Der bekannte Epiker der DDR, Erwin Strittmatter, gehörte einem SS-Regiment an. Die SED wusste das und schwieg in der Öffentlichkeit dazu.
Erwin Strittmatter, der große Epiker der DDR, gehörte im Zweiten Weltkrieg, so wurde jetzt bekannt, einem SS-Regiment an. In seiner Romantrilogie „Der Wundertäter“ hatte er Kriegserfahrungen verarbeitet, seinen Lesern aber zeitlebens vorenthalten, dass er in einer Truppe diente, die an Massakern und Geiselerschießungen beteiligt war. Die SED wusste mehr als die Leser und schwieg öffentlich dazu. Ob sie Strittmatter, der sich mitunter regimekritisch geäußert hat, mit diesem Wissen erpresste, ist unklar. Dass er erpressbar war, liegt auf der Hand. An Nachrichten wie dieser war in den jüngsten Jahren kein Mangel. Etliche Intellektuelle und Schriftsteller, die nach dem Krieg anderen ihre Nazi-Verstrickungen vorgehalten hatten, mussten sich nun mit Belegen für eigene Mitgliedschaften in NSDAP oder SS konfrontieren lassen. Prominentester Fall ist Günter Grass, der sich 2006 dazu bekannte, 1944 als 17-Jähriger zur Waffen-SS einberufen worden zu sein. Anders als Strittmatter überließ er damit die Entdeckung des heiklen biografischen Punkts nicht den Historikern, sondern gestand ihn ein. Niemand wird ihm zum Vorwurf machen wollen, dass er als Jugendlicher zur Waffen-SS geriet. Doch dass er trotz des moralischen Rigorismus, mit dem er von anderen die Offenlegung ihrer Vergangenheit forderte, selbst über dieses Kapitel seines Lebens lange schwieg, beschädigt selbstverständlich seine Glaubwürdigkeit. Die Verehrung von Schriftstellern als Repräsentanten oder als Gewissen der Nation hat in Deutschland Tradition. In einem lange unter seiner inneren Zersplitterung leidenden Land ist das verständlich. Kultur und Sprache mussten über Jahrhunderte die Klammer bilden, die den Bürgern politisch vorenthalten blieb. Zur Zeit der Weimarer Klassik gab es in Deutschland Dutzende von Kleinstaaten – aber nur einen Goethe. Nach dem Zweiten Weltkrieg dann lag das Land politisch und moralisch am Boden. Nur zu gern richteten sich die Deutschen am Glanz ihrer kulturellen Tradition wieder auf: Dieses Volk hatte Hitler hervorgebracht – aber auch Thomas Mann. Also wurde von den Autoren zuallererst Belehrung, Ernst, Sinnstiftung, Würde erwartet. Nüchtern betrachtet eignen sich Schriftsteller für eine solche Rolle nicht gut. Viele von ihnen sind, wie die meisten Künstler, labile, gefährdete und oft sehr selbstbezogene Menschen. Ein Künstler darf, wie ein Kunstwerk, nie ganz festlegbar, nie völlig berechenbar sein. Er muss überraschen und verblüffen können, muss unbewussten Eingebungen folgen dürfen, ohne sich zu jeder Zeit mit kritischer Vernunft über sein Vorgehen Rechenschaft abzulegen. „Ein Dichter ist“, um es mit Thomas Mann zu sagen, „ein auf allen Gebieten ernsthafter Tätigkeit unbedingt unbrauchbarer, einzig auf Allotria bedachter, dem Staate nicht nur nicht nützlicher, sondern sogar aufsässig gesinnter Kumpan.“ Diese habituelle Aufsässigkeit sorgt allerdings dafür, dass Schriftsteller in Diktaturen nicht selten zu Symbolfiguren von Oppositionsbewegungen heranwachsen wie Solschenizyn – oder schließlich ganz ins politische Fach wechseln wie Václav Havel. Der Mut, sich gegen vorherrschende Meinungen zu stellen, prädestiniert Autoren in manchen Situationen auch dazu, unterdrückte oder unerwünschte Ansichten in die Öffentlichkeit zu tragen wie Emil Zola in der Dreyfusaffäre oder Heinrich Böll mit seinem Aufruf „Freies Geleit für Ulrike Meinhof“. Doch all dieser oft bewundernswerten Qualitäten zum Trotz haben Schriftsteller naturgemäß keine höhere Einsicht in politischen Fragen als andere Bürger. Anders als es die Genieästhetik will, sind sie nicht von erhabenen Geistern inspiriert. Zumal in offenen, liberalen Gesellschaften, in denen jeder am politischen Meinungsstreit teilnehmen kann, dürfen sie für ihre Sicht der Dinge keine Privilegien in Anspruch nehmen. „Wenn sie sich politisch äußern“, schreibt der Philosoph Odo Marquard, „ergibt das keine politpriesterlichen Verlautbarungen des Weltgeistes ex cathedra, sondern es handelt sich dabei dann selber um politische Maßnahmen, die politisch klug und produktiv oder – insbesondere, wo sie Eitelkeiten pflegen und Wichtigkeitserlebnisse suchen – politisch unklug und kontraproduktiv sein können.“ Kurz: In politischen Fragen verdient ein Schriftstellen nicht mehr Verehrung als ein Politiker. Und er kann wie ein Politiker seine Glaubwürdigkeit gründlich verspielen.