„Sansibar ist überall“

Die moralische Integrität Alfred Anderschs wird angegriffen. Doch der Anlass dazu ist fragwürdig.
Es kommt einem vor, als seien die Uhren der deutschen Literatur stehen geblieben. Als würden wie vor einer Tonbandschleife immer wieder dieselben Texte abgespult und zwanghaft die gleichen Argumente ausgetauscht. Namen und Details wechseln, doch im Grunde ändert sich wenig an dem regelmäßig aufgeführten Stück. Die aktuelle Hauptfigur des literatur- und vergangenheitspolitischen Dramas heißt Alfred Andersch. Weiterlesen

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„Das Überirdische Licht“

Barbara Honigmann erzählt von ihren Begegnungen mit dem jüdischen Leben in New York

Reisen nach New York gehören heute zum Freizeitprogramm oder auch den Berufspflichten von Millionen. Selbst den Glücklichen, die wie Barbara Honigmann zehn Wochen dort verbringen können, dürfte es nach ihrer Rückkehr nicht immer leicht fallen, die Daheimgebliebenen mit ihren Reiseerinnerungen in Erstaunen zu versetzen. Aus New York ist von so Vielen so viel Abenteuerliches, Ausgefallenes, Skurriles, Schrilles zu hören, dass man inzwischen sehr dazu neigt, beim jeweils nächsten Sensationsbericht nur noch abgeklärt mit den Schultern zu zucken. In New York gibt es ein ganzes Kaufhaus nur für Barbie-Puppen! Was, denkt man erstaunt, nur ein einziges? Das Baden in Long Beach kann an manchen Tagen so gefährlich sein wie in der Biskaya. Wie, gefährlicher nicht? New York hat die Kriminalitätsrate glatt halbiert! Ach, nur halbiert? Es gehört zu den Qualitäten von Barbara Honigmanns kleinem Buch „Das überirdische Licht“ über ihren Aufenthalt in New York, dass sie sich auf einen solchen Wettbewerb des Sensationellen nicht einlässt, andererseits aber auch nicht das andere, alltägliche New York zu kennen behauptet, das sich einem naturgemäß erst nach Jahren der Vertrautheit allmählich erschließt. Ihr Bericht konzentriert sich statt dessen auf einen kleinen Ausschnitt von Manhattan, der ihr aus ganz persönlichen Gründen wichtig ist, auf ein Areal in Greenwich Village zwischen German House, Maison Française und der koscheren Mensa der New York University. Dieses „magische Dreieck“ repräsentiert in einem zweifachen Sinne wesentliche Pole ihres Lebens. „I come from France, but I am a German Jew“, so stellt sie sich unbekannten Amerikanern üblicherweise vor, und die „Formelhaftigkeit, in der meine Existenz so ihren Ausdruck findet, beglückt mich“. Denn ihre Herkunft und ihren Werdegang in seinen Feinheiten verständlich zu machen, ist nicht leicht. Sie wurde 1949 in Ost-Berlin als Tochter eines kommunistischen jüdischen Ehepaars geboren, das nach dem Exil in die DDR zurückgekehrt war und dort wichtige kulturelle und politische Funktionen übernahm. Doch als Jugendliche wandte sich Barbara Honigmann entschieden gegen das Milieu ihrer Eltern und damit auch gegen das SED-Regime. Sie opponierte allerdings nicht nur gegen deren sozialistische, sondern auch gegen deren strikt rationalistische Grundhaltung und suchte Anschluss an die jüdische Gemeinde der DDR, in der sie die jüdische Religion überhaupt erst kennenlernte. Bald wurden die Konflikt mit ihrem Geburtsland unüberbrückbar, sie stellte einen Ausreiseantrag und übersiedelte 1984 mit Mann und Kindern von der DDR ins französische Straßburg. Denn die Stadt verfügt nicht nur über ein reges jüdisches Leben, sondern in Frankreich hoffte sie außerdem Distanz zu dem vom Holocaust überschatteten und bis heute belasteten, oft verkrampften Verhältnis der deutschen Nicht-Juden zu den Juden zu gewinnen. Das Leben in Greenwich Village vergegenwärtigte für sie aber noch in einer anderen, zweiten Hinsicht eine zentrale Erfahrung ihres Lebens. Denn als junge Frau war sie Teil einer Ost-Berliner Boheme, die in Kunst, Theater, Literatur ihre Zuflucht vor den Zumutungen der Diktatur suchte – und diese „Clique lebte und bewegte sich mehr wie ein einziger, vielarmiger und mehrköpfiger Körper. Mal schlief eine Freundin bei mir, mal ich bei ihr, oder wir beide schliefen bei einer dritten, oder wir schliefen zu dritt bei einer vierten, jedenfalls trugen wir immer eine Zahnbürste bei uns, weil wir ja nie wussten, wo wir aufwachen würden.“ Im New Yorker Village trifft sie nicht nur eine alte Freundin aus Ost-Berliner Zeiten wieder, sondern fühlt sich auch durch das bohemehafte Milieu der Menschen dort wie in die eigene Vergangenheit zurückversetzt: „Ein längst vergangenes Leben stellt sich wieder ein, sozusagen vor meinen eigenen Augen verwandele ich mich in eine kinderlose, unverheiratete Studentin zurück und bin erschüttert, wie leicht und selbstverständlich ich diesen Zustand wieder als den natürlichen annehme.“ So ist „Das überirdische Licht“ zu einem außergewöhnlich persönlichen Reisebericht geworden. Fast fühlt man sich an Bücher wie „Was bleibt“ oder „Sommerstück“ von Christa Wolf erinnert, die erklärtermaßen dem literarischen Programm einer „subjektiven Authentizität“ folgten und die alltägliche, sehr individuelle Erlebnisse, Begegnungen und Einfälle der Schriftstellerin in den Mittepunkt stellen. „Das überirdische Licht“ wirkt über weite Strecken wie ein Tagebuch, in dem die Autorin ihren Lesern einen intimen, durch literarische Maskenspiele kaum noch verschlüsselten Einblick in ihre New Yorker Zeit gewährt. Im Zentrum nicht nur dieser Wochen stehen bei ihr die bewusst wiederbelebten Bindungen an die jüdische Religion, die zur Basis ihres Lebens geworden ist. „Nicht wir halten Schabbes“, schreibt sie, als sie nach ihrer Ankunft in New York mithilfe der religiösen Rituale für Ordnung in ihren ansonsten völlig verpflichtungslosen Tagen sorgt, „sondern Schabbes hält uns. Sagt der Talmud. Die Wahrheit dieser Weisheit kann ich bestätigen.“ Doch ebenso wie Barbara Honigmanns Buch kein literarischer Reiseführer durch New York ist, ist es kein Wegweiser durch das jüdische Leben der Stadt. Sicher, sie erzählt von Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Formen des amerikanischen Judentums, mit sehr traditionellen oder auch sehr liberalen Juden, mit Reformern oder Orthodoxen, mit ungläubigen Intellektuellen, aber auch modischen Gläubigen: „Heute ist es hip und cool und in, Jude zu sein und das auch stolz zu zeigen. Woody Allan und das jiddische Mamme-Problem sind überhaupt nicht mehr aktuell. Jüdische Rapper und jüdische Supermänner treten jetzt auf.“ Doch Barbara Honigmann ist weder auf einen vollständigen Überblick noch auf detaillierte Analysen aus, sondern versucht vielmehr festzuhalten, welche Eindrücke diese Begegnungen bei ihr hinterließen.

Barbara Honigmann: „Das überirdische Licht“. Rückkehr nach New York Hanser Verlag, München 2008 157 Seiten, 14,90 €

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Keine Mauer zwischen Gut und Böse

 Ingo Schulzes Roman „Adam und Evelyn“
„Es gibt schreckliche Versuchungen“, hat Oscar Wilde einmal geschrieben, „es erfordert Kraft, Kraft und Mut, ihnen nachzugeben.“ Ingo Schulze ist heute der hartnäckigste, der sorgfältigste literarische Chronist der deutschen Wiedervereinigung. Kein anderer Schriftsteller geht den grundstürzenden Erfahrungen jener Wochen und Monate so minuziös nach wie er. Doch wurde Schulze darüber nicht zu einem politischen Romancier, zumindest nicht zu einem, der Romanen über das politische Milieu schreibt. Er wurde vielmehr zu einem Dichter der Versuchung und Verführung und Verlockung, zu einem Moralisten ohne dogmatisches moralisches Koordinatensystem, zu einem Erzähler, der seine Figuren vor immer neue, hoch ambivalente Lebensentscheidungen stellt, auf die es für sie nie die einzig richtige Antwort gibt. Schulze liefert sie den schrecklichsten Versuchungen aus, um dann zu beobachten, ob ihre Kraft und ihr Mut so groß ist, ihnen nachzugeben oder so klein, ihnen zu widerstehen. Dass es Schulze also irgendwann einmal verlocken würde, die Geschichte von Adam und Eva, jenen Urmythos der Versuchung, auf seine Weise zu variieren, war wohl zu erwarten. Sein Roman „Adam und Evelyn“ beginnt im Paradies. Es ist, zugegeben, ein reichlich schäbiges Paradies, das dumpf nach stilldeutschem Glück im Winkel riecht. Die DDR wurde in den letzten Jahren ihrer Existenz gern eine Nischengesellschaft genannt, in einer solchen Nische hat es sich Adam, Schulzes Hauptfigur, aus seiner Sicht sehr vorteilhaft eingerichtet: Er ist Mitte dreißig, ein selbständiger Schneidermeister, der an das Regime längst nicht mehr glaubt, es aber auch nicht für nötig hält, sich mit dem Regime anzulegen. Von seinen Eltern hat er ein kleines Haus in einer kleinen Stadt geerbt, in dem er mit seiner gerade 21-jährigen Freundin Evelyn lebt und in dem er im Atelier unterm Dach sein Schneiderhandwerk als Kunst der Verführung betreibt. Denn viele der Frauen, die auf ihn angewiesen sind, weil die Mauer sie trennt von Cerruti und Prada, Lagerfeld und Versace, erliegen bei den Anproben nicht nur dem Reiz seiner Schöpfungen, sondern auch dem etwas ruppigen Charme des Schöpfers. Kurz, Adam lebt das Leben eines Don Juans und Modezaren im beschaulichen Format der DDR-Provinz. Bis Evelyn ihn eines Tages im August 1989 mit einer Kundin nackt im Badezimmer ertappt. Sie sagt wenig, packt ihre Koffer und fährt mit einer Freundin und deren Cousin, der aus dem Westen zu Besuch ist, nach Ungarn in den Urlaub. Von diesem Augenblick an überstürzen sich die Ereignisse, denn im August 1989 kann hinter einem Aufbruch aus der DDR in Richtung Ungarn längst mehr stecken als der Aufbruch in einen Urlaub. Im Mai schon hatte Ungarn begonnen, die Befestigungsanlagen nach Österreich abzubauen und am 19. August gab es eine erste Massenflucht von DDR-Bürgern über die grüne Grenze in den Westen. Adam muss also fürchten, dass Evelyn nicht nur für ein paar Wochen schmollt und dann zu ihm zurückkehrt, sondern – noch erscheint ein Fall der Mauer als völlig unvorstellbar – dass er sie vielleicht niemals wieder sehen wird, wenn er sie nicht im Osten halten kann. Der alltägliche Liebeszank um Untreue und Treue, Verlassenwerden oder Versöhnung wird in Schulzes Roman also durch die weltpolitische Situation entschieden zugespitzt. Adam, der nun immerfort davon spricht, wie sehr er seine Evelyn liebt, fährt halb als Verfolger, halb als Begleiter der anderen drei gleichfalls nach Ungarn. Auf dieser Reise verschafft Schulze allen vier Figuren reichlich Gelegenheit ihre zwischenmenschlichen Stärken und Schwächen unter Beweis zu stellen. Die schöne Evelyne zum Beispiel macht ihrer Freundin im Handumdrehen den Westcousin abspenstig, obwohl die sich von ihm aus dem Osten „rausheiraten“ lassen wollte. Dieser Cousin wiederum liegt zwar allen damit in den Ohren, wie risikolos es geworden sei, über Ungarns grüne Grenze in den Westen zu spazieren. Doch als ihm der Pass gestohlen wird, ist es für ihn völlig undenkbar, mit den anderen den gleichen Weg zu wählen, lieber besorgt er sich über die Botschaft Ersatzpapiere. Adam dagegen zeigt sich plötzlich immerfort von seiner ritterlichen Seite und schmuggelt eine junge Frau mit Fluchtplänen aber ohne Ausreiseerlaubnis im Kofferraum durch die Grenzkontrollen der DDR, und verzichtet auf jede Gegenleistungen von ihr. „Adam und Evelyn“ ist ähnlich aufgebaut wie Schulzes „Simple Storys“, sein erster „Roman aus der ostdeutschen Provinz“: Eine Serie von 55 betont lakonischen Kurzgeschichten, die sich auf das Handeln und Reden der Figuren konzentrieren, deren Gedanken aber fast immer verschweigen – und die den Einfluss der Short-Stories des von Schulze verehrten Raymond Carver weder verleugnen können noch wollen. Das Buch ist letztlich ein Stakkato knapper Szenen, zwischen denen zu Anfang nur kurze, gegen Ende hin aber immer größere zeitliche Zwischenräume liegen. Schaut man genauer hin, bemerkt man, dass die Figuren einige ihrer wichtigsten Entscheidungen gerade eben nicht in den geschilderten Szenen treffen, sondern dass sie in der dazwischen liegenden Zeit getroffen werden und für den Leser nur indirekt zu erschließen sind. Bei welcher Gelegenheit Evelyn ihrer Freundin den Cousin ausspannt und weshalb sie ihn wieder verlässt, warum Adam seine Evelyn zurückgewinnt und wann er sich doch entschließt, mit ihr in den Westen zu fahren und dort zu bleiben – all das wird von Schulze durch seine hüpfende Erzählweise ausgespart und so der Neugier und Fantasie der Leser überlassen. Er liefert keine mehr oder minder schlüssigen psychologischen Beschreibungen, sondern stellt das Verhalten seiner Figuren zu Beobachtung aus. Ein Schachzug, mit dem Schulze zwei literarische Risiken verringert: Jeder Schriftsteller, der ein bis heute so stark spürbares und folgenreiches politisches Beben wie die Wiedervereinigung zum Thema macht, gerät leicht in Gefahr, nicht über das historische Ereignis, sondern über seine Ansichten zu diesem Ereignis zu schreiben. Tatsächlich vertritt Schulze in Interviews einige sehr dezidierte Überzeugungen zur Wiedervereinigung und zur politischen Situation der Gegenwart. Doch muss ein Roman, wenn er nicht im bloßen Meinungsstreit befangen bleiben soll, sich letztlich – so paradox es klingt – sogar von den Ansichten seines Autors emanzipieren können. Zum anderen ist jeder, der heute die Wochen der Wiedervereinigung zum Gegenstand eines Romans macht, seinen Figuren haushoch überlegen. Denn er weiß, zu welchen historischen Ergebnissen diese Wochen führten und kann deshalb der Unsicherheit und Ratlosigkeit seiner Helden, für die alles noch in unerforschter Zukunft liegt, nur schwer gerecht werden. Mit Blick sowohl auf ihre Liebe wie auf ihr Land DDR sind für Adam und Evelyn die Entscheidungen zwischen Gehen oder Bleiben, zwischen dem Wunsch nach einem Aufbruch in die Freiheit und die Sehnsucht nach dem Festhalten am Vertrauten noch vollkommen ungeklärt und offen. Indem Schulze das Verhalten seiner Figuren nie kommentiert und ihre Meinungen mit Gegenmeinungen anderer Figuren wie ein meisterlicher Dramatiker fein ausbalanciert, legt er dem Leser kein bestimmtes Urteil über sie nahe, sondern sorgt dafür, dass die Urteile über sie wechseln, je nachdem aus welcher Perspektive man sie betrachtet. „Keine Mauer trennt Gut und Böse“, hat Schulze einmal mit Blick auf Carvers Short-Stories geschrieben, „das eine kann im nächsten Augenblick schon das andere sein, die Welt steht immerzu auf der Kippe“. Wie für einen Dramatiker spielt auch für den Erzähler Schulze in diesem Roman der Dialog die zentrale Rolle. Je weiter die Geschichte auf die Entscheidung zur Flucht zuläuft, desto mehr Raum nehmen die Gespräche ein, ganze Seiten, ganze Kapitel bestehen nur noch aus schneller Wortwechseln. Allerdings dienen sie nicht wie beim klassischen Drama dazu, die Handlung voranzutreiben, sondern dazu, die Abhängigkeiten und Machtfragen zwischen den Figuren zu klären. Zu Beginn des Romans beugt sich Adam über die Fotos, die er von seinen Kundinnen in den von ihm genähten Kleidern gemacht hat: ein souveräner Don Juan, der sich nicht einmal durch die Anwesenheit seiner Freundin davon abhalten lässt, stolz sein Bilder-Leporello zu komplettieren. Am Schluss der Romans ist er als ein von Selbstzweifeln geplagter Untermieter Evelyns irgendwo im Westen gelandet und verbrennt seine Fotos: eine Unterwerfungsgeste Evelyn gegenüber, vielleicht aber auch eine Unabhängigkeitserklärung, nach der er für nichts und niemanden mehr erreichbar ist. Mit dem Umsturz in politischen Machtfragen werden in diesem Roman auch in allen privaten Machtfragen die Karten gründlich neu gemischt. Doch Schulze beschreibt nicht nur die Verunsicherung seiner Figuren, er lässt seine Leser, wenn sie aufmerksam sind, ein wenig auch an dieser Verunsicherung teilhaben. Nachdem Evelyn ihren Adam im Bad beim Seitensprung erwischt hat, geht sie in ihr Zimmer und lackiert sich seelenruhig ihre Fußnägel, damit sie besser zu den Urlaubssandalen passen, bevor sie nach Ungarn aufbricht. Kann es sein, dass Adams Untreue für sie längst kein Geheimnis mehr war? Dass sie ihre Empörung nur deshalb betont, um Adam in die Defensive zu bringen und zur Flucht aus der DDR zu überreden? Als Adam ihr nach Ungarn folgt, packt er ungefragt die Kassette mit Evelyns Familienschmuck ein, obwohl er sie doch angeblich zur Rückkehr bewegen will. Ist er sich längst darüber klar, dass sie beide letztlich im Westen landen werden und den Schmuck als Startkapital oder Notgroschen gut brauchen können? Will er gar nicht im Osten bleiben, sondern braucht Evelyns Aufbruch nur als Rechtfertigung vor sich selbst für die eigene Flucht? Hinter den vordergründigen Motivationen seiner Figuren eröffnet Schulze mit wenigen klugen Andeutungen ein weites Feld für Spekulationen über ihre anderen halb- oder unbewussten Antriebe. Er lässt ihnen so, was ihnen besondere Lebendigkeit verleiht, ihre Geheimnisse. Mit „Adam und Evelyn“ hat Ingo Schulze nach „Neue Leben“ (2005) einen zweiten wunderbar lesbaren und zugleich literarisch hoch komplexen Roman über die Wiedervereinigung geschrieben. In „Neue Leben“ war es der Teufel selbst in Gestalt eines Unternehmensberaters, der den vom Mauerfall überraschten Romanheld dazu verlockt, mit den neuen, vom Westen gebotenen Lebenschancen sein Glück zu machen oder auch sich selbst zu verlieren. Das Titelpärchen von „Adam und Evelyn“ zitiert nun ebenfalls urmythische Gestalten und wieder liefert Schulze keine vorschnellen Antworten, ob seine Figuren richtig oder falsch handeln, sondern versucht die Erfahrung ihrer umfassenden, bodenlosen Verunsicherung literarisch einzufangen und für den Leser zu konservieren. Ingo Schulze: „Adam und Evelyn“. Roman Berlin Verlag, Berlin 2008 208 Seiten, 18,- €

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Drecksbagage

Literarische Feinarbeit von Gerhard Polt

Es gibt heute in der deutschen Literatur keinen großartigeren Polterer als Gerhard Polt. Wer in ihm nur den Parodisten des ewigen bayerischen Stammtisch-Krakeelers sieht, unterschätzt seine literarische Leistung. Natürlich, wenn man Polts Texte liest und sie nicht vom Kabarettisten Polt auf der Bühne gesprochen und gespielt sieht, muss man sich erst einmal, wie Bernd Eilert schrieb, „diese unverschämte Eindringlichkeit seiner Auftritte aus dem Kopf schlagen“. Aber dafür hat man dann einen genaueren Blick auf die sprachliche Feinarbeit, die in Polts Rollenprosa steckt. Ein bayerischer Konservator oder Mäzen poltert bei ihm naturgemäß ganz anders und viel gebildeter daher als etwa der bayerische Metzger namens Schickaneder, der von seinen Vorfahren noch einen Schuldschein Mozarts geerbt hat. Nur in einem Punkt sind sich alle Figuren Polts einig: Sie haben recht und die Welt tut ihnen Unrecht: „Aber wehr dich amal dagegen und stell dich hin, und willst was sagen, dann holen’s dich ab im Zeiserlwagen. Dieses Gschwerl, diese Drecksbagasch, Saubande, Halsabschneider, Blutsauger, Banditen, Mörder!“

Gerhard Polt: „Drecksbagage“ Verlag Kein & Aber, Zürich 2008 119 Seiten, 12,90 €

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Wenn die Erde über die Ufer tritt

Eine große Werkausgabe feiert Wolfgang Hilbig als Klassiker der Gegenwartsliteratur

Sein Ort war nirgends. Zugehörig fühlte er sich weder im Osten noch im Westen. Doch jetzt wird der Schriftsteller Wolfgang Hilbig, ein Jahr nach seinem Tod, mit einer siebenbändigen Werkausgabe gewürdigt, was ihn in den Rang eines Klassikers der Gegenwart befördert und zumindest seiner Literatur eine definitive Heimat verschafft. Hilbig zählte zu den eigenwilligsten Persönlichkeiten des an eigenwilligen Persönlichkeiten bei Gott nicht armen deutschen Literaturbetriebs. Er stammte aus einfachen Verhältnissen, hatte nur acht Jahre lang die Volksschule besuchen dürfen, wuchs bei seinem nahezu analphabetischen Großvater auf – und entwickelte sich doch zu einem der sprachgewaltigen Autoren der letzten Jahrzehnte. Er lebte lange in Meuselwitz bei Leipzig und die Kulturpolitiker der DDR hätten ihn zu einem Star der Arbeiterliteratur stilisieren können. Doch was er schrieb, passte nie in ihre propagandistischen Konzepte und also versuchten sie ihn mundtot zu machen, ja steckten ihn, nachdem sein erstes Buch 1979 im Westen erschienen war, für einige Wochen ins Gefängnis. Als er 1985 mit einem Visum in den Westen ausreiste, wurde er dort bald schon mit Preisen und Stipendien überschüttet – und blieb dennoch spürbar ein Fremdling im Milieu der Intellektuellen, in das es ihn verschlagen hatte. Er gehörte zu jenen besessenen Autoren, für die ihre Literatur oft der einzige gangbare Weg ist, mit der Welt und den Menschen zu kommunizieren und deren einzige Chance, ihre Einsamkeit zu überwinden, in der Sprache liegt. Der erste Band der Werkausgabe präsentiert jetzt sämtliche Gedichte Wolfgang Hilbigs. Zu Lebzeiten hatte er nur drei schmale Bände veröffentlich. Gleich für den ersten davon, „abwesenheit“ (1979), wurde er von Kennern in den Himmel gehoben. Tatsächlich hatte er hier eine einfache, unaufwendige und doch kraftvolle Sprache gefunden, mit der er wunderbare poetische Bilder zu malen verstand. So entwarf er – den Spuren Shakespeares und Ingeborg Bachmanns folgend, die Böhmen ans Meer verlegt hatten – die Vision von einem „Meer in Sachsen“, das sich in der zu über fünfzig Prozent mit Wasser angereicherten Braunkohle des Tagebaus verbirgt: katastrophen im tertiär pressten das meer in die kohle in sachsen wüst und gottgewollt trat erde über die ufer zerdrückte das meer und seine lagunen mit mammutbäumen das meer kocht und dampft in der kohle in sachsen. Doch Hilbig war ein ungeheuer langsam und tastend arbeitender Lyriker. Sechs Jahre brauchte er, bis er seinen zweiten Gedichtband veröffentlichte: „die versprengung“ Doch vielleicht war selbst das noch zu früh, denn es fanden sich darin etliche schwache Stücke. Sie verloren sich in vage Bilder und zeigten mitunter eine unglückselige Neigung zur klappernden Genitivmetaphern. Nach der Publikation erkannte Hilbig manche dieser Mängel auch und der Schock, den eigenen Qualitätsansprüchen nicht zu genügen, saß tief. 15 Jahre brauchte er, bevor er seinen nächsten, gerade einmal 30 Text umfassenden Lyrikband „Bilder vom Erzählen“ publizierte. Nicht zuletzt seine Selbstzweifel sorgten dafür, dass Hilbig viele seiner lyrischen Arbeiten lange zurückhielt. Der jetzt erschienene erste Band der Werkausgabe enthält auf über 200 Seiten Gedichte, die er nicht veröffentlicht hatte, und die sich erst in seinem Nachlass fanden. Darunter den frühen Zyklus „Scherben für damals und jetzt“, dessen Schicksal ein Schlaglicht wirft auf die prekären Arbeitsverhältnisse dieses Dichters in der DDR. Hilbig hatte den Zyklus mit der Hand in ein gewöhnliches DIN-A-5-Heft geschrieben und das Ganze mit Titelblatt, Widmung und Inhaltsverzeichnis versehen. Doch bevor er einen Verlag für den Band fand, wurde das Heft offenbar vom Ministerium für Staatssicherheit beschlagnahmt und erst nach der Wiedervereinigung an Hilbig zurückerstattet – jede einzelne Seite trägt, wie Jürgen Hosemann, der Herausgeber des Bandes anmerkt, den Stempel der Gauck-Behörde. Neben der Arbeit an den Gedichten, die für ihn oft genug ein quälend langes Warten auf Einfälle war, begann Hilbig seit Anfang der achtziger Jahre auch Erzählungen und Romane zu schreiben. Bestechend sind die musikalischen Qualitäten dieser Texte, denen die kommenden fünf Bände der Werkausgabe gewidmet sein werden. Wie Thomas Bernhard verstand es Hilbig, seine Prosa auszubalancieren auf dem schmalen Grad zwischen maßlosem Pathos und übersteigerter Ironie. Der angelsächsische Literaturbetrieb kennt den Begriff des „writer’s writer“. Er zielt auf Schriftsteller, die vielleicht nicht immer auf das Publikum, wohl aber auf ihre Schriftsteller-Kollegen eine besondere Ausstrahlungskraft ausüben. In diesem Sinne war Wolfgang Hilbig ein Dichter für die Dichter. Er fand, seit er in der DDR mit dem Schreiben begann, gerade unter Autoren eine enorme Zahl von Verehrern, die ihn bewunderten für die Konsequenz, mit der er sein Leben der Literatur widmete. Im jüngsten Heft der „Neuen Rundschau“, der traditionsreichen Literaturzeitschrift des S.Fischer Verlags, statten jetzt von Ingo Schulze über Marcel Beyer bis zu Uwe Kolbe etliche Schriftsteller Hilbig ihren Respekt ab. Wolfgang Hilbig war ein literarischer Rebell, der sich auflehnte gegen etwas, gegen das man nicht gewinnen kann: gegen die Realität. Auch er hat in dieser Schlacht naturgemäß nicht den Sieg davon getragen, aber ihm sind beim Handgemenge einige großartige Gedichte und ein paar ungeheuer suggestive, in Traum- und Albtraumwelten entführende Prosastücke gelungen wie „Die Weiber“ oder „Alte Abdeckerei“. Kein Wunder, dass er die Tage der Wende von 1989, als zumindest die politische Realität mit einem Mal neuen, ungeahnten Gesetzen zu folgen schien, als großes Glück erlebte. Damals schrieb er mit „prosa meiner heimatstraße“ eine fabelhafte Hymne auf die Rebellion, eine fast dreißigseitige, verzückte Litanei des Aufbegehrens, die wohl niemand, der sie liest, so schnell wieder aus dem Ohr bekommt: „schön ist ein volk in waffenlosem aufruhr. Schön ist die revolution der windhunde traumtänzer taschenspieler trickbetrüger und aller übrigen betrogenen. Die revolution der aufschneider und verkrochenen der randexistenzen und der hektiker der metropolen…“ So schwingt sie hin, diese Hymne, in überlangen Zeilen, ein wenig an Allen Ginsbergs „Howl“ erinnernd, und fängt etwas ein von jener alle Maße sprengenden Freude über einen unverhofften Augenblick großer Freiheit.

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Mein Transvaal

Ein Gedicht von Otto Waalkes Zu singen auf die Melodie des Beatles-Songs „Penny Lane“ von John Lennon und Paul McCartney

In meiner Heimatstadt in Emden gibt es ein Quartier
Die Eingebor’nen nennen es Transvaal
In diesem ganz normalen Kral
Lebte ich einmal
Godfried-Bueren-Straße heißt’s, wo ich geboren bin
In einem Reihenhaus aus rotem Klinkerstein
Ich ritzte da meinen Namen rein
Ja, das musste sein
In Fiftynine
Mein Transvaal, denk ich an dich, dann wird mir heiß
Das singe ich ganz laut und denke leis’ Was soll der Scheiß?
An der Ecke gab’s ne Kneipe Zum Klabautermann
Da versoffen die Matrosen Haus und Boot
Und dann torkelten sie an Bord im Morgenrot
Müde und halbtot
Mein Transvaal, denk ich an dich, dann wird mir heiß
Das singe ich ganz laut und denke leis’ Was soll der Scheiß?
Nachbar Kuhlmann hatte Töchter, die war’n wunderschön
Auf dem Hinterhof ham wir Versteck gespielt
Dabei hab ich ihnen ganz gezielt
Untern Rock geschielt
Bei dem kleinen Luftschutzbunker war ne Bäckerei
Da gab es manchmal Brötchen, manchmal nicht
Bäcker Behrens tat nicht immer seine Pflicht
Denn er hatte Gicht
Bedauerlich
Mein Transvaal, denk ich an dich, dann wird mir heiß
Das singe ich ganz laut und denke leis’ Was soll der Scheiß?

Klinker kann sehr kalt sein
Otto Waalkes, der Vater der neuen deutschen Comedy, wurde vor 60 Jahre in Emden-Transvaal geboren . Von Uwe Wittstock

Die Bäckerei ist lang schon geschlossen, der Bäcker tot. Aber der kleine Bunker ist noch da. Die Bäckerwitwe wuchtet den Elektromäher in den Vorgarten, obwohl der Rasen kurz ist wie eine Nagelbürste. Ja, an den jungen Otto Waalkes erinnert sie sich: „War so’n Hampelmann.“ Ihr Mann und sie standen immer im Laden. Nix da Gicht. Ihre Töchter sind mit Otto Rollschuh gelaufen, tagelang. Drei Häuser weiter rauf, rechter Hand, hat er gewohnt. Dann schimpft sie noch über den Bunker. Sie zeigt eine Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger: Soo eine Akte hat sie im Haus, kann sie mir gern holen. Aber wegreißen will die Stadt den Bunker nicht, dabei steht er auf ihrem Grundstück. Maria sitzt in der „Pinte“ an der Dollartstraße. Die „Pinte“ ist, sagt Maria, eine Arbeiterkneipe. Sie macht einen selbst gezimmerten Eindruck: ein Schankraum hinter einem Kiosk, kein Zapfhahn, nur Flaschenbier, zwei Daddelautomaten, ein Kicker, ein Fernseher, ein Tisch, an dem ein paar Männer um Korn würfeln. Maria kann sich bestens an Otto erinnern. Sie ist drei Jahre jünger als er. Er war Betreuer ihrer Gruppe im Jugendheim: „Hat bei jeder Gelegenheit auf seiner Gitarre geklimpert und Faxen gemacht.“ Am schönsten aber war, sagt Maria, ohne dass ich sie fragen müsste, das Versteckspiel in den Hinterhöfen: „Nachts mit Taschenlampe“. Eins, zwei, drei für Eckstein, alles muss versteckt sein, summt sie mit den Händen vor den Augen. Davon, dass die Jungs den Mädchen untern Rock schielten, erzählt sie nichts. „Godfried-Bueren-Straße 56, da wohnte Otto, weiß ich noch.“ Die Godfried-Bueren-Straße ist lang und schnurgerade. An ihrem oberen Ende, näher zur Innenstadt Emdens, stehen kleine Klinker-Einfamilienhäuser, an ihrem unteren Ende kleine Klinker-Wohnblocks mit je vier Parteien. Der ganze Stadtteil Transvaal wirkt wie ein Häuser-Fließband in Klinker-Rot. Mal drei- oder vierstöckige Mietskasernen, mal ein- oder zweistöckige Reihenhäuser, immer Klinker. Zusammen mit dem Rasen der Vorgärten, den Hecken und Bäumen in den Höfen ergibt das eine Welt ganz aus rot und grün. Es sind stille Straßen, in denen man das Meer riecht und ab und zu das Warnhorn der Güterzüge vor den Bahnübergängen hört. Von Marias Erinnerungen gelenkt, gehe ich an der Ottifanten-Plastik vorbei, das Otto seinem Transvaal gestiftet hat, nehme in der Godfried-Bueren-Straße die Parade der geraden Hausnummern ab und entdecke zwischen der 60 und der 48 eine Straßenkreuzung, aber kein Haus mit der Nummer 56. Gelenkt von den Erinnerungen der Bäckerwitwe, zähle ich von der alten Bäckerei drei Häuser weiter rauf, finde Haus 46, dort aber kein Anzeichen, dass hier jemals eine Familie Waalkes gelebt haben könnte, gesegnet mit einem blonden, faxenmachenden Sohn, der einen Schlag hatte bei den Nachbarstöchtern nicht nur beim Rollschuhlaufen. „Otto Waalkes?“ brummt der gebeugte ältere Mann vor Nummer 62, der im Blaumann, mit Bartstoppeln und Friesenplatt ein bisschen aussieht wie ein Arbeiterdenkmal: „Klar, da.“ Er deutet auf Nummer 68. Dort tritt, sobald ich ankomme, der Hausherr aus der Tür und wehrt, sobald ich frage, mit voller Gewissheit ab: Nein, nein, ganz falsch, auf der anderen Straßenseite wohnte Otto, da hinten irgendwo – und holt rufend Bestätigung ein bei der Nachbarin, die gerade vom Einkauf heimkommt. Sie steht unter ihrer Hausnummer 70 und stimmt fröhlich zu: Felsenfest stehe, dass Familie Waalkes schräg gegenüber gewohnt habe in der Nummer 70, bei den ungeraden Ziffern, eben da drüben. Einen fabelhaften Augenblick lang liegt der Verdacht nahe, in einen von der Nachbarschaft einstudierten Otto-Sketch geraten zu sein. Ich suche das Fenster, hinter dem sich der Kameramann versteckt. Doch dann, neben der Haustür von Nummer 67, findet sich ein dritter Beweis dafür, wie eng Lyrik und Leben bei Waalkes ineinander verstrickt sein können. In mittlerer Höhe, bequem erreichbar für einen Halbwüchsigen, der auf der obersten Treppenstufe sitzt, ist in den Klinkerstein geritzt: „O. Waalkes 13. 10. 63“. Ein Indiz, dass Otto schon als Fünfzehnjähriger zu den Menschen gehörte, die um jeden Preis Spuren auf dieser Welt hinterlassen wollten. Ein Beleg aber auch, dass Otto mit fünfzehn an Gewitztheit noch ein wenig zulegen konnte, hatte er seinen Eltern doch nicht nur den Hauseingang verschrammt, sondern den Namen des Täters gleich mitgeliefert. „Wer heute auf Transvaal lebt“, meint Maria, „kann sich sehen lassen in Emden.“ Aber früher war das anders. Von Hans Grigull, sagt Maria, dem ehemaligen Bürgermeister, soll ich mir alles erklären lassen und sucht mir aus dem Telefonbuch der „Pinte“ seine Nummer gleich raus. Grigull wohnt noch immer auf Transvaal. Auch er erinnert sich an den jungen Otto, aber besser noch erinnert er sich an dessen Onkel Gerd Waalkes, der mit komischen Gedichten und Anekdoten bei Vereinsfesten auftrat. „Da war wohl was in den Genen, bei denen.“ Wo holst Du Deine Witze bloß immer her, hat er Gerd Waalkes mal gefragt, sagt Grigull. Die kommen ganz von allein, war die Antwort, „wenn ich nachts so unter den Pannen lieg.“ Transvaal wurde um 1900, nachdem man begonnen hatte, den Emdener Hafen auszubauen, als Siedlung für Hafen- und Werftarbeiter auf die nächstgelegene Weide gesetzt. Es waren einfache Unterkünfte, erzählt Grigull, mit Stalltüren in den Wohnungen und nackten Eisenstangen statt Türklinken. Wer im Parterre hoch schaute zum ersten Stock, sah keine Decke, sondern nur die Balken samt der Bodendielen der oberen Etage. Wer oben im Bett lag, sah über sich die bloßen Dachpfannen, er lag „unter den Pannen“. Und wenn es im Winter schneite und stürmte, konnte er morgens Schnee auf seiner Bettdecke finden. Im Krieg wurden über die Hälfte der Häuser ausgebombt, danach notdürftig wieder zusammengeflickt. Bald waren viele der Häuser überaltert, verwahrlost. Niemand in Emden zog gern um nach Transvaal. 1978 sammelte Grigull als Gewerkschafter 87 Unterschriften, ging damit zum Oberbürgermeister, und sein Kampf um ein Sanierungsprogramm begann. 50 Millionen sind schließlich in den Stadtteil gepumpt und die meisten Häuser an deren Bewohner verkauft worden. Das Vorstadtidylle in rot und grün begann. Da lebte Otto längst in Hamburg und hatte die ersten Fernsehshows und Goldenen Schallplatten schon hinter sich. In seiner Zeit auf Transvaal war von Sanierung nicht die Rede. Von Vorstadtidylle auch nicht, sondern viel eher vom rundum verklinkerten Problem-Quartier. Heute steht in Emdens Zentrum, gleich an der Großen Straße, das „Otto-Huus“, das den Touristen die ganze Otto-Produktpalette anbietet: T-Shirts, CDs, Filme, Bücher, Kappen. Dort hängt neben dem Flipper im ersten Stock ein Foto aus dem Jahr 1964 von der Band „The Rustlers“ mit einem Fünfzehnjährigen an der Gitarre namens O. Waalkes. Oben, überm Eingang des Otto-Huus, bricht ein Ottifant, Ottos alter ego, durch die Klinkerfassade. Als der Fünfzehnjährige O. Waalkes seinen Namen in den roten Stein neben der Haustür ritzte, musste er noch zehn Jahre auf seinen Ausbruch warten. 1973, mit seiner ersten LP, war es so weit. Sie kämpfte sich rauf bis an Platz 1 der Charts, der Klinker war besiegt.

Der Artikel erschien, zusammen mit dem Gedicht von Otto Waalkes, in der „Welt“ vom 22. Juli 2008

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Keine roten Teppiche

Vor 50 Jahre kehrte Marcel Reich-Ranicki nach Deutschland zurück und popularisierte die Literaturkritik in nie dagewesenem Maße

Es wirkt wie eine Filmszene: Am 21. Juli 1958, heute vor fünfzig Jahren, steigt ein Mann im Bahnhof von Frankfurt am Main aus dem Zug. Er hat nur einen Koffer bei sich, eine Aktentasche und eine alte Schreibmaschine. Fast niemand in Deutschland kennt ihn. Aber die Deutschen werden ihn kennen lernen. Er hat nie eine Universität besucht, über Diplome oder Titel verfügt er nicht. Er hat keine Kontakte zu Verlagen oder Redaktionen, das kulturelle Leben der Bundesrepublik ist ihm fremd. Ja, er hat die vergangenen zwanzig Jahre in Polen verbracht und durfte bis vor kurzem nicht einmal Bücher oder Zeitschriften aus dem Westen lesen. Dennoch wird der Mann nur anderthalb Jahre später bereits einer der maßgeblichen, weithin anerkannten Literaturkritiker Deutschlands sein. Hätte man ihn, als er mit seinem spärlichen Gepäck über den Bahnsteig ging, nach seinem Namen gefragt, hätte er sich vermutlich als Marceli Ranicki vorgestellt. Vielleicht hätte er auch den Namen genannt, unter dem er 38 Jahr zuvor im polnischen Wloclawek geboren wurde: Marcel Reich. Doch zu Marcel Reich-Ranicki, als der er dann hierzulande zum gefeierten Pop-Star der Kritik aufstieg, wurde er erst wenige Tage später in der Redaktion der „Frankfurter Allgemeinen“. Dort saß er dem Feuilletonchef der Zeitung gegenüber, Hans Schwab-Felisch, um sich vorzustellen und ihm einen ersten Beitrag anzubieten. Der Artikel, das Porträt eines polnischen Schriftsteller, überzeugte Schwab-Felisch sofort, er wollte ihn drucken. In Polen habe er, berichtete ihm der neue Mitarbeiter daraufhin, unter dem Namen Ranicki geschrieben, sein wirklicher Name sei Reich. Wie solle er den Artikel unterzeichnen? Schwab-Felisch, schreibt Marcel Reich-Ranicki in seinen Erinnerungen, „reagierte prompt: Machen Sie es wie ich, nehmen die einen Doppelnamen, aber unbedingt erst den einsilbigen, dann den anderen – schon aus rhythmischen Gründen. Das leuchtete ein, ich zögerte nicht: Einverstanden, schreiben Sie: Marcel Reich-Ranicki.“ Wie lässt sich der blitzartige Aufstieg dieses Unbekannten in seiner Branche erklären? Ab August 1958 erscheinen die ersten Artikel von ihm in der FAZ, Ende September eröffnet die Zeitung mit einer seiner Rezensionen ihre Buchmessenbeilage. 1959 vertraut ihm die WELT Heinrich Bölls Roman „Billard um halb zehn“ zur Besprechung an und veröffentlicht eine Porträtserie von ihm über Schriftsteller aus der DDR, mit der er effektvoll den Vorhang zur Seite zieht vor einer ganzen deutschen Literaturlandschaft, die in der Bundesrepublik aus politischen Gründen kaum wahrgenommen wurde. Am 1. Januar 1960 schließlich gibt ihm die „Zeit“ die „Blechtrommel“ von Günter Grass zu Rezension, das wohl wichtigste deutschsprachige Buch des Jahrzehnts. Mehr kann ein Kritiker in so kurzer Zeit nicht erreichen. Dieser verblüffende Erfolg lässt sich letztlich nur durch die besondere Besessenheit und Intensität Reich-Ranickis verständlich machen. Im Selbststudium hat er als Schüler und später in Polen ein so immenses Wissen über Literatur, speziell deutsche Literatur erworben, dass es sich problemlos mit Wissenschaftlern messen kann, ohne je in einen wissenschaftlichen Jargon zu verfallen. Er verfügt über eine Eloquenz, die ihn, gepaart mit Schlagfertigkeit und bissigem Witz, zu einem Gesprächspartner macht, der allen, die ihm begegnen, im Gedächtnis bleibt. Er ist erfüllt mit einer unersättlichen Neugier auf Literatur und Literaten, die ihn immer neue Kontakte schließen und nie zur Ruhe kommen lässt. Zudem lässt sich Reich-Ranicki von nichts ablenken. Er will Literaturkritiker sein und sonst gar nichts. Während andere Großkritiker-Konkurrenten wie Friedrich Sieburg Biographien schreiben, sich wie Hilde Spiel, Walter Jens und Reinhard Baumgart als Romanciers versuchen oder als Lyriker wie Walter Höllerer, oder sich wie Joachim Kaiser zugleich als Musikkritiker betrachten, gibt es für Reich-Ranicki kein anderes Arbeitsgebiet, das ihn reizt. Was sicher dazu beiträgt, seinen Namen zunächst in der Branche, aber bald auch beim Publikum zu einem Markenzeichen zu machen für kenntnisreiche, oft polemische, nie langweilige Artikel über Literatur, über deutsche Literatur zumal. Als Reich-Ranicki an jenem 21. Juli 1958 den Frankfurter Bahnhof verließ, kam er zunächst bei seinem Onkel Leo Auerbach unter, der den Zweiten Weltkrieg als Bibliothekar der Französischen Fremdenlegion überlebt hatte. Seine Frau Tosia und der Sohn Andrew waren von Warschau aus als Touristen nach London geflogen, also in Sicherheit, aber vorerst mittellos. Ein Teil der Zielstrebigkeit, mit der Reich-Ranicki seine Karriere vorantrieb, rührte auch daher, dass er abgesehen von der Arbeit eines freien Literaturkritikers keine Möglichkeit sah, seine Familie zu ernähren. Wenige Wochen nachdem er in Frankfurt angekommen war, bezog er mit seiner Frau die erste eigene Unterkunft in Deutschland, in der Westendstraße 14: „Wir wohnten in Frankfurt“, schrieb er später, „in einem kleinen Zimmer zur Untermiete. Das war unser Wohn- Schlaf- und Arbeitszimmer. Einen Schreibtisch gab es dort nicht. Später meinten manche, zu unserer Begrüßung in der Bundesrepublik seien rote Teppiche ausgerollt worden. Das trifft nicht zu, wir haben es auch nicht erwartet.“ Sohn Andrew, der kaum deutsch, aber gut englisch sprach, blieb vorläufig noch in London und ging dort zur Schule. Doch bald schon mochte Friedrich Sieburg, der die Literaturredaktion der FAZ leitete, Reich-Ranicki als Mitarbeiter nicht mehr beschäftigen. Umso mehr bemühte sich die WELT und die „Zeit“ um ihn, beide Redaktionen waren in Hamburg. Also zog er Ende 1959 dorthin um, wo es für Andrew auch eine Internationale Schule gab, in der in Englisch unterrichtet wurde. Nun, anderthalb Jahre später, lebte die Familie wieder unter einem Dach: Sie bezog eine Zweieinhalbzimmer-Wohnung im Erdgeschoss eines Sozialbau-Blocks in Hamburg-Niendorf. Von hier aus schrieb er sich als Rezensent der „Zeit“ 14 Jahre lang immer stärker ins Bewusstsein des Landes hinein, in dem er bald als „Literaturpapst“ galt. Aus dieser Wohnung zog er erst wieder aus, als ihm die FAZ 1974 das Angebot machte, als einer der Nachfolger jenes Friedrich Sieburg, der ihm 1959 keine Aufträge mehr geben wollte, die Literaturredaktion der Zeitung zu übernehmen. Damit war Reich-Ranicki nicht nur Papst, sondern hatte auch einen Posten, der ihm großen Einfluss verschaffte. Er war nicht der Mann, sich diese Chance entgehen zu lassen. Niemand hat die Literaturkritik in Deutschland jemals so stark popularisiert wie er. Kein anderer Kritiker hat es verstanden, den Büchern mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen als er.

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„Als der Mond vom Himmel fiel“

 Anja Jardine erster Erzählungsband

Eine nicht mehr junge Frau hat eine Affäre mit einem Theaterregisseur. Wochen nachdem die beiden sich getrennt haben, sitzt die Frau in einem Hotelzimmer und weint wie seit Jahrzehnten nicht. Der alte Vorarbeiter einer Apfelplantage beobachtet, wie ein Paar ihre Liebe aus Feigheit zerstört und begreift, dass er vor Jahrzehnten ähnlich feige ein mögliches Glück verspielte. Eine Schülerin entdeckt, dass ihr Lehrer hinter der Fassade des genialischen Pädagogen eine lähmende, verzweifelte Einsamkeit verbirgt. In Anja Jardines Erzählungen geht es vorzugsweise um die verpasste Liebe, das versäumte Leben. Sie sind von hoher psychologischer Intensität und großer sprachlicher Eleganz. Anja Jardine gehört zu den besten Reporterinnen im deutschen Sprachraum. Sie ist eine Virtuosin darin, aus unspektakulären Stoffen, spektakulär schöne Geschichten zu machen. Wie sie in diesem ersten Erzählungs-Band die Fassungslosigkeit einfängt, die einen angesichts des unwiderruflich Verfehlten überfallen kann, ist hinreißend.

Amja Jardine: „Als der Mond vom Himmel fiel“. Erzählungen Verlag Kein & Aber, Zürich 2008 302 Seiten, 18,90 €

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Immer weniger Freiheit der Kunst

Maxim Billers „Esra“ ist nicht das einzige Buch, das bei Richtern auf zunehmende Verbotslust stößt. Kleine Bestandsaufnahme der neuesten Neigung zur Zensur

Die Freiheit der Kunst schrumpft. Diese Tatsache ist allein schon erstaunlich genug. Schließlich wird die Kunstfreiheit, die zum Tafelsilber jeder liberalen Gesellschaft gehört, vom Grundgesetz ohne Einschränkung garantiert. Trotzdem hat sie in jüngster Zeit spürbar Federn gelassen. Es sind die Gerichte, die sie Scheibchen für Scheibchen beschneiden und zurechtstutzen, sobald sie mit einem anderen Grundrecht in Konflikt gerät, dem Recht auf Schutz der Persönlichkeit und Intimsphäre. Das Thema ist umstritten wie kaum ein anderes. Selbst das Bundesverfassungsgericht, Deutschlands höchstes Rechtsorgan, ist sich seiner Sache nicht sicher, wenn es gilt, zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz abzuwägen. Als es 1971, im berühmten Verfahren gegen Klaus Manns Roman „Mephisto“, das Verdikt des Bundesgerichtshofes bestätigte, fiel seine Entscheidung denkbar knapp aus. Drei Richter plädierten für eine Freigabe des Buches, drei dagegen. Um das Verbot aufzuheben, wäre eine Mehrheit notwendig gewesen. Ähnlich beim jüngsten Urteil zu Maxim Billers Roman „Esra“: Fünf Richter sahen durch das Buch Persönlichkeitsrechte verletzt und untersagten seine Publikation. Immerhin drei Richter desselben Senats erklärten dieses Urteil ausdrücklich für einen „verfassungswidrigen Eingriff“ in die Grundrechte von Autor und Verlag und hielten ihren Kollegen vor, die Rechte der Literatur zu missachten. Die Verbotsverfahren laufen fast immer nach dem gleichen Schema ab. Ein Kläger glaubt sich in einer Roman-, Film- oder Theaterfigur wiederzuerkennen und fühlt sich verleumdet, da die Figur nicht in allen Zügen seinem positiven Selbstbild entspricht. Die Richter prüfen dann, wie groß die Ähnlichkeiten zwischen fiktiver Gestalt und realer Person sind und fällen typische „Je-desto“-Entscheidungen: Je negativer oder intimer eine Kunstfigur beschrieben wird, desto stärker muss sie gegenüber ihrem angeblichen Vorbild verfremdet sein. Früher galt das allerdings nur für den klassischen Schlüsselroman, dessen Held einer weithin bekannten Persönlichkeit zum Verwechseln ähnlich sieht, weshalb jedermann in der Romanfigur sofort die Karikatur des realen Menschen zu sehen glaubt. Durch das „Esra“-Urteil haben die Verfassungsrichter die Gewichte massiv zum Nachteil der Kunstfreiheit verschoben: Nun reicht es für eine Verurteilung bereits aus, wenn nur das enge Umfeld der Betroffenen Parallelen zwischen Fiktion und Wirklichkeit meint ausmachen zu können. Sicher, es hat gute Gründe, wenn die Justiz die Bürger davor schützen möchte, dass noch ihre privatesten Lebensumstände in die Öffentlichkeit gezerrt werden. Wie Boulevardzeitungen und Yellow Press mit prominenten oder auch ganz unbekannten Zeitgenossen umspringen, ist oft skandalös. Doch Romane, Dramen oder Filme sind keine Tatsachenberichte. Während Zeitungsartikel oder Sachbücher für sich in Anspruch nehmen, über Fakten zu informieren, werden in Kunstwerken Fiktionen entfaltet. Sie berufen sich ausdrücklich nicht auf Tatsachen, sondern auf die Fantasie ihres Schöpfers. Sachbücher oder Zeitungsartikel lassen sich an der Frage messen, ob sie Wahrheiten oder Unwahrheiten über reale Personen verbreiten. Mit der gleichen Frage an einen Roman heranzugehen, ist unsinnig, denn seine Handlung ist weder wahr noch unwahr, sondern erfunden. Natürlich gibt es immer unbedarfte Leser, die in einer Geschichte nur einen Abklatsch dessen sehen wollen, was der Autor erlebt hat – und so die eigentlich künstlerische, das Erlebnismaterial literarisch formende Leistung des Autors verkennen. Dieses Missverständnis ist so alt wie die Literatur selbst. Aber es ist nicht einzusehen, weshalb es der Literatur zur Last gelegt wird. „Wer eine Geschichte ‚wahr‘ nennt“, schrieb Vladimir Nabokov, „beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich.“ Doch vor Gericht finden Überlegungen wie diese wenig Gehör. Nicht zuletzt weil die Richter traditionell darauf verzichten, Gutachten von Kunst- oder Literatursachverständigen einzuholen. An Verbotsverfahren war in jüngster Zeit kein Mangel. So erlitt im Windschatten des Prozesses gegen „Esra“ der Roman „Meere“ von Alban Nikolai Herbst zunächst ein betrübliches Schicksal. Nach Bekanntwerden der ersten Urteile gegen „Esra“ glaubte eine ehemalige Freundin von Herbst sich in einer seiner Romanheldinnen wiederzuerkennen und bemühte das Berliner Landgericht. Auch sie wurde, wie die Klägerinnen gegen „Esra“, vom Autor im umstrittenen Buch nicht namentlich genannt, auch sie war keine landesweit bekannte Person, die sich als Figur für einen Schlüsselroman eignete. Doch hielt das den urteilenden Richter nicht davon ab, das Buch zu verbieten. Erst eine spätere Versöhnung zwischen Klägerin und Autor sorgte dafür, dass der Roman in überarbeiteter Form wieder erscheinen konnte. Bemerkenswert ist das Los des Kriminalromans „Das Ende des Kanzlers“ von Reinhard Liebermann. Das Buch beschreibt einen Ladenbesitzer, der die Unfähigkeit deutscher Politiker für den Niedergang seines Geschäfts verantwortlich macht und deshalb ein Attentat auf den Bundeskanzler plant. Es erschien im April 2004, Gerhard Schröder nahm Anstoß und das Hamburger Oberlandesgericht zog es aus dem Verkehr. Tatsächlich wird ein Kanzler namens Schröder im Roman erwähnt, aber nicht als Anschlagsopfer, sondern als dessen Amtsvorgänger. Geholfen hat das dem Buch nicht. Was für ein verheerendes öffentliches Signal es ist, wenn selbst der Regierungschef juristisch gegen Literatur vorgeht, liegt auf der Hand. Jüngst erst klagte ein ehemaliger SS-Offizier gegen die Autobiografie „Ein ganz gewöhnliches Leben“ von Lisl Urban, da er darin unter anderem seine Laufbahn im Zweiten Weltkrieg falsch beschrieben sah. Als sich herausstellte, dass sein Name auf der Liste der Offiziere jenes berüchtigten Polizeibataillons 101 geführt wird, dem Historiker die Ermordung von über 40000 Menschen in Polen zur Last legen, schmolz vor dem Leipziger Landgericht die Zahl der beanstandeten Passagen schnell zusammen. Ob das Buch damit gerettet ist, steht dahin. Kleine Verlage haben häufig nicht das Geld, ihren Kampf um beklagte Bücher bis vor höchste Richtertische zu tragen. Wenn Kläger auf dem Instanzenweg einen langen Atem zeigen, können sie mitunter selbst dubiose Einsprüche durchsetzen. Die zügig wachsende Bereitschaft, die Kunstfreiheit zugunsten des Persönlichkeitsschutzes einzuschränken, trifft aber nicht nur die Literatur, sondern auch das Theater. Im Oktober 2006 ging Ulrike Meinhofs Tochter Bettina Röhl gegen die Uraufführung des Stückes „Ulrike Maria Stuart“ der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek vor und konnte Änderungen der Inszenierung durchsetzen. Besonders bizarr ist ein Fall aus der Kinobranche. 2006 untersagte das Oberlandesgericht Frankfurt die Aufführung des Filmes „Der Kannibale von Rohtenburg“, da es der Mörder Armin Meiwes nicht hinnehmen müsse, dass auf der Leinwand ein Leben und Verbrechen gezeigt werde, das seinem Leben und Verbrechen weitgehend gleiche. Reportagen über den Prozess, die – im Gegensatz zum Film – Meiwes’ Namen nannten, blieben dagegen unbeanstandet. Die besondere Freiheit der Kunst verwandelt sich hier zur besonderen Unfreiheit: Tatsachenberichte sind erlaubt, der Rückgriff auf den gleichen Stoff mit künstlerischer Absicht dagegen ist verboten. Wie seltsam sich die Fronten bei solchen Prozessen verschieben können, zeigte auch der juristische Konflikt um den Fernsehfilm „Contergan“. Die ehemaligen Gegenspieler in der Contergan-Affäre, die Pharmafirma Grünenthal und der Opferanwalt Karl Hermann Schulte-Hillen gingen beide gegen die Ausstrahlung des Zweiteilers vor, da er aus ihrer Sicht nicht in allen Punkten den historischen Tatsachen entsprach. Doch das hatte letztlich wohl nur eine Dokumentation gekonnt, nicht ein Spielfilm. Es wäre naiv anzunehmen, dass allen, die sich an solchen Fällen beteiligen, allein der Schutz hehrer Persönlichkeitsrechte am Herzen liegt. Durch die zunehmende Verrechtlichung künstlerischer Arbeit werden zugleich lukrative Geschäftsfelder für entsprechend spezialisierte Juristen erschlossen. So reisten 2006 zwei Rechtsanwälte – einer davon aus München – in das rumänische Dorf Glod, in dem der Schauspieler Sacha Baron Cohen Teile seiner Filmsatire „Borat“ gedreht hatte. Sie einigten sich mit Dorfbewohnern, die als Statisten an Dreharbeiten beteiligt waren, darauf, dass deren Persönlichkeitsrechte durch ihre Rollen im Film verletzt worden seien. Die Anwälte reichten daraufhin gegen die Produktionsfirma eine Schadenersatzforderung von 30 Millionen Dollar ein. 50000 Euro Schmerzensgeld hat das Landgericht München Mitte Februar der Ex-Geliebten des Dichters Maxim Biller zugesprochen. Woher diese rapide wachsende Klageflut? Kann es sein, dass die moderne Allgegenwart der Medien hier eine paradoxe Wirkung entfaltet? Dass wir im Umgang mit ihnen nicht gewiefter geworden sind, sondern dümmer, und es verlernt haben, zwischen nüchterner Berichterstattung und den vertrackten Maskenspielen der Künste zu unterscheiden? Dass wir selbst da um die Authentizität unseres Abbildes fürchten, wo wir gar nicht gemeint sind? Doch mit der Kunstfreiheit ist nicht nur die Freiheit der Künstler in Gefahr, sondern auch die des Publikums. Was nicht gedruckt, aufgeführt oder gezeigt werden kann, kann auch nicht gelesen oder angeschaut werden. Umso verwunderlicher, wie wenig Beachtung das Verfahren gegen „Esra“ lange Zeit fand. Erst nach dem Verbot durch den Bundesgerichtshof schlugen einige Autoren und Schriftstellerorganisationen halblaut Alarm. Dabei ist die Freiheit der Kunst keine ein für allemal errungene Selbstverständlichkeit. Sie kann Stück für Stück verloren gehen. Sie braucht, wie die zunehmende Zahl der Verfahren zeigt, energische Verteidiger. Sie braucht Fürsprecher, die sie gegen simplifizierende Betrachtung (auch durch Gerichte) in Schutz nehmen.

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Ist es Wahnsinn? Ist es Glück?

Matthias Politycki reist um die Welt und braucht dazu 100 Tage länger als Jules Verne
Der heimliche Hauptdarsteller in Jules Vernes genialem Roman „Reise um die Welt in 80 Tagen“ ist die Zeit. Genau 115.200 Minuten hat sein englischer Held Phileas Fogg, um den Erdball zu umrunden. 1872, als der Verne das Buch publizierte, war das eine enorme verkehrstechnische Herausforderung. Der Roman erschien zuerst in einer Zeitung in täglichen Fortsetzungen, und die Leser begeisterten sich Folge für Folge nicht nur an Foggs Abenteuern, sondern eben auch an der Vorstellung, in welchem Maße sich das Reisen in der Moderne beschleunigte. Aber Verne war hellsichtig genug, den Preis jener touristischen Schnelligkeit nicht zu unterschlagen. Er beschrieb zugleich, wie sehr diese Weltumrundungs-Hetzjagd zur Parodie auf die traditionelle Bildungsreise wurde: „Fogg machte keine Reise, sondern beschrieb nur als physikalische Masse, angestoßen von einer Wette, einen Kreis um den Erdball nach den Gesetzen der Mechanik.“ Der heimliche Hauptdarsteller von Matthias Polityckis Roman „In 180 Tagen um die Welt“ ist die Zeitlosigkeit. Sein Held, der bayerische Finanzbeamte im mittleren Dienst Johann Gottlieb Fichtl wird durch einen Lottogewinn auf eines der elegantesten Kreuzfahrtschiffe aller Weltmeere versetzt, auf die MS Europa. Auf ihr reist er um die Erde und fällt dabei nicht nur komplett aus seinen bisherigen Leben, sondern auch aus jeder gewöhnlichen Zeitrechnung heraus: „Man hat Mühe“, schreibt er irgendwann in sein Logbuch, das wir als Polityckis Roman in Händen halten, „sich klarzumachen, ob man die Tage schon immer so verbracht hat oder ob man sie zukünftig immer so verbringen wird. Ist es eine sanfte Form von Wahnsinn? Oder reinstes Glück?“ Und etwas später: „Im Grunde wissen wir alle längst nicht mehr, welchen Wochentag wir gerade haben, wo wir vor einer Woche waren oder übermorgen sein werden, unser Schiff verschlingt die Zeit im Gleichlauf seines eigenen Rhythmus.“ Es ist ein großer Spaß, die Romane von Verne und Politycki nebeneinander zu lesen. Vielleicht werden die Literaturwissenschaftler irgendwann einmal von den „intertextuellen Bezügen“ zwischen beiden Büchern schwärmen, für den Leser sind die vielen kleinen Parallelen und gezielten Kontraste heute schon der Quell eines großes Vergnügen. So wie Phileas Fogg zu Beginn des Romans mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks seinen Londoner Club besucht, besucht Fichtl seinen bayerischen Stammtisch. So wie sich in Foggs Epoche der Moderne und des Glaubens an den technischen Fortschritts alles um Beschleunigung dreht, dreht sich auf Fichtls Luxusliner im Zeitalter der Postmoderne und des Wellness-Kults alles um Entschleunigung. So wie Fogg in Richtung Osten um die Erde rast und dabei kalendarisch einen Tag gewinnt, so lässt sich Fichtl von seinem Dampfer nach Westen um die Welt schippern und büßt dabei an der Datumsgrenze einen Tag ein. Und so wie Verne sein Buch zunächst als Fortsetzungsroman publizierte, stellte Politycki sein Buch Tag für Tag als Weblog ins Netz. Zu den wenigen Zugeständnissen, die Politycki während seiner tatsächlichen Umrundung des Erdballs als Schiffsschreiber auf der MS Europa zwischen November 2006 und Mai 2007 zu machen hatte, gehörte die Bedingung der einladenden Reederei, er dürfe keinen seiner realen Mitreisenden literarisch porträtieren. Mit Blick auf die juristischen Kräfteverhältnisse zwischen Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit in Deutschland war das wohl eine kluge Vorgabe. Sie sorgte dafür, dass Politycki das Logbuch seines Helden von Anfang an mit einem wunderlichen, sehr skurrilen und amüsanten Phantasie-Ensemble bevölkert. Da ist von einer millionenschweren Besitzerin eines Glückskeksimperiums bis zu einer Tierpsychologin samt im Haar nistender Meise, von einem russischen Oligarchen mit Nörgelallergie bis zu einem adligen Lektor mit auffälliger Neigung zu Bildungsvorträgen ein comicbuntes Personal an Bord. Es wird von der MS Europa um die Welt getragen wie in einer schillernden, unverwundbaren Seifenblase, in der die Figuren pausenlos umeinander kreisen und von keinem Problem des Planeten tangiert werden, zugleich aber die prächtigsten Aussichten genießen. Das Ganze hat natürlich, wie schon das Buch von Verne, kräftige satirische Züge. Worüber beschwert man sich auf einem Traumschiff, auf dem es schlicht an nichts fehlt? Darüber, dass die Kaviarportionen zu klein ausfallen, dass der Seegang nicht den Vorstellungen von ozeanischer Dramatik entspricht oder dass die Lieblings-Liegestühle schon wieder besetzt sind. Politycki ist ein Meister der gefundenen oder auch erfundenen Anekdote. Sein nur durchs Glück im Spiel unter die happy few geratenen Finanzbeamte Fichtl bestaunt als ein zeitgenössischer Simplicissimus die Riten der Reichen und der Superreichen – doch beschreibt er sie nicht mit Neid oder Zorn, sondern eher mit einer wilden Freude am Abwegigen und Kuriosen. Wer will, kann Fichtls Logbuch mit seinen täglichen Einträgen auch als eine Sammlung von Kolumnen lesen. Und wie alle guten Kolumnisten hat Matthias Politycki jede einzelne seiner Arbeiten mit zahllosen Einfällen, Pointen und Wortspielereien sowie mit Querverweisen auf frühere Einfälle, Pointen und Wortspielereien hochgradig angereichert. Derart dichte Texte eignen sich allerdings nicht gut dazu, in hohem Tempo gleich dutzendweise gelesen zu werden. Man sollte sie lieber in Ruhe und in wohl bemessenen Häppchen genießen wie sehr gehaltvolle Speisen. Besser, man legt Polityckis Roman zwischendurch immer mal aus den Händen, um zur Abwechslung wieder ein paar Seiten in Jules Vernes Roman weiterzukommen. In diesem Wechsel können beide zusammen eine ebenso erheiternde wie die Gegensätze zwischen den Jahrhunderten erhellende Urlaubslektüre abgeben.

Matthias Politycki: „In 180 Tagen um die Welt“. Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl Mare Buchverlag, Hamburg 2008 390 Seiten, 24,90 €

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