Die Häupter meiner Lieben

Das Marbacher Literaturmuseum der Moderne zeigt Porträt-Plastiken aus dem Kreis um Stefan George

Stefan George ist erst 75 Jahre tot – und doch kommt er intellektuell wie aus einer anderen Welt. Während wir es heute gern sehen, wenn Literatur populär ist, konnte sie ihm gar nicht elitär genug sein. Während wir Demokratie, Freiheit und Aufklärung für zentrale westliche Werte halten, predigte er Führerkult, unbedingte Gefolgschaft und eine griechenschwärmerische, männerbündlerisch Esoterik. Während wir oft glauben, Dichter fürsorglich unter Kulturschutz stellen zu müssen, sah er im Dichter wie selbstverständlich die prägende Herrschergestalt seiner Epoche. Während wir uns drin üben, eine Mehrzahl von Wahrheiten und Ansichten parallel zu tolerieren, bestand er darauf, dass nur einer allein – nämlich er, Stefan George – im Besitz der alleinseligmachenden Weisheit sei: „In jeder ewe / Ist nur ein gott und einer nur sein künder.“ Sicher, fast alle Künstler neigen zu Selbststilisierungen und Selbstmystifikationen. Doch aus heutiger Sicht richtet sich bei keinem anderen Schriftsteller der Moderne das Bedürfnis nach Imagepflege so offenkundig auf unzeitgemäße Ziele wie bei George und wirkt deshalb oft so peinlich. Brecht, der Bürgersohn in Lederjacke, liebte die Rolle des proletarischen Revolutionärs, Hemingway die eines flintentragenden Abenteurers, d’Annunzio die eines Renaissancefürsten im Doppeldecker. George aber griff zu den Sternen und inszenierte sich als schwarz verhüllter, in unbestimmte Fernen blickenden Prophet einer neuen Kunst-Religion, der er mit dem früh verstorbenen Knaben Maximin sogar einen Gott mitlieferte. Lange stand er in der Bundesrepublik unter dringendem Faschismusverdacht – und der war nicht aus der Luft gegriffen. Als die Nazis ihn 1933 öffentlich für sich einzuspannen versuchten, wehrte er zwar ab, schrieb aber zugleich: „Die ahnherrschaft der neuen nationalen Bewegung leugne ich durchaus nicht ab und schiebe auch meine geistige mitwirkung nicht beiseite. Was ich dafür tun konnte habe ich getan.“ Heute dagegen wird er mitunter, da Hitler-Attentäter Claus von Stauffenberg als junger Mann dem George-Kreis angehörte, zu einem Wegbereiter des Widerstandes erklärt. Mit den spezifisch ästhetischen Qualitäten seines Werks hat weder die eine noch die andere politische Zuordnung etwas zu tun. Dem Charisma seiner Sprache und seiner Person verdankte er die enorme Anziehungsmacht, die lange von ihm ausging. Die Ausstrahlungskraft seiner Sprache hat allerdings in dem dreiviertel Jahrhundert seit seinem Tod gelitten. George stimmte seine Lyrik so konsequent auf einen hohen, erhabenen, komplett ironiefreien Ton, dass ein Leser von heute, der durch Literatur und Leben auf einen rasanten Wechsel der Sprachebenen trainiert ist, sich von seinen Gedichten recht bald unterfordert fühlen kann. Hat man eines von ihnen gelesen, kennt man zwar noch nicht alle, aber die übrigen halten sprachlich keine großen Überraschungen mehr bereit. Das Charisma seiner Person muss zu Lebzeiten enorm gewesen sein. Davon zeugt nicht zuletzt die erstaunlich hohe Zahl von Porträtskulpturen die jetzt im Marbacher Literaturmuseum der Moderne ausgestellt werden unter dem Titel: „Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung“. Schließlich ist es George allein durch die Wirkung seiner Worte und seines Auftretens gelungen, einen weit verzweigten „Kreis“ oder „Staat“ von zum Teil hoch gebildeten Menschen um sich zu versammeln, die gläubig an seinen Lippen hingen und jeden Satz von ihm wie eine Offenbarung entgegennahmen. Der Philosoph und Soziologe Max Weber beschrieb diesen Kreis frühzeitig als Sekte und handelte sich damit naturgemäß die aggressive Abwehr der Anhänger Georges ein. „Nicht restlos geklärt“, schreibt Museumsdirektor Ulrich Raulff, „ist die Funktion, die die Skulpturen des George-Kreises besaßen.“ Sie sind nämlich – und es ist der Ausstellung hoch anzurechnen, dass sie daran wenig Zweifel lässt – unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet, nicht sonderlich gut. Im Gegenteil, man fragt sich, schreibt Raulff, wie sich die formbewussten Sprachartisten und Philologen des George-Kreises, „mit einer derart alle Standards der Zeit missachtenden Kunstübung zufrieden geben“ konnten. Eine Antwort auf dieses Rätsel könnte vielleicht ein vergleichender Blick auf die Fan-Clubs heutiger Pop-Stars bereithalten, in denen selbst durchaus reflektierte Menschen gelegentlich zu kritiklosen Schwärmern regredieren, die sich malend, zeichnend oder eben töpfernd mit dem Bildnis des angebeteten Idols beschäftigen. Ganz so harmlos, war das Programm des George-Fan-Clubs allerdings nicht. Nach Georges Überzeugung gehörte es zum „Amt“ des Dichters, nach seinen Vorstellungen neue Menschen zu formen, die sein Volk und seinen Staat bilden sollen. Ein Programm, das spürbar darauf zielt, alles Fremde und Andere auszuschalten, und dessen totalitärer Anspruch kaum zu überhören ist. Wer will, kann also in den Bildhauerarbeiten der George-Jünger, die nicht nur den Kopf ihres Meisters zum Objekt ihrer künstlerischen Bemühungen machten, sondern sich auch gegenseitig Modell saßen oder Knaben und junge Männer in Gips porträtierten, als künstlerische Vorübung für eine radikal zu verstehende Menschenbildung sehen. Ist es ein Sakrileg anzudeuten, dass bei all dem die Homosexualität Georges vermutlich keine geringe Rolle spielte? Thomas Karlauf beschreibt in seiner neuen George-Biographie (Blessing Verlag, 810 Seiten, 29,95 €), wie häufig George mit den von ihm verehrten Jünglingen bald möglichst zum Fotografen ging, um so zumindest ihr Bildnis umgehend in Besitz zu nehmen. Von Claus von Stauffenbergs Bruder Berthold machte er, wie sich Alexander von Stauffenberg erinnerte, „eine hinreißende stehende Nacktaufnahme“. Ähnliche Aufnahmen wurden im Kreis für Skulpturen nackter Knaben angefertigt und sind jetzt in Marbach zu sehen. Es ist wohl nicht abwegig, in diesen Bildern auch erotische Anregungsmittel für die privaten Gebrauch Georges zu sehen, vulgo: seine Wichsvorlagen. Bleibt die Frage: Muss man so etwas ausstellen? Ulrich Raulff und sein Mitkurator Lutz Näfelt vermeiden klug jede Monumentalisierung oder falsche Ehrfurcht vor den gezeigten Plastiken. Einen Gefallen haben sie George mit dieser Präsentation dennoch nicht getan. Selbst wer Georges Lyrik heute skeptisch beurteilt, wird doch jederzeit zugeben, dass sie um Klassen besser ist als die Versuche seines Kreises, wie Raulff schreibt, „das Land der Griechen aus der Gipstüte zu zaubern“. Dennoch rückt die Leidenschaft, mit der sie diesen wenig glücklichen Bemühungen frönten, zu denen sie George offenbar ermunterte, rückblickend den Kunstverstand aller Beteiligten in ein nicht eben vorteilhaftes Licht.

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Provokation macht Spaß

Ein Gespräch mit Peter Rühmkorf über Puppenspieler, die nobilitierende Kraft des Gedichtes und expressionistische Weltuntergangsstimmung sowie den Drang nach Lebensgenuss

Uwe Wittstock: Ihre Familie mütterlicherseits ist kirchlich grundiert, ihr Großvater war Pastor, ihr Patenonkel der Theologe Karl Barth. Ihr Vater dagegen war Puppenspieler. Welcher Erbteil hat sich bei Ihnen stärker durchgesetzt? Der Gläubige oder der Künstler? PETER RÜHMKORF: Man könnte meinen, dass sich bei mir der Künstler, der Artist durchgesetzt habe, auch wenn meine Erziehung religiös gestimmt war. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie ich als kleiner Junge den mir oktroyierten Glauben verlästert habe. Den Anlass dafür habe ich vergessen. Bis heute halte ich jede Religion für Kokolores. Aber irgendwo sitzt da in mir noch ein Wurm, ein theologischer Wurm. Ich habe so ein weltliches Evangelium, in das der Humanismus sehr gut mit hineinpasst und auch Teile des Sozialismus, und ich spüre offenkundig den Drang, dieses Evangelium zu verkünden. Sie sind dann ohne Vater aufgewachsen. Haben Sie darunter gelitten, waren Sie ein Außenseiter?
RÜHMKORF: Ja, es war eine Art von Außenseitertum, in dem ich mich aber nicht gefährdet sah. Ich machte damals immer Witze über die Nazis, HJ-Witze. Auf Festabenden habe ich mich zum Beispiel in Gedichten mich über unsere HJ-Führer lustig gemacht, aber aus irgendeinem Grund nahmen die das sogar geschmeichelt hin. Die Gedichtform nobilitierte meine Witze, sie fühlten sich erhoben, weil sie in ein Gedicht aufgenommen wurden. Deshalb hatte ich keine Angst, ich stand unterm Schutz des Gedichts. Ließ man Sie es spüren, dass Sie ein Außenseiter waren?
RÜHMKORF: Ich war kein Außenseiter, wenn man sich darunter einen Einzelgänger vorstellt. In unserer Klasse hatten wir eine Gruppe, die bestand aus fünf Leuten. Wir hatten von den Jugendgruppen gehört, die uns ungeheuer in den Bann zogen, von der Bismarck-Bande, von den Edelweiß-Piraten. Wir fünf sammelten die Flugblätter der Engländer und Amerikaner und hörten Feindfunk. Das war uns ein Genuss, aber es war mordsgefährlich. Es wundert mich bis heute, dass davon nichts durchgedrungen ist. Wir fünf nannten uns „Die Stibier“. Stibium ist ein chemisches Element und wird auf Deutsch Antimon genannt. Antimon übersetzten wir uns mit: gegen den Alleinherrscher. Die chemische Abkürzung von Stibium „Sb“ trugen wir auf kleinen gelb-weißen Schnallen unterm Hemdkragen. Gelb-weiß, denn das waren die Hannoveranischen Farben, was wir als Anspielung auf die alte Verbindung Hannovers zu England verstanden.
In den fünfziger Jahren gründeten Sie zusammen mit ihrem Freund Werner Riegel eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel „Zwischen den Kriegen“.
RÜHMKORF: Schon auf der Schule hatten wir so eine handgemachte Zeitung, die hieß „Nuntius Athenaei“. Nach dem Krieg nannten wir sie „Der lachende Georg“, denn St. Georg war der Schutzpatron unserer Schule. In der haben wir dann so richtig gegen die nazi-gebliebenen Autoritäten vom Leder gezogen. Danach wollten wir das noch einmal toppen und nannten sie „Die Pestbeule“. Mit Klaus Rainer Röhl, einem Schulkameraden, machte ich dann Kabarett und als Student mit dem Freund Werner Riegel wieder eine Zeitschrift. Literaturzeitschriften trugen damals so erneuerungssonnige Namen wie „Die Wandlung“ oder „Aufbau“ oder „Aussaat“. Das fanden wir viel zu brav und entschieden uns deshalb für „Zwischen den Kriegen“. Den einen hatten wir gerade hinter uns, und in den Zeitungen war unentwegt die Rede vom Koreakrieg, vom Kalten Krieg. Allenthalben war mit brandroten Lettern an den Horizont geschrieben das Wort Krieg. Der 8. Mai 45 lag nicht weit zurück und schon ging es wieder los. Von Wandlung keine Spur. Werner Riegel, der schon im Krieg expressionistische Bücher gesammelt hatte, wollte unsere Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ nennen. Da sagte ich, mein Lieber, das geht nicht, die Anti-Nazi-Kirche um Karl Barth, Thurneysen, Bultmann hatten schon mal eine Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“. Außerdem klang mir das viel zu edel, also nannten wir unsere „Zwischen den Kriegen“. Das entsprach unserem Lebensgefühl.
Was ist die Aufgabe von Literatur in der Zeit zwischen den Kriegen?
RÜHMKORF: Interessante Frage. Wie reagiert man, wenn man so ein Motto hat, wenn man so eine Parole über seine Zeitschrift setzt. Wie reagiert man literarisch darauf? Es gibt zwei Möglichkeiten und beide sind von uns kräftig durchreflektiert worden. Entweder eine apokalyptisch-verzweifelte, expressionistische Weltuntergangsstimmung. Oder die andere Haltung: Man muss etwas gegen das Forttanzen dieses Kriegsreigens tun. In diese beiden Richtungen teilten wir uns auf in unseren Schreibbemühungen, und Riegel sprach daraufhin von „Schizographie“: Spaltschreiberei. Die Anti-Kriegshaltung, diese moralische Position, konnten wir in Gedichten nicht vertreten, es war uns unangenehm, Politik zu poetisieren. Politische Themen führten uns immer zur Prosa, zum Essay. In der Lyrik dagegen schrieben wir aus einem Vanitas-Gefühl heraus, einer apokalyptischen Grundstimmung, verbunden mit dem Drang nach Weltlebensgenuss. War im Barock ja ganz ähnlich.

Gehörte Klaus Rainer Röhl lange zu Ihrer Zeitschrift?
RÜHMKORF: Röhl war nur eine Nummer lang dabei, weil Riegel meinte, Röhl sei kein Dichter. In seinen Augen war das so ein flusiger Journalist und gehörte nicht in eine Literaturzeitschrift. Wir maßen uns ja an historischen Zeitschriften wie „Sturm“ oder „Aktion“. Da passte Röhl nicht rein. Röhl, der gesellungsbedürftig war, hat sich dann mit anderen Leuten zusammen getan. Mit denen gründete er den „Studentenkurier“ aus dem dann die Zeitschrift „konkret“ wurde. Aber Röhl war schlau und auch kein Übelnehmer: Er lud uns ein, in seiner Zeitschrift zu schreiben – das war zwar unbezahlt, aber verführerisch für unsere Ruhmsucht. Denn wir hatten unser Blatt nur so hektographiert, Röhls Zeitschrift dagegen konnte sogar Bilder drucken und war wie ein bunter Hund an allen Universitäten vertreten. Sie rechneten sich in den sechziger Jahren und danach zweifellos zur Linken in Deutschland. Wie kann man politisches Engagement mit literarischer Unabhängigkeit verbinden? Lässt sich Poetisches und Politisches vereinen?
RÜHMKORF: Für mich teilte es sich. Das Politische war nur in Prosa zu behandeln, das andere wollte im Gedicht zum Ausdruck kommen. Natürlich haben sich bestimmte Motive in den Gedichten mit dem Krieg beschäftigt. Der Krieg zog weiter wie ein Meteoritenschweif durch die Lyrik. Aber das blieb luftig, war schwer festlegbar im politischen Sinne. Im Essay dagegen, konnte man politisch argumentierend auf den Tisch hauen. War einer ihrer Antriebe damals die Lust an der Provokation? Links zu sein war im Adenauer-Deutschland eine Provokation der Autoritäten, der Honoratioren.
RÜHMKORF: Ja, Provokation machte Spaß. Das war schon zur Nazi-Zeit so, und später blieb es so, es ist ein durchgehender Faden. Es war nicht nur Quatsch und Komik, sondern es hatte seinen politischen Sinn. Nach Kriegsende war überall von Wandlung die Rede, alles war auf dem ernstgestimmten Wandlungs-Trip. Das wirkte damals auf uns bieder und naiv, zumal sich das Nazitum über alle Kanäle ins Regierungslager geschlichen hatte. Denken sie nur an Hans Globke als Adenauers Ratgeber, oder an die ganze Juristerei oder das ganze Pseudochristentum. Da kam dann ganz furios unser Freund Hochhuth und griff das Thema Nazis und Kirche auf. Und Peter Weiss erinnerte literarisch an den Auschwitz-Prozess und so weiter. Eigentlich jedes Thema, das nachher die APO noch einmal anrührte, hatte vorher schon seinen Dichter gefunden.
Welches Verhältnis hatte das, was man heute so pauschal „die Achtundsechziger-“, die „Studentenbewegung“ nennt, zur Literatur?
RÜHMKORF: Als der Rummel anfing, glaubten wir, dass sich unsere Schreibtische auf die Straße hin verlängert hätten. Wir sahen uns als die Patenonkels dieser Bewegung. Alle Themen, die nun aufgewühlt wurden, waren schon bei uns behandelt worden. An allem hatten wir den Finger gehabt, ob es das Thema Folter war, Neokolonialismus, Auschwitz, Nazivergangenheit, alles gehörte zu unserem Anti-Fächer. Insofern waren wir zuerst ungemein erfreut, dass das, was zu unseren Glaubensinhalten zählte, auf einmal zu den öffentlich heiß erörterten Themen aufstieg. Aber das blieb nicht sehr lange so, weil diese Bewegungs-Bewegung sich zerfaserte und sich dann in lauter Alleinvertretungs-Ansprüche zersplitterte und so einen Zug ins Totalitäre bekam. Und wenn man selbst zu denen gehörte, die einmal die Vorreiterrolle gespielt hatten, und dann bei öffentlichen Diskussionen von den Podien gepfiffen wurde von so genannten Genossen – dann war ein kritischer Punkt überschritten und habe ich mich langsam zurückgezogen. Ihre Lyrik war auch damals spürbar mehr auf Gottfried Benn gestimmt als auf Bertolt Brecht.
Sie nannten Benn ihren Lehrer. Wie kamen sie damit bei ihren politischen Weggefährten an? RÜHMKORF: Das stimmt nicht ganz. Die Beeinflussung durch Benn und Brecht war eine Parallelerscheinung, ohne dass wir uns dabei in die Wolle kamen. Wir kamen mit diesen politisch-poetologischen Widersprüchen zwischen diesen beiden Herren ganz gut zurecht. Wieder so eine schizographischer Widerspruch: bei Brecht ein Ich, das sich amalgamieren wollte mit anderen Ichs, das eine Genossenschaft bilden wollte, und bei Benn ein verlorenes Ich, das in der Verlorenheit auch einen Genussfaktor sah, einen Moment von Freiheit.

Sie haben ein Buch über das poetische „Volksvermögen“ gemacht, über populäre Verse von anonymen Autoren. Was kann ein Schriftsteller vom lyrischen Volksmund lernen?
RÜHMKORF: Ich wollte immer den Beweis führen, welchen Rang die Poesie hat, in allen Zeiten, allen Völkern, allen Klassen. Die Lyrik ist eigentlich keine unter Kennern und Dichter-Profis ausgemachte Literaturart. Sondern es ist so eine zehnmal über die Straßen geschleifte Sprachkunst, an der jedermann teilhat. Eine Kunst, die sich unter Ausschluss der Erzieher oder Autoritäten gebildet hat. Also habe ich Zeugnisse dieser molekularen Dichtung des Volksmundes gesammelt, die sich von selbst ausgebreitet haben und an denen wir uns schon als Kinder vergnügten, ohne jede Indoktrination durch Lehrer. Das schien mir der Lebensbeweis der Lyrik schlechthin zu sein.

Sie haben auch Märchen geschrieben. Was hat Sie an dieser Form gereizt?
RÜHMKORF: Rückblickend ist mir aufgefallen, dass ich nicht nur volksmündliche Kinderverse gesammelt habe, wie die Romantiker die Volkslieder, sondern auch wie die Romantiker die Form der Parodie traktiert habe und, ebenfalls wie die Romantiker, mich für Märchen interessierte und Kunstmärchen geschrieben habe. Meine poetische Seele ist offenbar auf Romantisches gestimmt. Wie wichtig ist das Komische für Ihre Gedichte. Sind Sie verletzt, wenn man bei der Lektüre ihre Gedichte lachen muss? RÜHMKORF: Nein, überhaupt nicht. Ich bin da selbst überrascht. Früher stand das Tragische und Zerrissene und ernsthaft Kaputte oft im Vordergrund. Doch mit der Zeit scheinen diese Tränen getrocknet zu sein und es gibt mehr zu lachen.
Ihre Lyrik hat aber immer noch einen apokalyptischen Beiklang. Im neuen Gedichtband heißt es: „Wo die Erde bereits wie ein durchgedrehter Brainburger / durch die große kapitalistische Imbißbude saust, / rasend, / rotierend, / dem Selbstverzehr entgegen, / bis der letzte Biß und der letzte Schiß in einem Reim / zusammenfallen / und die Führung endgültig an die Kakerlaken übergeht…“
RÜHMKORF: Das ist ein Vortrage-Gedicht, man muss es öffentlich vortragen. Dann merkt man, wie komisch es ist. Die Leute haben beim Zuhören jedenfalls immer gelacht. Ich hab sie dann gefragt, was lachen Sie denn, hier ist Untergang angesagt. Darauf kam neues Lachen. Da sieht man, wie eng Tragödie und Komödie beieinander lagern, literarisch.

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Das Abenteuer namens Rowohlt

Ein Verlag, drei Männer und zwei hundertste Geburtstage

Die Rowohlts sind eine deutsche Dynastie, eine Büchermacherfamilie von nicht eben landestypischem Temperament. Wo ein Rowohlt war oder ist, da war oder ist etwas los. Über ein dreiviertel Jahrhundert gehörten sie zu den Kraftwerken des literarischen Lebens hierzulande, und der von ihnen geschaffene und immer wieder neu geschaffene Verlag schnurrt bis heute weiter. 1908 brachte Ernst Rowohlt im Alter von nur 21 Jahren sein erstes Buch auf den Markt, den schmalen Lyrikband eines heute komplett unbekannten Klassenkameraden. Im gleichen Jahr brachte die Schauspielerin Maria Ledig den ersten Sohn Rowohlts zur Welt, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, dessen 100. Geburtstag am kommenden Mittwoch zu feiern ist. Das Abenteuer namens Rowohlt konnte beginnen. Die Biographie Ernst Rowohlts mit ihren diversen Verzweigungen ist ein gutes Beispiel dafür, wie viel Leidenschaft und Geld ein Verlegerleben braucht und verbraucht. 1910, nachdem er schon ein paar Bücher gemacht hatte, gründete Rowohlt in Leipzig zum ersten Mal seinen Verlag – zusammen mit dem gleichaltrigen Kurt Wolff, der keine Kenntnisse der Buchbranche, wohl aber eine Menge Geld mit einbrachte. Die beiden Teilhaber verstanden sich erst glänzend und publizierten mehr als 30 Titel jährlich. Doch schon 1912 kam es zum Bruch, nicht zuletzt weil der feingeistige Wolff die Energieausbrüche und permanente Partystimmung seines Partners nicht ertrug. Er zahlte Rowohlt aus, machte den Verlag unter eigenem Namen zum bis heute legendären Kristallisationspunkt des Expressionismus, errang höchste Anerkennung und verlor zugleich sein gesamtes Vermögen. Nach 1920 konnte er keine literarischen Werke mehr verlegen, 1930 musste es sein Haus endgültig schließen. Rowohlt machte nach der ersten, für ihn nur kurzen Zeit der Selbstständigkeit zunächst Zwischenstationen als Prokurist des S.Fischer- und Geschäftsführer des Hyperion-Verlags. 1919 dann, mit Beginn der Weimarer Republik, gründete er seinen Verlag zum zweiten Mal, jetzt in Berlin. Die Stadt, der Mann und die Epoche – die Roaring Twenties – passten perfekt zueinander. Seine Neigung zu großen Auftritten machte ihn schnell stadtbekannt und sein Einfallsreichtum in Sachen PR bald zu einer zentralen Figur des Literaturbetriebs. Mit Autoren wie Robert Musil, Kurt Tucholsky, Hans Fallada, Alfred Polgar und Walter Benjamin erwarb er beträchtliches Ansehen, mit Ernest Hemingway, Sinclair Lewis und Thomas Wolfe entdeckte er die amerikanische Literatur für die Deutschen, mit der von Willy Haas geleiteten „Literarischen Welt“ gab er zudem seit 1925 eine der meinungsbildenden Zeitschriften der Buchbranche heraus. Doch selbst ein Bestseller-Autor wie Emil Ludwig konnte den Verlag wirtschaftlich nicht langfristig stabilisieren. Spätestens nach der Weltwirtschaftskrise 1929 spitzte sich die Lage zu. Als Heinrich Maria Ledig-Rowohlt 1931 in den Verlag als Pressechef eintrat, stand der bereits vor der Insolvenz. Gerettet wurde er schließlich durch die Familie Ullstein, die einen Anteil von 60 Prozent erwarb und ihn so mehrheitlich ihren Zeitungskonzern einverleibte. Doch kaum hatte Rowohlt die ökonomischen Turbulenzen überstanden, geriet er durch die Machtübernahme der Nazis in politische Schwierigkeiten. Seine Sympathien galten in der Weimarer Republik eher der Linken, und er war mit zahllosen jüdischen Schriftstellern befreundet, doch hatte Rowohlt daneben auch so rechtslastige Autoren wie Arnolt Bronnen verlegt. Daran knüpfte er nach 1933 zunächst an, brachte nun Landserromane heraus, Sachbücher wie „Woher kommt das Hakenkreuz?“ oder den Bildband „Ein Volk steht auf. 53 Tage nationaler Revolution“. Doch die Nazis ließen sich weder davon, noch von Rowohlts Eintritt in die NSDAP 1937 täuschen, beschlagnahmten 140 Titel des Verlagsprogramms und erteilten Rowohlt schließlich 1938 Berufsverbot, weil er hartnäckig an seinen jüdischen Autoren und Mitarbeitern festhielt. Nach dem Krieg, in dem Ledig-Rowohlt als Soldat schwer verwundet worden war, gründeten Sohn und Vater – der 1945 mit der Schauspielerin Maria Pierenkämper seinen zweiten Sohn Harry bekam – den Rowohlt Verlag umgehend zum dritten Mal, nun in Hamburg und Stuttgart. Sie druckten unter anderem zu Pfennigpreisen Bücher auf dem Papier und in dem Format von Zeitungen, „Rowohlts Rotations Romane“ genannt, und erzielten damit in kürzester Zeit Millionenverkäufe. Dennoch geriet der Verlag mit der Währungsreform wieder in eine Finanzkrise – und musste diesmal durch vier Hamburger Geschäftsleute gerettet werden. Erst als Ledig-Rowohlt aus Amerika mit der Idee zurückkehrte, ein umfangreiches Taschenbuchprogramm zu starten, stabilisierte sich die Situation. Mit diesen billigen Ausgaben erzielte der Verlag schnell sensationelle Auflagen und konnte so mit Büchern von Hemingway und Graham Greene, von Sartre, Camus, de Beauvoir und später Henry Miller, die lange aus Deutschland ausgesperrte Literatur des westlichen Auslands popularisieren. Mit dem Start von „Rowohlt Deutscher Enzyklopädie“ 1955 und der „Rowohlt Monographien“ 1958 – vor genau 50 Jahren also – verfolgte der Verlag im Taschenbuch-Programm zugleich einen volkspädagogischen Bildungsanspruch, der sich zumindest in den ersten Jahren als sehr einträglich erwies. Nach dem Tode Ernst Rowohlts 1960 leitete Ledig-Rowohlt den Verlag weitgehend allein, auch wenn seinem erst fünfzehnjährigen Bruder Harry nun 49 Prozent des Unternehmens gehörten. Beide hatten zwar nicht den kraftstrotzenden Körper ihres Vaters, wohl aber manches von seinem trink- und feierfreudigen Charakter geerbt. So versorgten auch sie den Literaturbetrieb regelmäßig mit gern kolportierten Anekdoten oder Bonmots. Den Familientraditionen auf der Spur absolvierte Harry Rowohlt eine Verlagsausbildung bei Suhrkamp in Frankfurt und Grove Press in New York. Doch die Führung der Rowohlt-Geschäfte wollte er nicht übernehmen, sondern widmete sich lieber seinen ungewöhnlichen Talenten als Übersetzer, Vortragskünstler, Autor und Schauspieler. Also verkaufen die beiden Brüder 1982 – Ledig-Rowohlt war inzwischen knapp 75 – ihren Verlag über Vermittlung des befreundeten Werner Schoenicke an die Stuttgarter Holtzbrinck-Gruppe. Seither wird er von wechselnden Verlagsleitern mit naturgemäß wechselnden Erfolgen geleitet, unter anderem von Matthias Wegner, Michael Naumann (dem späteren Kulturstaatsminister, Mitherausgeber der „Zeit“ und Hamburger SPD-Spitzenkandidaten), Nicolaus Hansen, Peter Wilfert bis hin zu Alexander Fest heute. Ledig-Rowohlts Leben endete – fast möchte man sagen: standesgemäß – 1992 auf einem Internationalen Verlegerkongress in Neu-Dehli. Harry Rowohlt, 1996 zum Ambassador of Irish Whiskey ernannt, sammelte für seine Übersetzungen und Bücher vom Jugendliteraturpreis bis zum Brüder-Grimm-Preis, von der Goldenen Schallpatte für seine „Pu, der Bär“-Lesung bis zum Göttinger Elch einige der schönsten Auszeichnungen hierzulande. Das vergangene Jahrhundert der deutschen Literatur, ohne die Rowohlts ist es schwer vorstellbar.

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Das Abenteuer namens Rowohlt

Ein Verlag, drei Männer und zwei hundertste Geburtstage

Die Rowohlts sind eine deutsche Dynastie, eine Büchermacherfamilie von nicht eben landestypischem Temperament. Wo ein Rowohlt war oder ist, da war oder ist etwas los. Über ein dreiviertel Jahrhundert gehörten sie zu den Kraftwerken des literarischen Lebens hierzulande, und der von ihnen geschaffene und immer wieder neu geschaffene Verlag schnurrt bis heute weiter. 1908 brachte Ernst Rowohlt im Alter von nur 21 Jahren sein erstes Buch auf den Markt, den schmalen Lyrikband eines heute komplett unbekannten Klassenkameraden. Im gleichen Jahr brachte die Schauspielerin Maria Ledig den ersten Sohn Rowohlts zur Welt, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, dessen 100. Geburtstag am kommenden Mittwoch zu feiern ist. Das Abenteuer namens Rowohlt konnte beginnen. Die Biographie Ernst Rowohlts mit ihren diversen Verzweigungen ist ein gutes Beispiel dafür, wie viel Leidenschaft und Geld ein Verlegerleben braucht und verbraucht. 1910, nachdem er schon ein paar Bücher gemacht hatte, gründete Rowohlt in Leipzig zum ersten Mal seinen Verlag – zusammen mit dem gleichaltrigen Kurt Wolff, der keine Kenntnisse der Buchbranche, wohl aber eine Menge Geld mit einbrachte. Die beiden Teilhaber verstanden sich erst glänzend und publizierten mehr als 30 Titel jährlich. Doch schon 1912 kam es zum Bruch, nicht zuletzt weil der feingeistige Wolff die Energieausbrüche und permanente Partystimmung seines Partners nicht ertrug. Er zahlte Rowohlt aus, machte den Verlag unter eigenem Namen zum bis heute legendären Kristallisationspunkt des Expressionismus, errang höchste Anerkennung und verlor zugleich sein gesamtes Vermögen. Nach 1920 konnte er keine literarischen Werke mehr verlegen, 1930 musste es sein Haus endgültig schließen. Rowohlt machte nach der ersten, für ihn nur kurzen Zeit der Selbstständigkeit zunächst Zwischenstationen als Prokurist des S.Fischer- und Geschäftsführer des Hyperion-Verlags. 1919 dann, mit Beginn der Weimarer Republik, gründete er seinen Verlag zum zweiten Mal, jetzt in Berlin. Die Stadt, der Mann und die Epoche – die Roaring Twenties – passten perfekt zueinander. Seine Neigung zu großen Auftritten machte ihn schnell stadtbekannt und sein Einfallsreichtum in Sachen PR bald zu einer zentralen Figur des Literaturbetriebs. Mit Autoren wie Robert Musil, Kurt Tucholsky, Hans Fallada, Alfred Polgar und Walter Benjamin erwarb er beträchtliches Ansehen, mit Ernest Hemingway, Sinclair Lewis und Thomas Wolfe entdeckte er die amerikanische Literatur für die Deutschen, mit der von Willy Haas geleiteten „Literarischen Welt“ gab er zudem seit 1925 eine der meinungsbildenden Zeitschriften der Buchbranche heraus. Doch selbst ein Bestseller-Autor wie Emil Ludwig konnte den Verlag wirtschaftlich nicht langfristig stabilisieren. Spätestens nach der Weltwirtschaftskrise 1929 spitzte sich die Lage zu. Als Heinrich Maria Ledig-Rowohlt 1931 in den Verlag als Pressechef eintrat, stand der bereits vor der Insolvenz. Gerettet wurde er schließlich durch die Familie Ullstein, die einen Anteil von 60 Prozent erwarb und ihn so mehrheitlich ihren Zeitungskonzern einverleibte. Doch kaum hatte Rowohlt die ökonomischen Turbulenzen überstanden, geriet er durch die Machtübernahme der Nazis in politische Schwierigkeiten. Seine Sympathien galten in der Weimarer Republik eher der Linken, und er war mit zahllosen jüdischen Schriftstellern befreundet, doch hatte Rowohlt daneben auch so rechtslastige Autoren wie Arnolt Bronnen verlegt. Daran knüpfte er nach 1933 zunächst an, brachte nun Landserromane heraus, Sachbücher wie „Woher kommt das Hakenkreuz?“ oder den Bildband „Ein Volk steht auf. 53 Tage nationaler Revolution“. Doch die Nazis ließen sich weder davon, noch von Rowohlts Eintritt in die NSDAP 1937 täuschen, beschlagnahmten 140 Titel des Verlagsprogramms und erteilten Rowohlt schließlich 1938 Berufsverbot, weil er hartnäckig an seinen jüdischen Autoren und Mitarbeitern festhielt. Nach dem Krieg, in dem Ledig-Rowohlt als Soldat schwer verwundet worden war, gründeten Sohn und Vater – der 1945 mit der Schauspielerin Maria Pierenkämper seinen zweiten Sohn Harry bekam – den Rowohlt Verlag umgehend zum dritten Mal, nun in Hamburg und Stuttgart. Sie druckten unter anderem zu Pfennigpreisen Bücher auf dem Papier und in dem Format von Zeitungen, „Rowohlts Rotations Romane“ genannt, und erzielten damit in kürzester Zeit Millionenverkäufe. Dennoch geriet der Verlag mit der Währungsreform wieder in eine Finanzkrise – und musste diesmal durch vier Hamburger Geschäftsleute gerettet werden. Erst als Ledig-Rowohlt aus Amerika mit der Idee zurückkehrte, ein umfangreiches Taschenbuchprogramm zu starten, stabilisierte sich die Situation. Mit diesen billigen Ausgaben erzielte der Verlag schnell sensationelle Auflagen und konnte so mit Büchern von Hemingway und Graham Greene, von Sartre, Camus, de Beauvoir und später Henry Miller, die lange aus Deutschland ausgesperrte Literatur des westlichen Auslands popularisieren. Mit dem Start von „Rowohlt Deutscher Enzyklopädie“ 1955 und der „Rowohlt Monographien“ 1958 – vor genau 50 Jahren also – verfolgte der Verlag im Taschenbuch-Programm zugleich einen volkspädagogischen Bildungsanspruch, der sich zumindest in den ersten Jahren als sehr einträglich erwies. Nach dem Tode Ernst Rowohlts 1960 leitete Ledig-Rowohlt den Verlag weitgehend allein, auch wenn seinem erst fünfzehnjährigen Bruder Harry nun 49 Prozent des Unternehmens gehörten. Beide hatten zwar nicht den kraftstrotzenden Körper ihres Vaters, wohl aber manches von seinem trink- und feierfreudigen Charakter geerbt. So versorgten auch sie den Literaturbetrieb regelmäßig mit gern kolportierten Anekdoten oder Bonmots. Den Familientraditionen auf der Spur absolvierte Harry Rowohlt eine Verlagsausbildung bei Suhrkamp in Frankfurt und Grove Press in New York. Doch die Führung der Rowohlt-Geschäfte wollte er nicht übernehmen, sondern widmete sich lieber seinen ungewöhnlichen Talenten als Übersetzer, Vortragskünstler, Autor und Schauspieler. Also verkaufen die beiden Brüder 1982 – Ledig-Rowohlt war inzwischen knapp 75 – ihren Verlag über Vermittlung des befreundeten Werner Schoenicke an die Stuttgarter Holtzbrinck-Gruppe. Seither wird er von wechselnden Verlagsleitern mit naturgemäß wechselnden Erfolgen geleitet, unter anderem von Matthias Wegner, Michael Naumann (dem späteren Kulturstaatsminister, Mitherausgeber der „Zeit“ und Hamburger SPD-Spitzenkandidaten), Nicolaus Hansen, Peter Wilfert bis hin zu Alexander Fest heute. Ledig-Rowohlts Leben endete – fast möchte man sagen: standesgemäß – 1992 auf einem Internationalen Verlegerkongress in Neu-Dehli. Harry Rowohlt, 1996 zum Ambassador of Irish Whiskey ernannt, sammelte für seine Übersetzungen und Bücher vom Jugendliteraturpreis bis zum Brüder-Grimm-Preis, von der Goldenen Schallpatte für seine „Pu, der Bär“-Lesung bis zum Göttinger Elch einige der schönsten Auszeichnungen hierzulande. Das vergangene Jahrhundert der deutschen Literatur, ohne die Rowohlts ist es schwer vorstellbar.

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„Wortstoffhof“

 Axel Hacke geht es nicht um die Reinerhaltung der Sprache

Axel Hacke ist ein Sprachgenießer, kein Sprachdogmatiker. Er freut sich an den unbegrenzten Schönheiten, die das Sprachspielmaterial ermöglicht, und er hat sich, bei Gott, einen hinreißend federnden Stil geschaffen, mit dem er diese Freude ins Hirn der Leser trägt. Nicht um dröge Reinerhaltung des Deutschen geht es ihm, wie er in diesem so klugen wie komischen Band schreibt, denn „noch im letzten Ich-mach-dich-Messer-Dialog zweier Neuköllner Türkenjungs steckt mehr von der Kraft des Deutschen als in den Teilnehmern betulicher Sprachhütertagungen.“ Stattdessen erzählt er ein rasantes Sprachabenteuer nach dem anderen und entführt in zuvor völlig ungeahnte Wortwelten. Warum eigentlich wird ein Autor wie Hacke nicht mit Literaturpreisen und Akademie-Mitgliedschaften überhäuft? Wahrscheinlich ist es bei ihm, wie bei Max Goldt: Die Leser haben längst gemerkt was für einen originellen Dichter sie in ihm vor sich haben. Nur die lieben Fachleute brauchen etwas länger. Man muss Geduld mit ihnen haben.

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Von der Ordnung des Völkermords.

Lukas Bärfuss erzählt in einem erschütternden politischen Roman von hundert Tage des Tötens in Ruanda
Was für ein ungeheures Buch! So etwas wird in deutscher Sprache nur selten geschrieben. Ein hochpolitischer Roman, der sich nicht in schnellen, vorgefertigten Schuldsprüchen erschöpft und einem schon damit die Ruhe rauben kann. Ein Roman, der anhand eines konkreten historischen Ereignisses – des Völkermordes in Ruanda 1994 – einige fundamentale, ja letzte Fragen stellt, und zeigt, dass wir vor diesen Fragen auch heute hilflos stehen wie Kinder mit leeren Händen. Ein Roman schließlich, der auf die Forderung nach subjektiver Authentizität, der man in unserem Literaturbetrieb lange huldigte, keinen Pfifferling mehr gibt, und stattdessen auf kluge Recherche und die Macht der Imagination setzt. Weiterlesen

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„Hammerstein oder Der Eigensinn“

Hans Magnus Enzensberger schreibt eine bemerkenswerte Biographie

Das Leben Kurt von Hammerstein-Equords steht quer zu sämtlichen Vorurteilen, die sich mit der deutschen Generalität seiner Zeit verbinden. Hans Magnus Enzensberger hat hier nicht nur eine historisch fabelhaft interessante Persönlichkeit porträtiert, sondern auch eine Figur gefunden, die den Leser wie mit weit offenen Armen zur Identifikation einlädt. Ein Genie seines Gewerbes sei er gewesen, berichten Zeitzeugen, ein Grandseigneur, hochbegabt und auffällig faul, denn jede Fleißarbeit verstellte seiner Ansicht nach den Blick aufs Wesentliche. Wer würde all das nicht gern von sich behaupten? Ein General, der nicht als Held des Tötens, sondern als Held bürgerlicher Zivilcourage in die Geschichte einging – Enzensberger spürt wirklich ganz genau, welches Buch er zu welcher Zeit schreiben muss. Und er hat mit der lockeren Mischung aus Tatsachenberichten, fiktiven Dialogen und Glossen eine überzeugende biographische Form gefunden, die Hammersteins Leben glänzend ausleuchtet und ihn doch seine Geheimnisse lässt.

Hans Magnus Enzensberger: „Hammerstein oder Der Eigensinn“ Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007 376 Seiten, 22,90 €

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Der schärfste Kritiker der Elche

Grandseigneur des Grotesken: Der Dichter und Zeichner F. W. Bernstein wird 70 Jahre alt

Es gibt nur wenige, aber Fritz Weigle, genannt F.W. Bernstein, ist einer davon, einer von jenen freien Geistern, die soviel Talent, Verstand und Glück haben, dass sie sich nie in irgendein Schema fügen müssen und allen Zwängen die Zunge rausstrecken können. Der Zeichner, Karikaturist, Cartoonist, Dichter, Dramatiker Bernstein gehört zu jenen fabelhaft Vielfachbegabten der inzwischen legendären Neuen Frankfurter Schule. Er hat einen entscheidenden Teil seiner Biografie im tänzelnden Gleichschritt mit Robert Gernhardt verbracht. Geboren heute vor siebzig Jahren in Göppingen, traf er Gernhardt 1956, studierte mit ihm in Stuttgart und Berlin, wurde im Doppelpack mit ihm 1964 als Redakteur für das Satiremagazin „Pardon“ engagiert, veröffentlichte mit ihm den Lyrikband „Besternte Ernte“ und dazu noch mit ihm und F.K. Waechter die ebenso hochkomische wie fiktive Biografie „Die Wahrheit über Arnold Hau“. Neben seiner künstlerischen Karriere verfolgte Bernstein, anders als das übrige Neue Frankfurter Schulpersonal, auch eine bürgerliche Laufbahn. Er begann Mitte der Sechzigerjahre als Kunsterzieher, schrieb über seine einschlägigen Erfahrungen „Die Lehrprobe“, einen satirischen „Report aus dem Klassenzimmer“, wechselte dann an die Pädagogische Hochschule in Göttingen, bevor er 1984 die deutschlandweit einzige Professur für Karikatur und Bildergeschichte an der Kunsthochschule in Berlin übernahm. Aber auch den Zwängen einer solchen akademischen Existenz entzog er sich schließlich wieder und gab sein Amt vor neun Jahren auf. Als Praktiker und Pädagoge eines Zeichnens, das auf die Lachlust zielt, ist es ihm gelungen, die Grundlagen dieser Kunst auf das nach ihm benannte Bernsteinsche „Gesetz von den drei großen G der Karikatur“ zu bringen: „Gritik, Gomik und Graphik“. Entgangen ist ihm dabei allerdings ein vierter entscheidender G-Faktor, nämlich: Graft. Bernstein ist mit Stift, Kreide, Pinsel unermüdlich, arbeitet buchstäblich pausenlos, und hat allein oder in Zusammenarbeit mit anderen eine schier unübersehbare Zahl von Büchern herausgegeben oder illustriert. Vor allem „Bernsteins Buch der Zeichnerei“, ein, wie es im Untertitel heißt, „Lehr-, Lust-, Sach-, und Fach-Buch sondergleichen“, ist eine so umfassende wie inspirierende Einführung in die Geheimnisse der Karikatur. Als Dichter ist Bernstein ein Meister der Nonsens-Lyrik. „Horch – ein Schrank geht durch die Nacht, / voll mit nassen Hemden … / den hab ich mir ausgedacht, um euch zu befremden.“ Er ist ein Sprachjongleur, der die formalen Ansprüche der Gattung leichthändig erfüllt, auf deren hartnäckige Tendenz zur Sinnstiftung aber allemal mit der Freude an der Unsinnstiftung antwortet. „Erwin aus der Unterschicht / liebt die Oberklasse nicht. / Doch vom Chef die Tochter / sah er gern und mocht er.“ Seinem poetischen Genie verdankt die Neue Frankfurter Schule nicht zuletzt ihren heute wohl bekanntesten und geflügeltsten Zweizeiler: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“ Eine ganz eigene, schwer vergleichbare Form der Komik hat Bernstein mit seinen kurzen „Dramen in unordentlichem Zustand“ für sich erobert. Sie versetzen den Leser in eine aberwitzige Welt, die irgendwo zwischen den literarischen Ländereien von Karl Valentin und Alfred Jarry angesiedelt ist. Ob da ein Städter mit Sehnsucht nach dem Landleben vor einem strengen bäurischen Prüfer eine Dialektprüfung ablegen muss, ob ein Starpianist namens Franz Liszt sich von einem Reporter nach seinen Geliebten befragen lassen muss oder ob ein Ministerialdirektor fröhlich die komplette Vernichtung Göttingens organisiert – die Stücke sind allesamt von betörend verwirrendem Witz. Zum Ungewöhnlichen des Künstlers F.W. Bernstein gehört, dass er nicht nur von den Zwängen der literarischen Sinnstiftung oder des bürgerlichen Karriere-Ehrgeizes frei zu sein scheint, sondern auch von jenem Drang zum Ruhm, der so viele Künstler lebenslang quält. Anstatt von Kollegen, Kritikern oder Publikum mit der Besessenheit des Egozentrikers Anerkennung einzufordern, ist ihm die so menschenfreundliche Fähigkeit zur Bewunderung gegeben. Fast nie spricht er von der eigenen Arbeit, umso häufiger stimmt er Hymnen der Begeisterung und des Lobes auf andere an. Er ist ein Gentleman des Gags, ein Grandseigneur des Grotesken, der nichts so sehr genießt wie „die Lust, sich über die Wirklichkeit lustig zu machen.“

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5:3 für Ängstlichkeit und Spießigkeit

Jeder Verleger ist ein Verkäufer seiner Bücher. Doch Helge Malchow, der Chef von Kiepenheuer & Witsch, ist zugleich ihr Verteidiger: Um drei Titel seines Hauses hat er bis vor die höchsten Richtertische gekämpft. Für Heiner Müller mit Erfolg, für Maxim Biller ohne   Ein Verleger ist ein Impresario der Literatur. Er will, wenn er es ernst meint mit seinem Beruf, nicht nur Bücher verkaufen, er will auch die Ideen seiner Autoren verbreiten, will ihnen Gehör und Geltung verschaffen, will Ruhm und Anerkennung für sie erringen. Der schwierige Spagat zwischen den Gesetzen des Marktes und den Gesetzen der Kultur gehört zu seinen gymnastischen Grundübungen. Doch als wäre das nicht genug, werden ihm gelegentlich noch ganz andere Fähig- und Fertigkeiten abverlangt. Dann muss der Verleger seine Autoren nicht nur auf dem engen Buchmarkt durchsetzen, sondern muss für sie zudem in juristische Kämpfe ziehen gegen zu enge Vorstellung von den Freiheiten der Kunst. Dann ist der Verleger nicht nur der Verkäufer und Verbreiter der Literatur, sondern wird zu ihrem wichtigsten, wenn nicht einzigen Verteidiger. Helge Malchow, der Chef des Verlages Kiepenheuer & Witsch in Köln, hat diese Zusatzrolle in den letzten Jahren gleich drei Mal übernommen. Es steht jetzt 2:1 für ihn, zwei Mal zog er für seine Bücher erfolgreich vor Gericht, ein Verfahren endete mit einer Niederlage. Doch das Thema ist zu ernst, als dass man die drei Prozesse locker nach Art von Sportresultaten zusammenfassen sollte. Vielleicht ist die Abhängigkeit eines Schriftstellers und also der Literatur vom Verleger nie größer als im Fall eines Rechtskonflikts. Denn üblicherweise wird, wenn jemand gegen ein Buch mit juristischen Mitteln vorgeht, zunächst der Verleger verklagt, der das Buch auf den Markt brachte, und erst in zweiter Linie der Autor, der es schrieb. Verleger stehen in einer solchen Situation vor einer für die Literatur oft fatalen Kalkulation. Wenn das Buch, dass sich plötzlich vor Richtertischen wiederfindet, kein Bestseller ist – und weit mehr als 95 Prozent aller Bücher sind keine – dann kann der Verleger selbst im Falle eines Erfolges vor Gericht nicht damit rechnen, an dem Buch nennenswerte Summen zu verdienen. Mit Sicherheit aber weiß er, dass Literaturprozesse sehr aufwendig und zeitraubend sind, dass er dafür hoch spezialisierte Anwälte braucht, die gern imposante Rechnungen schreiben und dass der Ausgang des Verfahrens höchst ungewiss ist. Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist es also fast nie sinnvoll, sich für ein Buch juristisch weit aus dem Fenster zu lehnen. Folglich finden viele derartige Prozesse ihr frühes Ende schon in der ersten Instanz, in der bekanntlich recht hemdsärmlich Recht gesprochen wird. Falls das Buch dort nicht als strahlender Sieger den Gerichtssaal verlässt, oder falls sein Gegner es vor eine zweite Instanz zitiert, hat es sein Lebensrecht schnell verwirkt, und es schließen sich über ihm unwiderruflich die Aktendeckel. Seltsame Situation: Die Literaturfreiheit gehört zum zentralen Bestand der bürgerlichen Rechte und wird vom Grundgesetz ohne jede Einschränkung garantiert, sie kann ihre Grenze also nur im Konflikt mit anderen Grundrechten finden. Die Verfechtung dieses hohen Rechtsgutes jedoch liegt de facto in privaten Händen, in den Händen der Verleger, die gerade mit guten Büchern selten ein so beruhigendes finanzielles Polster erwirtschaften, dass sie sich ausufernde Prozesse leisten könnten. Andererseits besteht an der Verteidigung der Literaturfreiheit ein öffentliches Interesse, denn die Freiheit der Literatur ist zugleich die Freiheit ihrer Leser – was nicht verlegt werden darf, kann naturgemäß auch von niemandem gelesen werden. Helge Malchow kann sich über mangelnden Erfolg nicht beklagen, sein Verlag Kiepenheuer & Witsch zählt zu den wichtigsten des Landes. Kaum ein anderer hat von Böll über Bellow bis García Márquez so viele Nobelpreisträger, von Harald Schmidt über Joschka Fischer bis Biolek so viele populäre, von DeLillo über Julian Barnes bis Doctorow so viele hoch gelobte, von Frank Schätzing über Bastian Sick bis Nick Hornby so viele gewinnbringende Autoren im Programm wie er. Was ihm nicht nur gesunde Bilanzen eintrug, sondern eben auch die Möglichkeit verschaffte, in juristischen Konflikten um Bücher seines Hauses alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. 1995 zum Beispiel setzte die Bundesprüfstelle den Roman „American Psycho“ von Bret Easton Ellis auf die Liste der jugendgefährdenden Schriften. Das bedeutete unter anderem, dass die Buchhandlungen ihn nicht mehr auslegen, sondern nur noch auf Nachfrage erwachsener Kunden unterm Ladentisch verkaufen durften. Er war damit praktisch vom Buchmarkt verbannt. Tatsächlich ist das Buch keine sanfte Bettlektüre, sein Held ist ein Börsenmakler und Serienlustmörder, der mit Vorliebe Frauen zu Tode foltert. Doch gefällt wurde die Entscheidung gegen zwei von der Prüfstelle selbst eingeholte literatur- und erziehungswissenschaftliche Gutachten, die den Roman nicht als Pornographie, sondern als Kunstwerk einstuften und empfahlen, ihn nicht auf die Liste zu setzen. Es brauchte fünf Jahre und zähe juristische Gefechte auf dem labyrinthischen Instanzenweg, bis das Oberverwaltungsgericht in Münster das Buch endgültig wieder freigab, weil es ausdrücklich dessen Rang als Kunstwerk anerkannte. Beim zweiten Fall, in dem ein Buch des Kiepenheuer & Witsch Verlags rechtlich gefährdet war, ging es um Heiner Müllers Theaterstück „Germania 3 Gespenst am toten Mann“. Müller hatte darin Textteile aus den Werken Hölderlins, Kleists, Kafkas und in zwei Fällen auch Brechts eingewoben. Brechts Erben erhoben aus urheberrechtlichen Gründen Klage, da die von Müller in das Stück einmontierten Brecht-Passagen mit zusammen knapp vier Seiten die übliche Zitierfreiheit überschritten. Wieder brauchte es etliche Jahre und mehrere einstweilige bzw. Hauptsacheverfahren, bis das Verfassungsgericht im Jahr 2000 entschied, dass ein Schriftsteller auch Texte fremder Autoren in sein Werk aufnehmen darf, soweit sie „Gegenstand und Gestaltungsmittel seiner eigenen künstlerischen Aussage bleiben“. Ein Urteil, das gerade mit Blick auf die ausgeprägten Neigung postmoderner Autoren zum Zitat und ihres deshalb programmatisch laxen Umgangs mit dem geistigen Eigentum anderer, von herausragender Bedeutung ist. Der dritte Rechtsstreit schließlich, den Malchow um ein Buch seines Verlages führte, wuchs sich zum spektakulärsten von allen aus und ging verloren. Zwei Klägerinnen glaubten sich in Figuren aus Maxim Billers Roman „Esra“ wieder zu erkennen und ließen das Buch wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte verbieten. Auch in diesem Fall zog sich das Verfahren über gut vier Jahre und vier Instanzen hin. Die abschließende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war äußerst knapp: Fünf Richter votierten für das Verbot des Buches, drei dagegen. „Ich halte“, sagt Malchow, „das so zustande gekommene Urteil nach wie vor für falsch. Die fünf Richter, die sich durchsetzen, haben den Kunstcharakter des Romans richtig erkannt, aber daraus nicht die richtigen Schlüsse gezogen.“ Tatsächlich beschreibt die Argumentationslinie der Urteilsbegründung eine seltsame Kurve: Zunächst wird zugestanden, dass ein Roman „nicht am Maßstab der Welt der Realität, sondern nur an einem kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab gemessen werden“ darf. Und dass dies auch gelte, wenn „hinter den Romanfiguren reale Personen als Urbilder erkennbar sind“. Denn die Kunstfreiheit schließe eine Verwendung von Vorbildern aus der Lebenswirklichkeit ein. Dann aber verlassen die fünf Verbots-Richter diese Position plötzlich, betrachten die Romanfiktion doch teilweise als Realitätsbeschreibung und kommen zu merkwürdigen „Je-Desto“-Abwägungen: „Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts.“ Diesem Punkt kritisieren auch die drei Richter, die für die Freigabe „Esras“ stimmten, und machen ihren Richterkollegen abschließend den schärfsten Vorwurf, der in dem Verfahren denkbar war: Sie nennen deren Urteil bündig einen „verfassungswidrigen Eingriff“ in die vom Grundgesetz garantierten Rechte von Autor und Verlag. „Sicher“, sagt Malchow, „die Niederlage schmerzt, doch die Sondervoten der drei unterlegenen Richter haben mir gezeigt, dass mein Verständnis von Literaturfreiheit nicht abwegig, sondern auch fachjuristisch sehr gut zu rechtfertigen ist.“ Öffentlich wurde hierzulande wohl noch nie so viel diskutiert über das komplexe Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit wie in den Jahren des „Esra“-Prozesses. Darin könnte man, dem Urteil zum Trotz, ein Erfolg für Malchow sehen. Doch dessen Fazit klingt auch unter diesem Gesichtspunkt ernüchternd. In den vielen Debatten um „Esra“ ist ihm, resümiert er, „ungeheuer viel Ängstlichkeit und Spießigkeit begegnet gegenüber der Provokation, die in jedem Kunstwerk liegt.“ Und letztlich haben Ängstlichkeit und Spießigkeit 5:3 gewonnen.

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Das seltsame Verhältnis der Geschlechter zum Gelächter

Simon Borowiak fragt „Wer Wem Wen“
Die Welt der Komik ist nicht harmlos und heiter. Sie ist, wenn man genauer hinschaut, voller Untiefen und Rätsel. Wir lachen gern, sicher, aber warum können wir uns selbst nur schwer oder gar nicht zum Lachen bringen? Wieso fällt das anderen viel leichter? Und weshalb erweisen sich die Meister des Lachenmachens, die Profis des Komischen aus der Nähe betrachtet so häufig als melancholische Menschen? Genauer: als melancholische Männer – denn zumindest unter den Schriftstellern mit ausgeprägtem Talent zur Komik sind Menschen mit zwei X im Chromosomensatz allen Gleichstellungsbeauftragten zum Trotz noch immer weiße Raben. Das Lachen ist ein kurzer Exzess, eine Sekunden-Ekstase, wir verlieren die Kontrolle über unseren Körper und er gehorcht anfallweise einem Gesetz, dass sich unserem Willen entzieht. Doch das bedeutet: Wer uns gezielt zum Lachen bringt, übernimmt kurzzeitig die Macht über unser Zwerchfell, er dirigiert unseren Körper, lässt ihn lustvoll beben, zucken, stöhnen. Spielt der Witz deshalb beim Flirten eine so große Rolle? Sind die Männer in Sachen Komik härter trainiert, weil sie, spätestens nachdem in der Urhorde die ersten Worte gewechselt wurden, den Witz als prima Mittel entdeckten, eine besondere Verführungs-, ja Verfügungsgewalt über die Leiber der Weiber zu gewinnen, die sich mit ein bisschen Geschick bis aufs Bärenfell verlängern ließ? „Frau Rettich, die Czerni und ich“ war einer der komischen Erfolgsromane der neunziger Jahre. Das Buch brachte es nicht nur bis auf die Bestsellerlisten, sondern mit Iris Berben und Martina Gedeck verfilmt auch bis in die Kinos. Die Autorin Simone Borowiak galt sofort als eine der wichtigsten weiblichen Hoffnungen unter den deutschen Schriftstellern mit Leidenschaft für Komisches. Schon mit blutjungen 21 Jahren war sie an das Frankfurter Satiremagazin „Titanic“ geraten, wo man sie ihres grimmigen Witzes wegen umgehend als Redakteurin verpflichtete. „Frau Rettich, die Czerni und ich“ enthielt dann gleich eine merklich höhere komische Sprengkraft als in den frechen Frauenromanen dieser Jahre üblich, jenen leichten Liebeskomödien von Eva Heller, Hera Lind oder Gaby Hauptmann. Auch in Simone Borowiaks Geschichte ging es um die ewig gleichen Probleme mit Figur und Frisur, mit Männern und Mode, die schier unerschöpflich die einschlägigen Illustrierten füllen. Doch bei ihrer Heldin wuchsen sich solche Alltagskümmernisse gelegentlich zu echter, wilder Panik aus und ihr Blick aufs weibliche Verhaltensrepertoire war von fabelhafter Unbarmherzigkeit – was ihre Figuren zwar nicht ins beste Licht rückte, sondern ihnen handfest neurotische Züge verlieh, dem Witz des Buches aber sehr zugute kam. Mit diesem Erfolg im Rücken schrieb Simone Borowiak drei weitere Romane und schlingerte derweil tief in eine doppelte Lebenskrise. Aus der hat sie kein Geheimnis, sondern schließlich 2005 ein Sachbuch gemacht. Es trägt den Titel „Alk“ und gibt klug, kenntnisreich und komisch Auskunft über sämtliche Schrecken und Spielarten sowohl der Alkoholsucht wie des Alkoholentzugs. Doch das war nur die eine Seite jener Krise, ein Hinweis auf die andere ließ sich vom Autorennamen des neuen Buches ablesen. Simone Borowiak hatte erkannt, im falschen Körper geboren worden zu sein. Nach finsteren Seelenstürmen und noch viel finstereren Irrwegen im Labyrinth unseres Gesundheitswesens konnte sie schließlich die Geschlechtsumwandlung durchsetzen und heißt nun Simon Borowiak. Der Name fiel damit allerdings nicht zum ersten Mal. Lange bevor von einem Geschlechtswechsel Simone Borowiaks die Rede war, hatte Robert Gernhardt sie 1994 als eine Vorreiterin gepriesen auf dem literarischen Terrain des Komischen, das noch viel zu selten von Autorinnen durchmessen und erobert wird: „Zumal in Deutschland: Weit und breit keine Wilhelmine Busch, keine Karla Valentin, nicht einmal eine Eugenie Roth“. Doch, so frohlockte Gernhardt damals, „sollte es ein schlecht unterrichteter Mann immer noch wagen, der deutschen Frau als solcher die Komikfähigkeit an sich abzusprechen, so muss er heute mit der tödlichen Fangfrage rechnen: ‚Habt ihr Macker etwa einen Simon Borowiak aufzuweisen?’“ Das haben die Macker nun. Ist also aus dem gefeierten Beispiel für weiblichen literarischen Witz ein besonders deutlicher Hinweis auf eine Leerstelle in der Literatur-Szene des Landes geworden? Mit Sicherheit ist Simon Borowiak schon aufgrund von Talent und Schicksal eine exzellente Auskunftsperson zum offenbar unausgewogenen Verhältnis der Geschlechter zum Gelächter. Denn er hat, was fast kein anderer hat: die Kenntnis beider Seiten und dazu noch unbestreitbar komischen Sachverstand. „Hormone und Souveränität“, meint er, sorgen für den Unterschied. „Östrogen macht weich, Testosteron aggressiv“ – und zum guten, krachenden Gag gehört nun mal Biss und die Bereitschaft, nicht groß danach zu fragen, ob eine Granaten-Pointe beim Einschlag unter sensibleren Gemütern Kollateralschäden hinterlassen könnte. Und je souveräner jemand ist, je weniger er um seine soziale Anerkennung fürchten muss, desto leichter kann er das Risiko eingehen, sich mit einem missglückten Witz selbst lächerlich zu machen, oder die Empfindlichkeiten, den Zorn, ja die Feindschaft anderen auf sich zu ziehen. Aber sicherer im Sattel der sozialen Anerkennung saßen bislang allemal die Männer. Andererseits: Solche Souveränität hat Borowiak nie erlebt. Die Neigung zum Komischen speiste sich bei ihm von Jugend an aus anderen Quellen. „Schwermut, Todestrieb“ lautet seine Selbstdiagnose. Das Klischee vom Clown, der angeblich immer der traurigste Mann im ganzen Zirkus sein soll, erweist sich bedauerlicherweise nicht in jedem Fall als falsch. „Da ich Selbstmitleid eklig finde, trainierte ich mich zum Trotz auf Komik. Lachen ist Erlösung. Komik ist Lebenserhalt: Sie tröstet, relativiert Verzweiflung, gibt Hass eine zivilisierte Form – Komik ist Gott.“ Und zu dieser Religion bekennt sich Borowiak unbeirrbar auch als Mann. Sein neuer Roman „Wer Wem Wen“ ist ein sarkastisch funkelndes Liebesgemetzel. Ein einzelner psychisch angeschlagener und dringend erholungsbedürftiger Mann fährt als fünftes Rad am Wagen mit zwei Paaren in Skiurlaub. Sein überreizter Verstand registriert präzise die zarten Selbsttäuschungen und feinen Lügen, mit denen die anderen ihr Zusammenleben in der Balance halten. Nicht ganz leicht zu sagen, ob es der illusionslose Blick dieses Mannes auf die Schwächen seiner Mitmenschen war, der ihn depressiv werden ließ. Oder ob die Depressionsdämonen, die ihn peinigen, seinen Blick mit der Zeit so komplett illusionslos werden ließen. Sicher ist nur, dass er die Risse in den Liebesfassaden der beiden Pärchen instinktiv erfasst – und vorerst mit keinem Wort an den sensiblen Stellen rührt. Doch dann trifft überraschend eine weitere Freundin in der Berghütte ein, die gerade ihren langjährigen Lebensgefährten wegen seines monatelangem „Rumbumsens“ in die Wüste geschickt hat. Angetrieben durch diese Verletzung springt sie nun auch reichlich mitleidlos mit den bröckelnden Bindungen der anderen um. Es ist ein tiefschwarzes Vergnügen durch die Augen des einzelgängerischen Erzählers zu beobachten, wie sie Mine um Mine im fragilen Beziehungsnetz der beiden Paare zündet, die vier mit einigen schmerzlichen Wahrheiten konfrontiert und schließlich nicht nur deren Urlaubsstimmung in rauchende Trümmer sinkt. Simon Borowiak erzählt das alles mit einem blitzschnellen, gnadenlosen Sprachwitz. Schon nach drei, vier Seiten begreift man, weshalb er eine gute Portion Aggressivität zu den notwendigen Zutaten der Komik zählt. Seine Pointen haben nichts Sonniges oder Wonniges, sie sind vielmehr aus einer brachialen Nüchternheit geschöpft, hinter der sich, natürlich, eine von den Zumutungen des Daseins arg ramponierter Empfindsamkeit verbirgt. Aber eben diese Empfindsamkeit verleiht Simon Borowiaks Geschichte, neben all dem schonungslosen Witz immer wieder auch einen Schuss trauriger Poesie. Zusammen ergibt das eine eigentümliche, ganz unvergleichliche Melange, die sich letztlich wohl nur auf einen einzigen Begriff bringen lässt: rundum borowiaresk. Der Begriff aber trifft es haargenau.

Simon Borowiak: „Wer Wem Wen“. Eine Sommergeschichte Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007 184 Seiten, 14,95 € 

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