Vier Autoren erzählen von der Macht und den Machthabern im Frühjahr 2008: Michael Kumpfmüller, Dirk Kurbjuweit, Bernhard Schlink und Lukas Bärfuss
Kurz und syllogistisch knapp sagt es Odo Marquard: „Menschen – schrieb Aristoteles – sind politische Lebewesen. Schriftsteller sind Menschen. Also sind Schriftsteller politische Lebewesen.“ Aber seit gut dreißig Jahren, seit sich die Dichter der Studentenbewegung dutzendweise in Richtung Neuer Innerlichkeit verabschiedeten, spielt der politische Roman in der deutschen Literatur nur eine Nebenrolle. Einen Autor wie Don DeLillo, der seit Jahrzehnten von Buch zu Buch ein politisches Porträt Amerikas zeichnet, gibt es hierzulande nicht. Doch vielleicht gilt diese Diagnose nicht mehr lange. In diesem Frühjahr erscheinen immerhin gleich vier deutschsprachige Romane, die von Politik oder Politikern erzählen. Sicher, auch in der Vergangenheit fehlte es nicht an politischen Stellungnahmen, Protesten oder Manifesten von Schriftstellern. Doch selbst wenn solche Erklärungen – um nochmals Marquard zu zitieren – oft wie „politpriesterliche Verlautbarungen des Weltgeistes ex cathedra“ klingen, sind es letztlich doch nur Äußerungen zur Politik, die Autoren als Bürger jenseits der Literatur von sich geben. Ein politischer Roman dagegen macht die Politik und das politische Milieu selbst zu dem Gegenstand, von dem er erzählt. Wird dieses Terrain gegenwärtig von deutschsprachigen Schriftstellern mit neuer Vehemenz erobert? Das hängt nicht zuletzt davon ab, wie ernst die Autoren ihr Thema nehmen. Michael Kumpfmüller zum Beispiel liefert mit seinem Roman „Nachrichten an alle“ nur so etwas wie politisierte Kolportage. Der Held seiner Geschichte ist ein Innenminister, der wie eine Mischung aus Otto Schily und Joschka Fischer wirkt. In dem fiktiven Deutschland, dessen Regierung er angehört, gibt es monatelange Vorstadt-Revolten wie 2005 in Frankreich. Doch nicht die stehen im Zentrum des Romans und auch nicht der völlig zusammenhanglos an den Anfang der Geschichte gestellten Tod der Tochter des Ministers. All das ist nur Staffage, durch die Kumpfmüller eine Affäre des Ministers mit einer Journalistin ausschmückt. Natürlich kann auch eine solche versteckte Liebe im Regierungsviertel ein reizvolles, aber im Grunde unpolitisches Thema abgeben. Doch Kumpfmüller fällt dazu wenig Originelles ein, ja er lässt seine Geschichte wiederholt in blanken Kitsch abgleiten – zum Beispiel wenn sein Held sich bei der ersten Begegnung mit der künftigen Gespielin „Typ Jean Seberg“ gleich wie „geblendet“ fühlt. Auf den ersten Blick ähnlich und doch völlig anders ist Dirk Kurbjuweits Roman „Nicht die ganze Wahrheit“. Hier hat der Chef ein großen Volkspartei, der ein wenig an Franz Müntefering erinnert, eine Affäre mit einer Abgeordneten aus der eignen Fraktion. Kurbjuweit erzählt aus der Perspektive eines Detektivs, der im Auftrag der betrogenen Ehefrau die Email-Korrespondenz der beiden ausforscht. Die elektronischen Liebesdialoge zeigen aber, wie konfliktreich sich hier Gefühl und Politik verschränken. Die junge Abgeordnete gehört nämlich zu einer Gruppe von Fraktions-Rebellen, die sich gegen ihren Kanzler stellen, da er „Sozialabbau“ betreibe. Der Parteichef muss also seine Geliebte, deren Idealismus ihn bezaubert und an eigene Träume erinnert, im Sinne der Realpolitik zum Verrat an ihren Überzeugungen zwingen. Vor allem mit der klugen, frechen und zugleich sehr verliebt Nachwuchspolitikerin ist Kurbjuweit hier eine literarisch eindrucksvolle Figur gelungen. Während sich Kurbjuweit ganz auf das alltagsgraue Tagesgeschäft des Berliner Politikbetriebs einlässt, greift Bernhard Schlink, der mit seinem Roman „Der Vorleser“ einen Welterfolg feierte, in seinem neuen Buch „Das Wochenende“ unübersehbar die Debatte um die Begnadigung Christian Klars auf. Die zentrale Figur ist hier ein Terrorist, der nach über zwanzig Jahren aus der Haft entlassen und von seiner Schwester vor der Presse zunächst in ein abgelegenes Landhaus in Sicherheit gebracht wird. Dort erwarten ihn alte Freunde, die einst manche seine Überzeugungen teilten, aber klug genug waren, sich nie zu Gewalttaten verführen zu lassen. Wer das Buch als realistischen Roman liest, wird wenig Freude an ihm haben, denn vieles wirkt konstruiert. Man kann es aber auch als ein stilisiertes, lehrstückhaftes Kammerspiel betrachtet, in dem wie in einem Kriminalroman Agatha Christies alle Beteiligten an einem Verbrechen für ein Wochenende auf einem unzugänglichen Adelssitz zusammengeführt werden. Dann beweist es seine Qualitäten, denn es führt dem Leser nicht nur politische Argumente vor Augen, sondern mit beträchtlicher Intensität auch einige von politischem Fanatismus zerstörte Schicksale. Der stärkste Roman stammt allerdings von dem jüngsten der vier Autoren. Lukas Bärfuss wurde 1971 in Zürich geboren und gilt heute – vor allem wegen seines großartigen Stückes „Der Bus“ – als einer der wichtigsten jüngeren Dramatiker des deutschsprachigen Theaters. In seinem ersten Roman „Hundert Tage“ wagt er sich jetzt als Erzähler an den Völkermord in Ruanda 1994. Seine Hauptfigur ist ein Schweizer Entwicklungshelfer, der die letzten Jahre vor dem Gewaltausbruch im Lande miterlebt und mit bestem Gewissen seiner Arbeit nachgeht. Ordnungssinn und Organisationskraft wollen seine Kollegen und er den Einheimischen vermitteln – und müssen sich nach dem Genozid eingestehen, das Morden hätte nie so entsetzlich effizient ablaufen können, wäre es nicht von gelehrigen Ruandern mit großem Ordnungssinn und viel Organisationskraft akribisch vorbereitet worden. Im Roman von Bärfuss wird die (Entwicklungs-)Politik selbst zum Thema – nämlich das Dilemma der westlichen Welt, moralisch zur Unterstützung der Dritten Welt verpflichtet zu sein, andererseits aber durch Eingriffe in die Machtbalance dieser Länder oft genug korrupten Eliten in die Hände zu spielen und so neues Unheil zu säen. Auch in diesem Buch gibt es eine Liebesgeschichte, doch lenkt sie nicht – wie bei Kumpfmüller – von den politischen Ereignissen ab. Vielmehr demonstriert Bärfuss an ihrem Beispiel, wie kenntnis- und verständnislos sein Schweizer Held den afrikanischen Verhältnissen gegenübersteht: So sehr er seine einheimische Geliebte auch begehrt, so fremd bleibt sie ihm in ihrem archaischen Verhältnis zu Macht und Gewalt. Wer sich millimetergenau an die Regeln politischer Korrektheit hält, wird an diesem Porträt einer jungen Frau als Einpeitscherin des Massenmordes Anstoß nehmen. Wer jedoch Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ gelesen hat, wird manche literaturhistorische Parallele entdecken.
Michael Kumpfmüller: „Nachricht an alle“. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008 383 Seiten, 19,95 €
Dirk Kurbjuweit: „Nicht die ganze Wahrheit“. Roman. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2008 220 Seiten, 19,90 €
Bernhard Schlink: „Das Wochenende“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2008 225 Seiten, 18,90 €
Lukas Bärfuss: „100 Tage“. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2008 197 Seiten, 19,90 €