Zu Gerhard Roths Autobiographie „Das Alphabet der Zeit“ anlässlich einer Lesung in Frankfurt am Main
Die griechische Mythenwelt kannte neun Musen. Sie alle waren Töchter des Zeus. Um in dieser beeindruckend großen Schar den Überblick zu bewahren, welche der Musen für welche Kunstrichtung zuständig war, gaben ihnen die Griechen auf Abbildungen Gegenstände in die Hände, an denen sich ihre Aufgaben ablesen ließen. Thalia zum Beispiel, der Schutzgöttin der Komödie, eine lachende Theatermaske und Euterpe, der Schutzgöttin der Lyrik und des Flötenspiels naturgemäß eine Flöte. Bei zwei dieser Zeustöchter können allerdings selbst exzellente Kenner der Mythologie leicht mal ins Schwimmen kommen: Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, trägt als Erkennungszeichen eine Buchrolle und einen Schreibgriffel, Kalliope aber, die Muse der epischen Dichtung, deren schöne Stimme besonders gepriesen wurde, statteten die griechischen Malern oder Bildhauern mit exakt den gleichen Merkmalen aus, mit Buchrolle und Schreibgriffel. Ein Zufall ist das nicht. Für die Griechen waren Epos und Geschichtsbericht einander so nahe, dass sie zwischen beidem mitunter nur wenig oder schlicht keinen Unterschied machten. Wer heute Romane schreibt, wird schnell ein Erzähler genannt. Bei Gerhard Roth trifft diese Bezeichnung nicht genau. Seine schriftstellerischen Leidenschaften zielen aufs Epische, auf den großen, breiten, ungeheuere Materialmassen bewegenden Erzählstrom. Er formt seine Bücher gern zu umfangreichen Zyklen und betreibt mit ihnen immer auch das, was man literarische Geschichtsschreibung nennen kann. Um es im mythologischen Vokabular zu sagen: Wenn sich Gerhard Roth an ein Manuskript setzt, dann nehmen regelmäßig Klio und Kalliope neben ihm Platz. 1991 schloss Roth nach zehnjähriger Arbeit seinen Romanzyklus „Die Archive des Schweigens“ ab, der so etwas wie ein Bewusstseinspanorama Österreichs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwirft. „Die Welt“, hat Roth einmal in einem Gespräch gesagt, „in die meine Generation hineingeboren wurde, war bankrott. Alle Sinnsysteme sind am Boden gelegen. Der nationalsozialistische Staat wie der kommunistische, der christlich-soziale wie die katholische Kirche selbst. Auch wenn sie weiter bestanden oder bestehen, hat das nichts zu sagen. Man blickte in einen erloschenen Vulkan, der dastand wie eine ewige Erinnerung an das Grauen.“ Roths sieben Romane der „Archive des Schweigens“ machen sich auf die Suche nach den Gründen für diesen Vulkanausbruch. Wie konnte es zu der Katastrophe kommen? Aber sie deklinieren dabei nicht noch einmal die allgemein bekannten politischen Daten und Vorgänge durch, sondern fahnden nach einem verborgenen Schattenreich der Geschichte, das der offiziellen Historiographie entgeht, das aber die Mentalitäten der Menschen bereit machte für den Nationalsozialismus. Wie Michel Foucault in Frankreich mit philosophischen Mitteln, so erforschte Roth mit literarischen Mitteln am Beispiel Österreichs wie ein Staat mit den Ausgegrenzten, mit den Obdachlosen, den Geisteskranken oder Kriminellen umgeht. Wie Schule, Justiz, Medizin und vor allem Militär die Menschen zurechtstutzten und reif machten für den Gewaltausbruch des Nationalsozialismus. Und wie diese Institutionen auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihren alten Mechanismen noch immer nachwirkten. Was ihn literarisch reizt, ist das, was die traditionelle Geschichtswissenschaft lange Zeit als unbedeutend beiseite schob oder immer noch beiseite schiebt. In seinem folgenden Romanzyklus mit dem Titel „Orkus“, an dem Gerhard Roth seither arbeitet, hat er dieses Geschichtsprojekt behutsam ins Internationale erweitert. In den bislang fünf Bänden „Der See“, „Der Plan“, „Der Berg“, „Der Strom“ und „Das Labyrinth“ stehen zwar auch Österreicher und damit ihre österreichische Heimat im Mittelpunkt, die Schauplätze allerdings liegen oft genug in anderen, mitunter fernen Ländern und bringen so neue, andere Perspektiven in Roths Arbeit hinein. Doch hat er darüber das spezifisch österreichische Geschichtstrauma nicht aus den Augen verloren. Sein jüngstes Buch „Das Alphabet der Zeit“ ist zugleich sein persönlichstes geworden. Es sind seine autobiographischen Aufzeichnungen über Kindheit und Jugend, beginnend mit den frühesten Gedächtnisspuren rund um das Kriegsende 1945 bis hin zu den Erinnerungen des einundzwanzigjährigen Medizinstudenten Roth, der im November 1963 im Autoradio von der Ermordung John F. Kennedys hört. Aber auch wenn Roth hier zum ersten Mal überhaupt direkt und unverstellt von seinem Leben erzählt, dann ist in dem Buch dennoch zugleich von mehr die Rede als nur von der eigenen Biographie. Das „Alphabet der Zeit“ ist sein persönliches Epos – und dennoch gemäß seines fortgesetzten literarischen Geschichtserforschungsprogramms zugleich ein Werk der Historiographie. Auch bei der Arbeit zu diesem Buch haben Roth Klio und Kalliope schwesterlich vereint zur Seite gestanden. Die Methode, mit der Roth hier über seine frühen Jahren schreibt, ist bemerkenswert. Er erzählt keine kontinuierliche, in sich geschlossene Lebensgeschichte, sondern er legt so etwas wie ein Lebensmosaik aus. Die Bruchlinien zwischen den einzelnen Gedächtnissplittern sind ihm wichtig. Schließlich wissen wir alle sehr genau, wie leicht uns unsere Erinnerungen täuschen, wie schnell wir solche Splitter und Fragmente zu logischen, sinnvollen Geschichten zurechtkneten – weil wir es so gerne hätten, dass unser Leben logisch und sinnvoll verlaufen ist und wir rückblickend feststellen wollen, dass wir logisch und sinnvoll gehandelt haben. Doch wer ehrlich ist mit sich selbst, der gibt zu, wie wenig er über sich und seine Motive weiß und dass seine Erinnerungen, wie Gerhard Roth im Motto zu seinem „Alphabet der Zeit“ sagt, nur „eine Fata Morgana sind in der Wüste des Vergessens.“ Dieses literarische Verfahren eines Lebensmosaiks erinnert an ein großes autobiographisches Buch des 20. Jahrhunderts. 1932 reiste Walter Benjamin nach Nizza mit dem festen Vorsatz, sich dort in einem Hotel umzubringen. Er schieb Abschiedsbriefe, bestimmte einen Nachlassverwalter – und führte das Vorhaben dann doch nicht aus. Stattdessen begann er Prosaminiaturen über seine Kindheit im Berliner Großbürgermilieu zu schreiben, deren hoch entwickelte Lebenskultur mit dem Ersten Weltkrieg unwiederbringlich versunken war. Doch Benjamin erging sich nicht in naiver Nostalgie. Er versuchte vielmehr mit den Miniaturen einerseits die Welt seiner Kindheit in der Imagination wiederzubeleben, sie andererseits aber akribisch nach jenen Keimen der Zerstörung zu durchmustern, mit denen das Bürgertum schließlich zum Ersten Weltkrieg und damit zum eigenen Untergang beitrug und dem Nationalsozialismus den Weg bahnte. Eben die Nazis sorgten dann dafür, dass Benjamin dieses Erinnerungs-Buch, dem er den Titel „Berliner Kindheit um 1900“ gab, zu seinen Lebzeiten nie als Buch in Händen halten konnte. Es erschien erst lange nach seinem Tod, herausgegeben von seinem Freund Theodor W. Adorno. Gerhard Roth ist, wie es der Zufall oder die Musen wollten, bis auf wenige Tage genau 50 Jahre nach Walter Benjamin geboren. Seinem „Alphabet der Zeit“ darf man mit Seitenblick auf Benjamins Buch vielleicht den Nebentitel „Österreichische Kindheit um 1950“ beigeben. Denn Roth betreibt hier schreibend etwas, das den Absichten Benjamins sehr ähnlich ist und das doch zugleich das spiegelbildliche Gegenstück darstellt. Während Benjamin über das noch scheinbar intakte, kultivierte Großbürgertum schrieb, in dem aber schon die Weichen gestellt wurden hin zu jenem Vulkanausbruch der Gewalt, der dann nicht nur diese Großbürgerkultur unter sich begrub, schreibt Gerhard Roth über das Leben nach der kompletten politischen, moralischen, geistigen Zerstörung und sucht in dieser wüsten Zeit nach den ersten Keimen eines erwachenden aufklärerischen Bewusstsein, das begreifen will, wie es zu dieser umfassenden Katastrophe kommen konnte. Wie in einer Diashow führt Roth Erinnerungsbild um Erinnerungsbild vor und durchforscht sie nach zweierlei, nach den Spuren der Verrohung, die der gerade erst überstandene Nationalsozialismus und die Kriegjahre unter den Menschen hinterlassen haben, aber auch nach den ersten Anzeichen für den Wunsch des Kindes, hinter die Kulissen zu schauen, die dunklen Stellen seiner Umwelt auszuleuchten, das von den Erwachsenen gezielt oder auch unbewusst Verschwiegene endlich zu erforschen und zur Sprache zu bringen. In einem Erinnerungssplitter Gerhard Roths scheint mir diese literarische Technik recht exemplarisch zum Ausdruck zu kommen. Der kleine Gerhard ist gerade zur Schule gekommen, er hat zwei Brüder, den etwas älteren Paul und den zwei Jahre jüngeren Helmut. Es ist der Nikolaustag 1948 oder 49 und zu den drei Kindern kommt – den Vorweihnachts-Traditionen folgend – der Nikolaus mit Bischofsmütze und Krummstab und in seiner Begleitung der Gehilfe namens „Krampus“, gehüllt in ein schwarzes Fell, das Gesicht hinter einer Teufelsmaske mit Hörnern versteckt und mit einem Korb, österreichisch „Butte“ genannt, auf dem Rücken. „Wir rissen“ erinnert sich Roth in seinem Buch, „vor Schreck die Münder auf und hörten wortlos zu, was der Nikolaus sagte. Er las jedem von uns aus seinem dicken Buch vor, was wir falsch gemacht hatten und sprach so ausführlich über unsere Missetaten, als ob er dabei gewesen wäre. … Erschrocken fragten wir uns, wie das möglich war. Als er Helmut beschuldigte, nicht folgsam gewesen zu sein, streckte ihm dieser die Zunge heraus. Das Weitere geschah so schnell, dass wir starr vor Schreck waren. Der Krampus hob den verdutzten Helmut in seine Butte und lief mit ihm davon. Ich hörte meinen Bruder vor der Tür laut schreien und sprang ihm die Stiegen hinunter nach, um ihn zu retten. Draußen war es schon dunkel, und vor der Gartentür bekam ich die Butte zu fassen und zerrte an ihr, dadurch brachte ich die Gestalt aus dem Gleichgewicht und der weinende Helmut konnte herausspringen. Bevor noch Schlimmeres geschah, kam unsere Mutter angelaufen und beschwerte sich beim Krampus, dass er zu weit gegangen sei. Im selben Augenblick schob dieser sich die Maske aus dem Gesicht, und ich erkannte in der Dunkelheit, den lachenden Herrn Schlack“, einen Nachbarn. „Auch der Nikolaus war inzwischen herbeigeeilt und gab sich vor Charme sprühend als der verwitwete Schneider Pechstein zu erkennen. Das bestärkte nur meine Zweifel an dem, was ich vom Leben zu sehen bekam. Ich fühlte mich durch den Vorfall ebenso betrogen wie gedemütigt. Wurden wir nicht wie Narren behandelt?“ Bemerkenswert ist an dieser Erinnerungsminiatur Roths nicht nur, wie grundsätzlich der sechsjährige Gerhard die Demaskierung von Nikolaus und Krampus erlebte. Bemerkenswert ist auch die Leichtfertigkeit und der Mangel an Einfühlungsvermögen mit der die beiden maskierten Männer zuvor den vielleicht gerade mal vierjährigen Helmut ängstigten, die Bedenkenlosigkeit, mit der sie ihre Überlegenheit ausspielten und den an sich harmlosen Nikolaus-Brauch wie ein Strafgericht über die Kinder inszenierten. Mit solchen Gedächtnissplittern fügt Roth Fragment für Fragment eine Art mosaikhaftes Porträt der Zeit um 1950 zusammen. Und er richtet dabei den Blick wieder besonders genau auf den Umgang mit Hilflosen oder Hilfsbedürftigen, weil der seinem Verständnis nach besonders verräterisch ist für den Zustand der Epoche. Er beschreibt das Verhältnis seines Vaters, dem Arzt, zu seinen Patienten, aber auch der Behörden zu seinem Vater, der als Rumäniendeutscher in Österreich staatenlos war und als nahezu rechtlos behandelt wurde. Er erzählt, wie die Nachbarn mit seiner Großmutter umsprangen, die an einem Tourette-Syndrom, einem eigentümlichen Gesichtszucken, litt und vor allem, wie erst die Schule, später die Universität ihn gefügig zu machen versuchte. Michel Foucault nennt das Zusammenspiel solcher Institutionen, die darauf zielen, die ihnen anvertrauten Menschen nach den Vorstellungen der Gesellschaft zurechtzubiegen, die „Mikrophysik der Macht“. Gerhard Roth breitet in seinem „Alphabet der Zeit“ ein Album von Erinnerungsbildern aus, auf denen diese Mikrophysik der Macht gleichsam bei ihrer Arbeit festgehalten wird – in dem aber auch der gar nicht so leise Triumph des jungen Mannes namens Gerhard Roth spürbar wird, sich der zurichtenden Gewalt dieser Mikrophysik nach und nach zu entziehen.