Karl Heinz Bittel hat eine Menge Erfahrungen mit Schriftstellern und daraus jetzt seinen ersten Roman gemacht.
Seine Frau, erzählt Karl Heinz Bittel, stelle ihn anderen Leuten neuerdings gern als den „Dichter Karl Heinz Bittel“ vor. Die Verleihung dieses weihevollen Titels ist dann natürlich Teil eines halb achtungsvollen, halb ironischen Spiels unter Eheleuten. Aber im Grunde spricht wenig dagegen, Bittel mit ganzem Ernst so zu nennen, denn er hat jetzt seinen ersten Roman veröffentlicht: „Eine Art Verrat“. Allerdings widerspricht Bittel, sobald seine Frau ihn mit der neuen Standesbezeichnung umkränzen möchte. „Ein Dichter“, sagt Bittel, „kann nicht leben, ohne zu schreiben.“ So große Bedeutung habe das Schreiben für ihn nicht: „Ich kann auch anders. Nachweislich.“ Karl Heinz Bittel ist Lektor. Ein Büchermensch war er schon immer, ein Verlagsmensch ist er erst relativ spät geworden: Er arbeitete zuvor im Münchner Kulturdezernat und hatte den 40. Geburtstag hinter sich, als er seine neue Aufgabe beim Albrecht Knaus Verlag antrat. Solche ungeraden Lebens- und Laufbahnen sind unter Lektoren nichts Ungewöhnliches. Schließlich gibt es für ihren Beruf keinen festgelegten Ausbildungsgang, sondern nur die jeweils selbst gebahnte Wege, die bei dem einem mal mehr, bei dem anderen mal weniger direkt zum Ziel führen. Das ist wohl auch gut so, denn was ein Lektor neben der Leidenschaft fürs Büchermachen und möglichst umfassenden Kenntnissen zur Literatur am dringendsten braucht, ließe sich ohnehin schwer lehren. Zum einen nämlich die Fähigkeit, sich immer wieder neu auf die Eigentümlichkeiten, kleinen Schwächen und großen Eitelkeiten jedes einzelnen Schriftstellers einzustellen – und zu dieser Berufsgruppe gehören bei Gott nicht eben die holdseligsten Charaktere. Zum anderen, das diplomatische Geschick, die Bedürfnisse der Schriftsteller mit den Bedürfnissen der Verleger in Einklang zu bringen, die ebenfalls nicht zu den durch und durch rationalen, unkomplizierten Wesen gehören – denn sonst würden sie vermutlich Schraubenfabriken und nicht Buchverlage leiten. Wie weit es Bittel in der hohen Schule dieser Diplomatie gebracht hat, ahnt man, wenn man liest, wie klar und dennoch schonungsvoll er einmal die Aufgaben seiner Tätigkeit umrissen hat. Die Rolle des Lektors sei, schreibt er, „hoch ambivalent. Er ist dem Autor und dem Verlag in gleicher Weise zur Loyalität verpflichtet. Deren Interessen scheinen allenfalls dem oberflächlichen Betrachter identisch. Sie sind es nicht: Auf der einen Seite regiert der literarische Eigensinn, auf der anderen Seite herrscht das ökonomische Kalkül. Sie standardisierten Abläufe der Verlagsproduktion kollidieren nur allzu leicht mit der künstlerischen Emphase und der ihr innewohnenden Maßlosigkeit auf Seiten des Autors.“ Kaum hatte Bittel 1988 seine Verlagsarbeit angetreten, lernte er den wichtigsten Autor des Verlages kennen, Walter Kempowski, der in der Zusammenarbeit zugleich als einer der gelinge gesagt schwierigen galt. Und der kündigte ihm noch am gleichen Abend das aufwendigste, umfangreichste, wirtschaftlich fragwürdigste Projekt seiner Karriere an. Kempowski hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Wochen der Schlacht um Stalingrad als die entscheidende Wende des Zweiten Weltkriegs aus den Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Lebensberichten und Fotos unbekannter Menschen jener Jahre zu rekonstruieren. Es solle ein mehrere tausend Seiten umfassender gewaltiger Chor alltäglicher Stimmen werden, die in der üblichen Geschichtsschreibung zumeist übergangen werden. Auch einen Titel für das Großunternehmen hatte er schon: „Echolot. Ein kollektives Tagebuch“. Bittel war begeistert. Er ahnte sofort, welche literarischen und intellektuellen Qualitäten dieses Mammutprojekt haben konnte. Aber er stand noch so sehr am Anfang seiner Karriere als Lektor, dass er daneben nicht auch ahnte, welche Schwierigkeiten damit auf ihn zukommen würden. „Wie viele tausend Seiten?“ wurde er im Verlag gefragt. „Und keine Zeile von Kempowski? Nur Zitate? Wer soll das kaufen?“ Solche ungläubige Sätze hörte Bittel von nun an noch sehr lange. Einerseits weil Kempowski fünf Jahre brauchte, um das Manuskript zusammenzustellen, das sich zu einem Halbmeter hohen Papierstapel auswuchs. Andererseits weil der Knaus Verlag ein Teil des Medienkonzerns Bertelsmann ist, in dem sich innerhalb jener fünf Jahren das Personalkarussell gleich mehrfach so heftig drehte, das Bittel in schöner Regelmäßigkeit neuen Vorgesetzen gegenübersaß. Denen hatte er das Vorhaben jeweils zu erläutern, um dann die inzwischen vertrauten, scharfsinnigen Fragen zu hören: „Das ist also gar kein richtiger Roman? Keine Zeile von Kempowski? Wer soll denn das kaufen?“ Erfahrungen wie diese sind gar nicht so selten im Leben eines Lektors. Schriftsteller verlieben sich tatsächlich immer wieder gern in die Idee, Unmögliches zu versuchen. Verlage aber sind, aller Begeisterungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter zum Trotz, letztlich eben doch wie Schraubenfabriken in erster Linie darauf ausgerichtet, Mögliches auf den Markt zu bringen. Was diesen speziellen Fall von so vielen anderen unterscheidet, ist, das er mit einem Triumph des Autors – und an seiner Seite auch des Lektors – endete. Kempowskis monströses, 300 Mark teures „Echolot“ verkaufte sich in wenigen Wochen 25.000mal und wurde so zu einem spektakulären Erfolg. Dennoch wäre es falsch, Bittel für den Mut und die Energie zu bewundern, mit der er dieses scheinbar aussichtslose Vorhaben im Verlag durchkämpfte. Bewundern muss man ihn und seine Kollegen vielmehr für den Mut, mit denen sie sich für jene Projekte ihrer Autoren einsetzten, die sich im Nachhinein als erfolglos herausstellen. Denn man kann sich leicht vorstellen, wie ihnen nach solchen Niederlagen all die nüchternen Köpfe im Verlag begegnen, die zuvor schon vor dem absehbaren Fehlschlag gewarnt und die beliebte Frage stellten: „Wer soll das denn kaufen?“ Schlägt man Karl Heinz Bittels Roman auf, ist man nicht wirklich überrascht, wenn auch der von Schriftstellern samt ihren spezifischen Eigenarten handelt. Bittel erzählt, ohne die Namen der historischen Personen zu benutzen, von den Emigrationsjahren Thomas Manns, also einem ebenso dramatischen wie traumatischen Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. Vor allem dem prekären Verhältnis zwischen Thomas Mann und seinem ältesten Sohn Klaus spürt er nach. Klaus Mann hatte gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 im Amsterdamer Verlag Querido „Die Sammlung“ gegründet, eine Zeitschrift, die er zum literarischen, aber auch politischen Sprachrohr der aus Deutschland geflohenen Schriftsteller gegen das Nazi-Regime machen wollte. Auch dieses Unternehmen war, da die Zeitschrift naturgemäß in Hitlers Deutschland nicht verkauft werden durfte, unter verlegerischen Gesichtspunkten ein unmögliches Projekt. Doch Klaus Mann verließ sich nicht zuletzt auf die Anziehungskraft des Namens seines Vaters, der seine Mitarbeit an der „Sammlung“ zugesagt hatte. Doch gerade als das erste Heft erschien, versuchte der S.Fischer Verlag den ersten Teil von Thomas Manns Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ in Deutschland auf den Markt zu bringen und drängte den Autor deshalb, sich von der Zeitschrift seines Sohnes öffentlich zu distanzieren. Thomas Mann tat das mit Rücksicht auf die Absatzchancen seines neuen Buches tatsächlich, was sein Sohn verständlicherweise sowohl in politischer wie persönlicher Hinsicht als „eine Art Verrat“ empfand. Doch nicht allein dieses, von vielen Biographen bereits erzählte Kapitel aus der Familiengeschichte der Manns macht Bittels Roman zu einem bemerkenswerten Stück Literatur. Vielmehr erweist sich Bittel zum einen als begabter Stimmimitator, der sein Buch über Thomas Mann in der Tonlage Thomas Manns zu schreiben versteht. Zum anderen hat er den Figuren seines Romans die Namen aus Thomas Manns Erzählung „Unordnung und frühes Leid“ gegeben – und erinnert den Leser damit an einen viel früheren, vermutlich viel schmerzhafteren Verrat, den der Vater an seinem Sohn verübte. In dieser Erzählung nämlich, die 1925 erschien als Klaus gerade 19 Jahre alt war, berichtet Thomas Mann fast so ungeschminkt wie Bittel es heute tut, vom Leben mit seinen Kindern. Als Vater warf er darin einen gnadenlos kalten Blick auf seinen Sohn, hier Bert genannt, und auf dessen Absichten, Schauspieler zu werden. „Mein armer Bert“, ließ Thomas Mann den Patriarchen seiner Geschichte denken, „der nichts weiß, und nichts kann und nur daran denkt, den Hanswursten zu spielen, obgleich er gewiss nicht einmal dazu Talent hat!“ So sind sie – führt uns Bittels Roman vor – so sind die großen Dichter, die nicht leben können ohne zu schreiben, schaut sie euch an: Jeder wird vor ihren Augen zu Material für ihr Werk und jeder wird allein unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob er dem Werk nützt oder ob er ihm schadet. Schön ist das nicht für die Menschen in ihrer Umgebung, schön ist nur ihr Werk.
Karl Heinz Bittel „Eine Art Verrat“. Roman
Osburg Verlag, Berlin 2008 298 Seiten, 19,95 €