Augustin bis Marlene Streeruwitz, von Thomas Hettche bis Silke Scheuermann, darf dieser Bedeutungsverlust niemanden wundern. Bleibt die Frage, ob Verlegerin Ulla Berkéwicz den allmählichen Niedergang stoppen kann? Eifrig hat sie jetzt einige Jahre lang Geschäftsführer, Lektoren, Stiftungsräte ausgetauscht. Nun wäre es wohl an der Zeit, dass ihr neues Team Fuß fasst? David und Goliath.   Das Kleinstunternehmen Kookbooks auf Platz 4, gleich hinter dem von Weltruhm verwöhnten Haus Suhrkamp und noch vor Kiepenheuer & Witsch, Rowohlt, Diogenes – das kann einen sprachlos machen. Offenbar ist die Liebe der Bücherbranche zu den Newcomern und Außenseitern schier unbegrenzt. Seit fünf Jahren verlegt Daniela Seel bei Kookbooks im Alleingang vor allem Gedichtbände, und die Kritiker, Redakteure, Juroren wollen gar nicht mehr aufhören, sie dafür zu umarmen. Spröde, sperrig, schwierig sind ihre Dichter und passen damit so exakt ins klassische Bild von Avantgarde, dass viele sie offenbar tatsächlich für Avantgarde halten. Den Zwergen in ihrem Überlebenskampf gegen die Konzernverlags-Riesen fliegen in der Buchbranche allemal und verständlicherweise die Herzen zu. Random House macht fast 2 Milliarden Euro Jahresumsatz und spielt in der Wertschätzung der 20 hier befragten Betriebskenner trotzdem keine Rolle. Frisch gegründete kleine Label dagegen wie SchirmerGraf, wie Blumenbar, Tropen, Supposé oder eben Kookbooks besetzen zusammen glatt ein Viertel der Liste. Womit sie, bei aller Sympathie, doch wohl ein wenig zu hoch gehandelt werden. Auch der auf eine 350jährige Geschichte zurückschauende Traditionsverlag Klett-Cotta kommt im Ranking nicht vor. Vielleicht aber hat er künftig bessere Chancen, hier gnädige Beachtung zu finden, schließlich bestellte der scheidende Chef Michael Klett kürzlich erst die beiden jungen Leiter des Tropen-Verlags zu seinen Nachfolgern. Was fehlt? </strong>Bemerkenswert ist naturgemäß nicht nur, welcher Verlag es bis auf welchen Platz der Liste gebracht hat. Noch interessanter ist wohl die Frage, wer im Bücherweltbild von immerhin 20 Entscheidungsträgern des Betriebs so weit an den Rande geraten ist, dass er hier gar nicht genannt wird. Keiner aus der Riege der profiliert linken Verlage, die früher alle Feuilletons in Atem hielten, hat sich noch ins Ranking schmuggeln können, nicht Rotbuch, nicht Roter Stern, nicht Wagenbach – obwohl letzterer mit Klaus Wagenbach immerhin eine der wenigen originellen Verlegerpersönlichkeiten des Landes vorzuweisen hat. Hoffmann & Campe, ein Bücherhaus mit über 200jähriger Historie, kommt nicht vor, dabei findet sich sein ehemaliger Programmleiter Rainer Moritz heute unter den Juroren. Mit Diogenes und Kein & Aber sind gleich zwei Schweizer Verlage auf der Liste, dagegen kein einziger aus Österreich, auch wenn die österreichische Literatur zurzeit mit Büchern von Daniel Kehlmann, Thomas Glavinic, Gerhard Roth, Arno Geiger, Michael Köhlmeier einen Boom erlebt wie lange nicht. Unterm Strich verrät die Liste mehr über die Voraussetzungen für gelingende oder misslingende Imagebildung im Buchgewerbe als über die tatsächliche intellektuelle Bedeutung oder Durchsetzungskraft der Verlage. Die Davids haben da einen unübersehbaren Vorsprung vor den Goliaths der Branche, die neuen, gerade gegründeten Labels vor den alten, lang erprobten Bücherhäusern, die politisch ungebundenen vor denen, die mit ihrem Programm weltanschauliche Bekenntnisse ablegen. Also, wer heute als Verleger im Literaturbetrieb schnell zu hohem Ansehen kommen will, muss jung sein, darf nicht groß werden und sollte niemanden mit seinen politischen Überzeugungen behelligen. Wenn er dann noch Michael Krüger heißt, kann nichts mehr schief gehen.

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