„Stadt der wilden Hunde“

 Martin Mosebachs Nachrichten über das alltägliche Indien und über sich selbst
Unter deutschen Schriftstellern der letzten zweihundert Jahren trifft man gelegentlich auf eine recht unerfreulich Haltung zum Reisen. Sie berichten aus anderen Ländern mit einer übersteigerten, aus Klassik und Romantik abgeleiteten Bildungsschwärmerei, die ein glanzvolles Licht nur auf das Alte, wenn möglich Antike fallen lässt und alles Zeitgenössische als Zumutung und Verfallserscheinung betrachtet. Diese Attitüde wird gern kulturkonservativ genannt. Doch kann der Begriff kaum bemänteln, dass die Autoren so die Reize der Gegenwart eintauschen gegen ein idealistisch aufgemöbeltes, schon daheim unverrückbar zusammen gezimmertes, antiquarisches Weltbild, und dass sie es der Realität offenbar nicht verzeihen wollen, wenn die sich das Recht herausnimmt, Winckelmanns Vorstellungen von „edler Einfalt und stiller Größe“ zu widersprechen. Martin Mosebach, der Büchner-Preisträger des vergangenen Jahres, hat zweifellos starke kulturkonservative Neigungen. Zu seiner Arbeitsweise gehören ausgedehnte Auslandsreisen, während denen er in abgelegenen Orten an seinen Romanen über die Frankfurter Heimat schreibt. Einige der Erfahrungen, die er bei solchen Aufenthalten sammelte, hat er vor zehn Jahren in dem Italien-Buch „Die schöne Gewohnheit zu leben“ verarbeitet. Jetzt erscheint unter dem Titel „Stadt der wilden Hunde“ ein zweiter Reisebericht, der diesmal von einem mehrmonatigen Rückzug in die westindische Kleinstadt Bikaner erzählt. In seinem Buch über Italien war Mosebach nicht immer ganz frei von jener kulturkonservativen Verklärung des Vergangenen. Doch rettete ihn sein unermüdliches Interesse für die Alltagsphänomene der Gegenwart davor, sich dieser Neigung allzu sehr hinzugeben. Sicher, Mosebach lässt wenig Zweifel daran, dass er die Moderne als eine Phase des kulturellen Niedergangs betrachtet. Aber von den Indizien dieses Abstiegs wendet er sich nicht mit Verachtung ab, sondern widmet sich ihnen mit einer liebevollen, leise ironischen, fast zärtlichen Aufmerksamkeit, an der man als Leser auch dann seine helle Freude haben kann, wenn man Mosebachs Geschichtsbild in keiner Weise teilt. Wie ein begeisterter Gerichtsmediziner, der einen in Auflösung begriffenen Kadaver seziert, beugt er sich mit unermüdlicher Forscherfreude über die bunt schillernden, zu bizarren Formen aufblühenden Verfallsmerkmale am Kulturkörper der Epoche. An Respekt gegenüber Indien, den Indern und der hinduistischen Religion lässt es Mosebach in seinem neuen Reisebuch, wie schon in seinem Roman „Das Beben“, nicht fehlen. Allerdings ist auch hier nicht zu übersehen, dass ihn die Geschichte des Landes, oder besser: die Vorstellung, die er sich von der Geschichte des Landes macht, mehr beeindruckt, als dessen Gegenwart. Die Moderne bleibt das mit Interesse studierte Feindbild. Wenn er sich beispielsweise für die Natur, die Landschaften, die Architektur Indiens begeistert, verschweigt er dabei nicht die Symptome einer verbreiteten Verwahrlosung. Doch beschreibt er sie eben als „Zeichen der Moderne“, als „Zeugnis einer Erschütterung, die der Zusammenprall mit industriellen Produktionsformen hervorgerufen hat. Auch Europa wurde schmutzig, als es sich zu industrialisieren begann.“ Im Zentrum des Buches steht Mosebachs Interesse an der Religiosität der Inder. Er ist in Bikaner, schreibt er, bei einem hinduistischen „Ehepaar aus der akademischen Bourgeoisie“ untergebracht, und begleitet den Hausherren Sudhir zu etlichen Tempeln oder heiligen Stätten, befragt ihn zu Gurus oder dem Kastenwesen, und lässt sich von ihm in einfachere Opferzeremonien oder Gebetsriten einführen. Die Ergebnisse seiner Erkundigungen überbewertet er nicht, er betrachten sich als Europäer, der „an indischen Religionsphänomenen naschend“ der spirituellen Welt des Landes näher zu kommen versucht, letztlich aber weiß, dass er nie wirklich völlig vertraut mit ihr werden kann. Mosebach spürt mit anthropologischer Neugier einer religiösen Grundhaltung nach, die ihm nicht nur für Indien bezeichnend zu sein scheint. Das Heilige sei für seinen Gastgeber, schreibt er, ein unbezweifelbares Grunderlebnis, ein Axiom. Doch suche er es nie in sich selbst, sondern immer im Alten: „Das Alte und das Heilige waren beinahe synonym“. Auch die üblichen Widersprüchlichkeiten, die sich mit der Vorstellung des Heiligen verknüpfen, könnten Sudhir nicht stören, denn in seinen Augen müsse das Heilige als Teil einer höheren Ordnung im Diesseits zwangsläufig absurd wirken. Mit diesem Charakterbild seines Gastgebers aber hat er, gesteht Mosebach, sich in Indien selbst wiedergefunden. Denn in diesem psychologischen Porträt verbirgt sich unübersehbar ein Selbstbildnis des antimodernen, in die Absurditäten der katholischen Orthodoxie verliebten Martin Mosebach.

Martin Mosebach: „Stadt der wilden Hunde“. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien Carl Hanser Verlag, München 2008 174 Seiten, 16,90 €

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