Verbrannt und vergessen

Volker Weidermann erzählt die Geschichten der Dichter, deren Bücher von den Nazis vernichtet wurden  

Das ist alles gar nicht so lange her, 75 Jahre sind ja noch ein verhältnismäßig überschaubarer, vorstellbarer Zeitraum – und doch kommt es einem vor wie aus einer anderen Welt. Man muss sich das einmal in seinen zeitlichen Abläufen vorstellen: Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichkanzler ernannt. Im März gründete sich ein so genanntes „Hauptamt für Presse und Propaganda der Deutschen Studentenschaft“. Am 8. April kündigte es als seine erste Maßnahme die „Öffentliche Verbrennung jüdisch zersetzenden Schrifttums durch die Studentenschaften der Hochschulen aus Anlass der schamlosen Hetze des Weltjudentums gegen Deutschland“ an. Nur einen Monat später, am 10. Mai brannten dann an fast allen deutschen Universitäten die Scheiterhaufen, ohne dass Proteste dagegen laut wurden. So rasend schnell ging das. Nur drei Monate brauchte es vom Machtantritt Hitlers bis zu dem Tag, an dem Professoren und Studenten der höchsten deutschen Lehranstalten die Bücher von 94 deutschsprachigen und 37 fremdsprachigen Dichtern vor Publikum verfeuerten. Dazu noch Werke etlicher Philosophen, Theoretiker und Sachbuchautoren. Keiner von ihnen wurde mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen, die Bücherverbrennung war keine staatlich angeordnete Zwangsmaßnahme, sondern eine Propaganda-Aktion ideologisch vernagelter Studenten. Man konnte sich ihr entziehen, wie Beispiele zeigten, ohne dramatische Konsequenzen fürchten zu müssen – aber fast niemand tat es. Volker Weidermanns „Buch der verbrannten Bücher“ ist – 75 Jahre nach dieser öffentlichen Einäscherung von Kulturgut – der erste Versuch, die Lebenswege all jener Autoren nachzuzeichnen, die seinerzeit auf der Liste der „Schönen Literatur“ standen. Zusammen ergeben die pointiert und lebendig geschriebenen Biografien so etwas wie ein Riesenfresko, wie ein Wimmelbild des Literaturbetriebs der Weimarer Republik, vorsortiert aus einer borniert rechtsradikalen Perspektive, in den Details aber liebevoll gemalt von dem Nachgeborenen Weidermann. Er konzentriert sich dabei auf die deutschsprachigen Schriftsteller, seine Porträts der fremdsprachigen sind eher summarisch. Die Autoren der verbrannten Sachbücher lässt er beiseite. Ein gewisser Wolfgang Herrmann hatte die Vernichtungs-Liste zusammengestellt, ein Bibliothekar und NSDAP-Mann von gerade mal 29 Jahren. Auf seinen Belletristik-Index setzte er keine sozial engagierten Klassiker wie Heinrich Heine oder Georg Büchner, sondern fast ausschließlich Autoren, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs seinen Zorn erregt hatten. So erweist sich seine Aufstellung, nachdem Weidermann sie mit biografischem Leben erfüllt hat, als eine Art soziologische Feldstudie über jenen Teil unter den deutschen Schriftstellern der Weimarer Republik, der die Ehre hatte, im Weltbild der Nazis unangenehm aufzufallen. Das ist höchst lehrreich. Denn was wir heute in den Literaturgeschichten über jene Epoche lesen, konzentriert sich – zu Recht – auf die Stars des Gewerbes, also auf Autoren wie Brecht und Benn, wie die Brüder Mann, wie Kafka, Döblin, Anna Seghers, Feuchtwanger oder Hofmannsthal. Über viele andere, weniger begabte Schriftsteller muss die Wissenschaft inzwischen mit Schweigen hinweggehen. Doch will man genau wissen, wie das literarische Leben damals aussah, darf man diese Talente nicht ausblenden. Der Literaturbetrieb jener Zeit war, wie die Weimarer Republik insgesamt, hoch politisiert und zugleich tief zerrissen. Eine Ahnung von jenem Klima der permanenten, fiebrigen Erregungszustände weht einen an, wenn man Weidermanns Buch liest. Es waren Jahre, in denen von den Schriftstellern gern alles bis ins Extrem vorangetrieben wurde, in denen Stefan George seine lyrischen Jubelfeiern auf Führerkult und Massenverachtung vollendete, Brecht mit der „Maßnahme“ seine theatralische Rechtfertigung des Stalinismus schrieb oder Ernst Jünger den Kampf als inneres Erlebnis pries. Sicher, im Werk von Autoren dieser Größenordung werden derartige Vorlieben fürs Extrem aufgehoben in bestechende literarische Konzepte und so gleichsam veredelt und ein wenig genießbarer gemacht. Doch von den linken wie rechten Mitläufern einer solchen Neigung zum Unbedingten, hört man heute nur noch wenig, obwohl auch sie dazu beitrugen, die Stimmung der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre immer weiter aufzurüsten, gleichsam verbal zu militarisieren – und dabei die wenigen besonnenen, demokratischen Stimmen, die sich zu Wort meldeten, noch mehr in den Hintergrund zu drängen. Dem Nazi-Bibliothekar Herrmann war das, als er seine Schwarze Liste zusammenstellte, einerlei: Liberale oder linke, besonnene oder extremistische, talentierte oder dilettierende Schriftsteller, das war ihm gleichgültig. Für ihn zählte nur ihre aus seiner Sicht falsche Gesinnung oder Religionszugehörigkeit. Weshalb also jüdische oder kommunistische Autoren seinen Zensoreneifer erregten, liegt auf der Hand. Bei anderen dagegen ist man auf Vermutungen angewiesen. Offenbar hatten all jene Schriftsteller Chancen, in sein Verzeichnis der zu verbrennenden Literatur zu kommen, die nicht bereit waren, die Kämpfe des Ersten Weltkriegs zu glorifizieren, sondern die das Morden in den Schützengräben als Gemetzel darstellten. Aber selbst wenn man, wie der Berliner Anwalt und Autor Alfred Schirokauer zu Beginn des Ersten Weltkriegs einen Roman veröffentlicht hatte, der die Kampfesfreude deutscher Soldaten beschwor und verherrlichte, konnte ihn das vor dem Bücherscheiterhaufen nicht retten, denn auf sein Konto ging auch eine schwärmerische Biografie des Arbeiterführers Ferdinand Lassalle. Doch letztlich ist es müßig, über die Motive dieses seltsamen Bibliothekars mit so ausgeprägten Wünschen nach Literaturvernichtung zu spekulieren. In manchen Teilen beruhte seine Liste vermutlich auf barer Willkür – wie die spätere Zensur der Nazis mitunter ja auch. Aus Weidermanns Buch kann man lernen, für welche absurden Pointen Herrmanns Liste sorgte: Bücher von Waldemar Bonsel, dem Vater der „Biene Maja“, wurden zum Beispiel verbrannt, obwohl er für sich in Anspruch nehmen konnte, ein gestandener Antisemit zu sein. Der Roman der Tänzerin Johanna Blaschke kam ins Feuer vermutlich nur, weil sie als Autorin das jüdisch klingende Pseudonym Rahel Sanzara benutzte. Und Hanns Heinz Ewers schließlich, dessen Name sich ebenfalls auf Herrmanns Nazi-Index findet, war 1931 von Adolf Hitler persönlich per Handschlag in die NSDAP aufgenommen worden und hielt acht Tage nach der Bücherverbrennung bei einem Berliner Empfang eine verehrungsvolle Begrüßungsrede für Propagandaminister Goebbels, den er zum Abschluss sogar noch mit einer Hitler-Büste beschenkte. Mit anderen Worten: Weidermanns Buch veranschaulicht nicht zuletzt, was für ein unzureichendes Instrument eine Auflistung ist, wenn es gilt, etwas so Individuelles und hoch Differenziertes wie literarische Werke zu ordnen und zu beurteilen. Fehler lassen sich da kaum vermeiden. Doch auch wir heute, 75 Jahre später, lieben unsere Listen. Sie sind aus dem Literatur- und Kulturbetrieb von heute nicht wegzudenken. Bestsellerlisten, Hitparaden, Charts, Rankings, sie sind fast allgegenwärtig. In unseren postmodernen Zeiten, in denen es keine allgemein verbindlichen kulturellen Hierarchien mehr gibt, sind sie ein gern genutztes Ordnungsmittel, mit dem wir unser ansonsten komplett unübersichtliches literarisches Leben zu strukturieren versuchen. Wie himmelweit entfernt sind all diese Listen von jener einen, zusammengestellt vom mediokren Bibliothekar Wolfgang Herrmann, von dem schon sehr bald selbst die Nazis ideologischer Verfehlungen wegen nichts mehr wissen wollten. So willkürlich seine Liste war, sie entschied Schicksale. Sie raubte Schriftstellern die Existenz, stigmatisierte sie vor ihrer Umwelt, drängte sie zur Emigration und damit in eine ungeschützte Lebenssituation, in der nicht wenige von ihnen endgültig den Boden unter den Füßen verloren. Weidermanns „Buch der verbrannten Bücher“ entfaltet diese Biografien Kapitel für Kapitel, 94 Existenzen, die durch eine fast zufällige Auflistung rabiat verkrümmt, verbogen, vernichtet wurden. Damit aber wird aus Volker Weidermanns Buch noch mehr als ein liebevoll ausgemaltes Gruppenporträt aus dem literarischen Leben der Weimarer Republik und der qualvollen Emigrationsjahre. Das Buch misst unausgesprochen und indirekt auch dem Literaturbetrieb von heute die Temperatur. Oder genauer, jener Kritik am Literaturbetrieb, die ihm so gern vorwirft, er sei oberflächlich, orientierungslos, ja chaotisch bis hin zum Verlust der Maßstäbe. Beliebigkeit lautet dann der beliebte Vorwurf – ein jeder stelle sich heute seine eigenen Lese-Listen nach eigenen Vorlieben zusammen. Anything goes! Ja sicher, die Probleme damit sollen nicht verleugnet werden. Aber wie mikroskopisch klein sind sie im Vergleich mit denen, die man vor 75 Jahren hatte, als es nicht Hunderte von Listen gab, sondern alles auf eine einzige ankam, mit der sich für 94 Schriftsteller fast alles entschied.

Volker Weidermann: „Das Buch der verbrannten Bücher“ Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008 253 Seiten, 18,95 Euro

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