„Teenage“

Jon Savage beschreibt die Kulturgeschichte eines altersbedingten Aufbegehrens

Jugendrevolten, wie sie derzeit griechische Städte und die griechische Regierung erschüttern, sind zeithistorisch betrachtet keine Seltenheit. 2005 brodelte es in den Banlieues von Paris, Marseille und Straßburg bis Präsident Chirac den Notstand ausrief. 2001 schlugen die Jugendproteste gegen den G8-Gipfel in Genua in blutige Krawalle um. 1992 tobten die Rodney-King-Roits in Los Angeles. 1981 sorgten in Berlin-Kreuzberg junge Hausbesetzer für Straßenschlachten – was in den folgenden Jahren zu einer Art fester Mai-Folklore wurde. 1980 eskalierte der Streit um ein selbstverwaltetes Jugendzentrum in Zürich zu sehr uneidgenössischen Ausschreitungen. Kurz zuvor erlebte Amsterdam Zusammenstöße zwischen Polizei und „Kraakern“, die leeren Wohnraum besetzten. An Beispielen ist kein Mangel. Auch die Studentenbewegung, die 1968 von Mexiko und den USA über Frankreich und Deutschland bis nach Japan den Globus umrundete, war vor allem ein Aufstand der Jugend. Nicht unbedingt der Auslöser, aber doch ein Katalysator und Verstärker der Krawalle ist oft der gewaltsame Tod eines der Rebellen. Ihre Namen nehmen schnell den Klang von Märtyrern an, wie der des 15jährigen Alexandros Grigoropoulos jetzt in Griechenland. Ähnlich ging es den beiden Halbwüchsigen, die 2005 bei einem Pariser Transformatorenhäuschen ums Leben kamen, dem in Genua getöteten Carlo Guiliani, dem misshandelten Rodney King, dem vom BVG-Bus überfahrenen Klaus-Jürgen Rattay 1981 in Berlin und dem 1967 vor der Deutschen Oper erschossenen Benno Ohnesorg. Neben den wechselnden politischen Ursachen spielen hier auch psychologische eine erhebliche Rolle. Das Aufbegehren gegen die elterliche oder auch gesellschaftliche Autorität gehört, wie sich inzwischen in jedem Erziehungsratgeber nachlesen lässt, zu den Vorrechten, wenn nicht gar Pflichten der Jugend. Doch noch vor hundert Jahren war diese Einsicht, wie man jetzt in dem klugen und materialreichen Buch „Teenage“ des britischen Kulturhistorikers und Popmusikkritikers Jon Savage nachlesen kann, alles andere als selbstverständlich. Erst die Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts entdeckten, was Savage nicht erwähnt, die Kindheit als eine kostbare Lebensphase mit eigenen Rechten. Zuvor wurden Kinder üblicherweise als noch unverständige, nicht ausgereifte Erwachsene behandelt, die diese Mängel mit zunehmendem Lebensalter abzulegen hatten. Erst Ende des 19. Jahrhunderts lernten Psychologen und Pädagogen dann die Jugend als sinnverwirrende, oft dramatische Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter zu begreifen. Savage beruft sich in „Teenage“ vor allem auf den amerikanischen Psychologen G. Stanley Hall. Er nennt dessen 1904 erschienenes Buch „Adolescence“ ein „weitsichtiges Manifest“ der erst sehr viel später entstandenen Jugendkulturen der westlichen Welt. Tatsächlich war die Lebensphase, in der Jugendliche der Fürsorge ihrer Eltern entwachsen und sich eigene Positionen erobern müssen, wohl immer ein erheblicher gesellschaftlicher Unruhefaktor. Doch wurde der in vormodernen Zeiten nicht zuletzt durch die häufigen Kriegszüge gedämpft, die den männlichen Nachwuchs zahlenmäßig reduzierten und ihm zugleich die Chance auf rasche soziale Anerkennung als Militärheld eröffneten. Zudem war die Lebenserwartung damals geringer – die Alten traten früher ab und machten so Platz für die nachdrängende Generation. Dennoch ist dies ein zeitloser Konflikt, der tiefe, archetypische Spuren im Seelenhaushalt hinterlassen hat. In seinen kulturhistorischen Schriften beschreibt ihn Sigmund Freud gern am Bild der Urhorde, in der das stärkste Männchen unumschränkt herrscht und alle Weibchen für sich beansprucht – bis es Schwächen zeigt und seine bislang gedemütigten Söhne über ihn herfallen und ihn verspeisen. Vielleicht verbirgt sich hier ein Erklärungsmuster dafür, weshalb moderne Jugendrevolten gerade dann so oft eskalieren, wenn die staatliche (psychologisch gesprochen: die väterliche) Autorität einen der Aufbegehrenden tötet. Auch der Urvater räumte den männlichen Hordennachwuchs gelegentlich aus dem Weg, um mögliche Konkurrenten frühzeitig auszuschalten, was für die bedrohten Söhne das ultimative Signal gewesen sein dürfte, die Entscheidungsschlacht gegen den Übervater zu suchen. Literarischen Spuren einer ersten Jugendrevolte darf man wohl im deutschen „Sturm und Drang“ sehen. Für Savage liest sich Goethes „Werther“ wie ein Songtext der britischen Indie-Rock-Band The Smith. Die große Zeit der Generationskonflikte begann allerdings erst Ende des 19. Jahrhunderts. Mit den Fortschritten der Technik, der Demokratisierung und der sozialen Mobilität verlieren Religionen und Traditionen immer mehr an Bedeutung: „Vormals war die Jugend“, schreibt Savage, „ein maßgeblich von Erwachsenen definierter Zustand gewesen“. Doch nun will sie mit eigener Stimme sprechen: „Es war das goldene Zeitalter der Manifeste. Eine stürmische Jugendbewegung nach der anderen tat ihre Existenz in Form überschäumender Aufrufe kund“. Worauf väterlichen Skeptiker sie umgehend in ihre gesellschaftlichen Schranken zu verweisen versuchten – und der Streit zwischen antibürgerlichen Rebellen und konservativem Establishment in die nächste Runde ging. Savages Aufzählung von Jugendbewegungen, die den Ausbruch probten aus den angeblich oder tatsächlich beengten Lebenshorizonten ihrer Eltern, ist lang: Er beschreibt die europäischen Wandervögel und Neuheiden, die amerikanischen Nickelodeons und Freshmen, das Partyleben der British Young People in der Zwischenkriegszeit und die Sheiks und Flappers, Jitterbugs und Ickies in den USA vor dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Grundstimmung ist zumeist liberal bis hedonistisch, sie sehnten sich danach, mit den modischen, musikalischen und vor allem sexuellen Konventionen der Alten zu brechen. Doch andererseits gelang es totalitären Parteien wie den Nationalsozialisten, den Aufbruchswillen der Heranwachsenden und ihr Ressentiment gegen das Überkommene in Organisationen wie der Hitlerjugend für sich nutzbar zu machen. Das sollte angesichts von spontanen Jugendkrawallen wie denen in Griechenland nicht vergessen werden: Nie sind Teenager gefährlicher, als wenn sie in straff geführten Verbänden von Demagogen unter Kontrolle gebracht werden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt, glaubt man Savage, die Sprengkraft der Jugendbewegungen jedoch wieder ab. Der Kapitalismus hat wirksame Mechanismen entwickelt, mit denen er jeden Trend, jede Mode, jede Subkultur umgehend und effizient vermarktet und also für sich vereinnahmt. Weshalb für hartnäckige Rebellen die Konsumverweigerung als Gammler, Hippie oder Punk zum letzten Mittel des Widerstandes wird. Oder eben der gewaltsame Protest, der effektvolle Fernsehbilder produziert und so in Demokratien vorübergehend politischen Einfluss gewinnt. Der aber schon wegen der ungleichen Kräfteverhältnisse zwischen Jugend und Ordnungsmacht immer auf kleine städtische Bereiche beschränkt bleibt und allein nie fundamentale Machtfragen zu stellen in der Lage ist.

Jon Savage: „Teenage“. Die Erfindung der Jugend (1875-1945) Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008 522 Seiten, 29,90 €

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„Du sollst Bestie sein!“

 Massaker, Märsche, Morde: Uzodinma Iweala erzählt vom Schicksal eines afrikanischen Kindersoldaten
Leid lässt sich nicht rezensieren. Vor dem Elend verstummt das ästhetische Urteil. Einem Bericht über erlittene Qualen wird man nicht gerecht mit Fragen nach der Sprach- oder literarischen Gestaltungskraft des Autors, sondern durch Mitgefühl, Respekt und Empörung über die Ursachen der Qual. Etwas anderes ist es, wenn die geschilderten Leiden der Imagination des Autors entspringen, wenn der Autor sich in die Lage eines Erniedrigten und Gepeinigten hineinversetzt hat, um von dessen fiktivem Unglück zu erzählen. Auch dann kann das Ausmaß des Leids den Leser fassungslos machen. Doch da es sich nicht um einen Erlebnisbericht handelt, sondern um ein Kunstwerk, liegt es sehr viel näher und ist nicht deplatziert, nach der Machart, nach den literarischen Qualitäten der Geschichte zu fragen. Uzodinma Iwealas Roman „Du sollst Bestie sein!“ ist nur sehr schmal, aber randvoll mit Schrecken, Gewalt und Grausamkeit. Iweala wurde 1982 in den Vereinigten Staaten als Sohn nigerianischer Eltern geboren. Sein Vater ist Arzt und arbeitet in Washington. Seine Mutter Ngozi Okonjo-Iweala war Vizepräsidentin der Weltbank, zwischen 2003 und 2006 Finanz-, bzw. Außenministerin Nigerias und kehrte inzwischen zur Weltbank zurück. Der heute 25-jährige Uzodinma ist in Amerika aufgewachsen, kennt Afrika von Reiseaufenthalten, hat in Harvard einen Abschluss in Englische Literatur gemacht und studiert zurzeit in New York Medizin. Kurz: Uzodinma Iweala ist ein hochbegabter junger Mann, der zudem das Glück hat, exzellente Schulen mit großartigen Lehrern besuchen zu können – bei der Arbeit an seinem Roman beriet ihn unter anderem die Schriftstellerin und Harvard-Professorin Jamaica Kincaid. Er wirkt auf seiner Lesereise durch Deutschland trotz seiner Jugend sehr professionell, fast routiniert. In den Vereinigten Staaten kam das Buch 2005 heraus, es liegt für Iweala schon eine ganze Weile zurück, man spürt das. Er sei, sagt er, neugierig auf Deutschland, und antwortet dann abgeklärt auf die Fragen zu seinem Roman. Er hat etwas von der früh erworbenen Weltläufigkeit des Diplomatenkindes. Ein schärferer Kontrast als der zu dem Helden seines Buches ist schwer vorstellbar: Agu ist in etwa zehn Jahre alt, wächst in einem Bauerndorf eines nicht näher benannten afrikanischen Landes auf und besucht die dortige Zwergschule. Ein plötzlich aufflammender Krieg reißt die Familie auseinander: Mutter und Schwester müssen fliehen, der Vater wird von marodierenden Rebellen erschossen und Agu von dem nächstbesten, ebenfalls marodierenden Soldatenhaufen zwangsrekrutiert. Was dann folgt, ist definitiv nichts für Leser mit zartem Gemüt. Agu wird von dem Kommandanten des Trupps, in den er geraten ist, zum Kämpfen und Töten abgerichtet. Zu Anfang zögert Agu und der Kommandant muss ihm, als das erste Opfer wehrlos vor ihm kniet, buchstäblich die Hand führen: „Kill ihn, sagt der Kommandant in mein Ohr und hebt meine Hand mit der Machete hoch. Kill ihn. Der Feind sagt zu mir, bitte töte mich nicht. Bitte. Gott wird dich dafür segnen. Und bei jedem Wort spuckt er Spucke und Blut überallhin. Dann pinkelt er und kann gar nicht mehr aufhören. Siehst du diesen Mann, sagt Kommandant. Schau ihn dir an. Er ist nicht mal ein Mann. Der bepisst sich wie ein Schaf, wie eine Ziege, wie ein Hund. Er nimmt meine Hand und schlägt mit ihr so hart auf den Kopf vom Feind, und mein ganzer Körper fühlt sich an, wie wenn Strom durchgeht. Der Mann schreit, AJEEII!, lauter als das Geräusch von Kugel, und dann hält er sein Kopf, aber das hilft nichts, weil sein Kopf platzt auf und Blut läuft raus wie Milch aus Kokosnuss.“ Auf diese Weise geht es für Agu von nun an weiter. Sein Leben verwandelt sich in einen endlosen Albtraum aus LKW-Fahrten, Märschen, Überfällen und Massakern, aus katastrophaler Ernährung, permanentem Hunger und Nächten im Morast. Als sei das des Entsetzlichen noch nicht genug, pflegt der Kommandant ihn oder einen anderen Kindersoldaten seiner Truppe außerdem noch jeden Abends an seine Pritsche zu befehlen, um ihn zu vergewaltigen. Für Agu versinkt alles in einem großen Wirbel des Grauens, er lebt wie in einem Fieberwahn, aus dem er sich in Erinnerungen zu retten versucht an die heile Welt in seinem Heimatdorf vor dem Krieg. Es ist unmöglich, von all dem nicht bestürzt und schockiert zu sein. Zumal man sich als Leser bei jeder Seite des Romans darüber klar sein muss, dass es in der Realität verzweifelt viele Beispiele für ein Schicksal wie das Agus finden lassen. Nach Schätzungen von Terre des hommes und der UN werden gegenwärtig weltweit 250.000 zwangsrekrutierte Minderjährige von regulären Armeen oder Rebellengruppen unter Waffen gehalten. Allein zwischen 1990 und 2000 sind etwa 2 Millionen Kindersoldaten gefallen. Aus politischer Sicht ist das Buch, da es den Blick auf diese katastrophalen Tatsachen lenkt, auf jeden Fall verdienstvoll. Bleibt die Frage nach seiner literarischen Machart. Iweala hat für seinen Helden, aus dessen Perspektive er den ganzen Roman erzählt, eine eigenwillig beschränkte Sprache erfunden, eine Art Mixtur aus Pidgin und Kindersprache. Sie hat im englischen Original zudem einen leise hörbaren Rhythmus, den Iweala, wie er erzählt, bei Besuchen in Nigeria unter Halbwüchsigen aufgeschnappt hat – von dem aber in Marcus Ingendaays Übersetzung ins Deutsche leider nur wenig zu spüren ist. Eine derart reduzierte Sprache wirkt allerdings sehr schnell dürftig. Es sei denn, dem Autor gelingt es, ihr eine besondere, überraschende Poesie abzugewinnen, indem er trotz dürrem Vokabular und unbeholfener Grammatik Wahrnehmungen und Empfindungen mit großer Anschaulichkeit zu vermitteln versteht. Doch solche Höhenflüge sind in Iwealas Roman selten. Natürlich liefert die Geschichte eindrucksvolle Splatter-Effekte, doch daneben bleibt das, was über Agus Lebensbedingungen und sein Gefühle berichtet wird, undifferenziert und matt. Nüchtern betrachtet erfährt man über die Zeit, die Agu als unfreiwilliger Kämpfer seines Kommandanten verbringt, fast nichts. Obwohl er dessen Trupp nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, scheint er zu keinem der Soldaten irgendeinen nennenswerten Kontakt aufzubauen. Von zwei, drei Fällen abgesehen, tragen die Männer, mit denen Agu sein Schicksal teilt, für den Leser nicht einmal Namen. Sie werden allenfalls als Schemen sichtbar. Von der Kunst, Nebenfiguren mit einigen wenigen Strichen zu charakterisieren und so das soziale Umfeld, in dem sich der Romanheld bewegt, näher auszuleuchten, scheint Iweala wenig zu halten. Kommt hinzu, dass man als Leser zwar immerzu um Leib und Leben des bedauernswerten Kindersoldaten Agu fürchten muss, erstaunlicherweise aber nie um dessen ethische Grundsätze. Sicher, irgendwann einmal versucht er sich an einer kindlich verqueren Rechtfertigung seines mörderischen Treibens: „Ich bin nicht böser Junge. Ich bin Soldat, und Soldat darf das, töten. Das sag ich mir, weil Soldat muss killen, killen, killen. Deshalb, wenn ich kill, mach ich nur, was richtig ist.“ Doch schon im nächsten Satz spricht Agu dann wieder von den vielen „Stimmen in meinem Kopf, die sagen, ich wär böser Junge.“ Sein Gewissen lässt ihm keine Ruhe, gleichgültig wie inhuman seine Lebensumstände sind. Im Grunde weiß er genau, dass er nicht töten dürfte. Lediglich durch „Gun-Juice“, eine aufputschende, enthemmende Droge, die der Kommandant seinen Leuten vor Gefechten verabreicht, ist er zu seinen grauenvollen Taten bereit und fähig. Inmitten barbarischer Landsknechte wirkt Agu deshalb wie ein in seinem guten Kern letztlich unantastbarer Unschuldiger. Nichts ist zu spüren von der sonst so verbreiteten Freude halbwüchsiger Knaben am Kampf, nichts von einer Faszination durch Waffen oder Macht, nichts von einer zunehmenden Abstumpfung und Verrohung durch das Zusammenleben mit einer Soldateska, die kaum ein Verbrechen auslässt. Der Roman bekommt damit, trotz der Ströme von vergossenem Blut, etwas Verharmlosendes und Traktathaftes. Agu scheint noch die schrecklichsten Erfahrungen zu überstehen, ohne selbst zu einem schrecklichen Menschen zu werden. Vielleicht ist eben das ein Baustein für den Erfolg dieses Buches: Man möchte als Leser nur zu gern daran glauben, dass Kinder durch die Hölle gehen könnten, ohne dass ihre Seele ernstlich Schaden nimmt. Iwealas Roman kommt dieser Sehnsucht weit entgegen. Sicher, das Buch zu lesen ist erschütternd, aber dennoch zugleich trostreich. Man spürt, dass Agu Bestie sein soll und ist sich trotzdem jederzeit sicher, dass er es niemals sein wird.

Uzodinma Iweala: „Du sollst Bestie sein!“ Aus dem Englischen übersetzt von Marcus Ingendaay Ammann Verlag, Zürich 2008 155 S., 18,90 €

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„Anatolin“

Hans-Ulrich Treichel tänzelt auf der Grenze zwischen Tragödie und Komödie
Damals, als Literatur und Engagement gern wie zwei Seiten der selben Medaille betrachtet wurden, damals, als der Wunsch zu schreiben und der Wunsch, die Welt zu verbessern, für viele untrennbar verbunden schien, sorgte der unermüdliche Störenfried Jean Genet für eine wunderbare Provokation: Er wolle, verkündete er, dass die Welt so schlecht bleibe, wie sie ist, damit er weiter gegen sie sein und weiter gegen sie anschreiben könne. Mangel und Leid sind das Material der Schriftsteller, das sie in Literatur verwandeln und zugleich der Motor, der sie beim Schreiben antreibt. In einer idealen Welt gäbe es wohl keinen Anlass für Literatur. Diese kleine dialektische Denkfigur wendet Hans-Ulrich Treichel in seinem Roman „Anatolin“ aus dem Politischen ins Persönliche und Biographische. Der Held und Ich-Erzähler seiner Geschichte ähnelt ihm wie ein Ei dem anderen und darf dennoch nicht mit ihm verwechselt werden. Er hat (wie Treichel) einen erfolgreichen Roman geschrieben über die heimliche Suche seiner Eltern nach ihrem ersten Sohn, der auf der Flucht vor den Russen während der Endphase des Zweiten Weltkriegs verschwand. Er ist (wie Treichel) im ostwestfälischen Versmold aufgewachsen und litt dort unter seinen arbeitssüchtigen, kaltherzigen Eltern, die ihrerseits unter dem Verlust ihres ersten Sohnes, ihrer Heimat, ihres gesamten Besitzes litten und alles Vergangene folglich hilflos beschwiegen. Er klagt deshalb (wie Treichel) über ein Gefühl der Wurzellosigkeit, über eine fast zwanghafte Abwehr gegen alles Vergangene und also letztlich über die Unfähigkeit, in den Ereignissen, die ihm zustoßen, so etwas wie seine Lebensgeschichte zu sehen. Natürlich ist Treichels Held klug genug zu wissen, dass sich das alles nicht nur reichlich seltsam anhört, sondern kaum noch von einer handfesten Neurose zu unterscheiden ist. Allerdings beschäftigt er sich in den Büchern, die er schreibt, seiner lauthals verkündeten Abneigung zum Trotz, unermüdlich mit dem Vergangenen. Er arbeitet also in seinen Romanen daran, seine neurotische Abwehr zu überwinden, sich selbst seine Lebensgeschichte gleichsam vorzubuchstabieren und darf das Schreiben folglich als eine Art fortgesetzte Selbsttherapie betrachten. Auch in „Anatolin“ steckt ein solches Kapitel psychischer Selbsthilfe. Die Hauptfigur des Romans, die Treichel so täuschend ähnlich sieht, reist mit der Bahn nach Polen, um das Heimatdorf seiner Mutter zu sehen. Auch den Geburtsort seines Vaters, ein abgelegener Flecken irgendwo in der Ukraine, hat er schon besucht. Im Grunde weiß er nicht, was er in diesen verschlafenen Nestern soll, in denen fast alle Erinnerungen an die ehemaligen deutschstämmigen Siedler getilgt sind und kämpft wie immer mit seiner reflexhaften Aversion gegen alles, was mit seiner Vergangenheit zu tun hat. Er versucht sich auf diese Weise jene Familien-Vorgeschichte, von der seine Eltern beharrlich schwiegen, anzueignen und so eine Grundlage für die eigene Lebensgeschichte zu schaffen. Tatsächlich überkommt ihn am Rande jenes polnischen Dorfes, aus dem seine Mutter stammt, ungewohnter Frieden: Er legt sich in eine sonnenbeschienene Mulde und schlummert wohlig auf warmer Muttererde ein. Wenige Augenblicke später jedoch erwachte er verschwitzt und verlässt den Ort fast wie in Panik. Treichels Held ist viel zu klug, als dass er sich der schönen Hoffnung hingäbe, die Familiengeschichte, die er literarisch zu rekonstruieren versucht, könnte für ihn mehr sein als nur eine konstruierte Geschichte. Das Gefühl des Mangels, das Gefühl ein biographieloser Mensch zu sein, bleibt – und in gewisser Hinsicht ist er froh darüber, denn der Denkfigur Jean Genets folgend, ist es eben dieser Mangel, der seine Arbeit als Schriftsteller vorantreibt. Würde seine Selbsttherapie jemals gelingen, würde er sich selbst des Stoffes berauben, über den er schreibt. Treichel breitet das alles mit sicherer Hand aus, er ist ein souveräner Erzähler. Doch wirklich lesenswert wird seine literarische Analyse einer sehr speziellen Neurose letztlich, weil Treichel diese Krankengeschichte mit viel lakonischer Iro-nie vorzuführen versteht. Er berichtet nicht nur von dem Schicksal und den Leiden seines Helden, er behält auch im Blick, wie kurios und verstiegen dessen Nöte klingen. So tänzelt sein Roman anmutig auf der Grenze zwischen Tragödie und Komödie – und ihm bei diesem Balanceakt zuzuschauen, macht aus der Lektüre tatsächlich ein Vergnügen. Hans-Ulrich Treichel: „Anatolin“. Roman Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008 189 Seiten, 17,80 €

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Wo Unglück ist, wächst die Versuchung auch

 Alison Lurie erzählt von zwei ungleichen Paaren, die wie für einander gemacht sind

Wieso lieben wir eigentlich den Menschen, den wir lieben? Weil er so ist, wie er ist? Sicher, so soll es sein. Doch falls sich dieser Mensch verändert, sind wir dann in unserer Liebe unbeirrbar? Falls er – vielleicht durch einen Schicksalsschlag – zu einem anderen Menschen wird, bleiben wir dennoch bei ihm? Und wenn wir trotz aller Veränderungen treu zu ihm stehen, was steckt dann dahinter: Unsere Liebe, die ihm früher galt, oder der Wunsch, unsere Standhaftigkeit und unseren guten Charakter unter Beweis zu stellen? Derart unbequemen Fragen spürt Alison Lurie, eine der großen alten Damen der amerikanischen Literatur, in ihrem Roman „Paare“ nach. Die Geschichte erinnert ein wenig an einen Versuchsaufbau unter Laborbedingungen. Man wird jedoch den Eindruck nicht los, als habe Alison Lurie diesen Versuch im Grunde gar nicht gebraucht. Sie scheint keine Sekunde in Zweifel darüber gewesen zu sein, wie das Ergebnis auszusehen hat. Ihre Heldin heißt Jane Mackenzie. Jane ist Verwaltungsangestellte einer amerikanischen Universität und seit sechzehn Jahren kinderlos verheiratet mit Alan, Professor für Architekturgeschichte, der an der gleichen Universität lehrt. Das Leben der beiden verläuft in ausgeglichenen, ja glücklichen Bahnen – bis sich Alan beim Sport verletzt, ein Bandscheibenvorfall, der trotz Behandlung durch etliche Ärzte und eine Operation nicht geheilt werden kann. Die permanenten Rückenschmerzen verwandeln den zuvor geduldigen, erfolgreichen, charmanten Hochschullehrer binnen einem Jahr in ein gereiztes, ständig missgelauntes, oft arbeitsunfähiges und dazu medikamentenabhängiges Wrack. Jane findet sich plötzlich in einem völlig anderen Leben wieder, einem Leben als Krankenschwester, die fast rund um die Uhr für einen anspruchsvollen Patienten zu sorgen und auf Freizeit mit Freunden oder Sex zu verzichten hat, denn zu beidem findet Alan seiner Schmerzen wegen keine Kraft mehr. Wie weit also trägt in einem solchen Fall die Liebe, wenn man an dem neuen kranken Alan sowohl körperlich wie charakterlich kaum noch etwas entdecken kann, was an den gesunden alten Alan erinnert? Jane ist ganz aufopferungsbereite Ehefrau, leistet Verzicht, erduldet ihren quengeligen Mann und scheint fest entschlossen, der Welt das Beispiel einer auch in schlechten Tagen treuen Gefährtin vorzuleben. Doch wie viel hat das noch mit Liebe zu tun? Aber wo das Unglück ist, wächst die Versuchung auch – weiß Alison Lurie. Also konfrontiert sie die Mackenzies mit einem anderen Paar, das sich als ein versuchstechnisch perfektes Gegenstück zu ihnen herausstellt. Delia ist Schriftstellerin, kommt als Gastprofessorin an die Universität, und ist so überspannt und launisch, wie es ihr Name erwarten lässt. Ihr Mann ist ein eher bodenständiger Lektor, hört auf den bodenständigen Namen Henry und sorgt für alles, um das sich seine Frau nicht sorgen mag. Schnell beginnen sich die Paare neu zu gruppieren: Delia ermutigt Alan, der durch seine Krankheit immer dünnhäutiger geworden ist, seine brachliegenden kreativen Talente zu entdecken und verführt ihn nebenbei zu Formen der Sexualität, die ohne vollen Körpereinsatz auskommen. Jane erwischt die beiden dabei, ist empört und gibt sich bald schon mit Henry gewöhnlicheren Freuden hin. Wie die Geschichte ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Sie ist, obwohl im Grunde wenig und schon gar nichts Spektakuläres geschieht, immer temporeich und anschaulich. Alison Lurie, Jahrgang 1926, eine routinierte Erzählerin zu nennen, ist sicher nicht übertrieben. Für ältere Bücher wurde sie mit dem Pulitzerpreis und dem Prix Fémina Étranger ausgezeichnet. Mit wenigen Sätzen versteht sie vor den Lesern die üblichen Kulissen des angelsächsischen Campus-Romans aufzurichten. Man merkt sofort, sie kennt das Milieu, kennt die einschlägige literarische Tradition und fühlt sich als Leser gut bei ihr aufgehoben. Doch geht die Rechnung dieses Romans alles in allem zu glatt auf. Den Vorwurf, die Figuren ein wenig zu gradlinig und passgenau zurechtgeschneidert zu haben, kann man Alison Lurie nicht ersparen. Die beiden Paare gewinnen wenig Individualität und wirken eher wie Demonstrationsobjekte, an denen Alison Lurie vorführt, was ihr am Herzen zu liegen scheint: Nämlich, dass auch die lang erprobte, stabile Liebe naturgemäß nichts Zeitloses oder Unzerstörbares ist, sondern sich mit einer Änderung der Rahmenbedingungen sehr schnell verflüchtigen kann. Eine traurige, aber letztlich nicht sehr überraschende Einsicht.

Alison Lurie: „Paare“. Roman Aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann. Diogenes Verlag, Zürich 2008 309 S., 20,90 €

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„Strahlungen“

Das Literaturmuseum der Moderne in Marbach zeigt eine Ausstellung zu „Atom und Literatur“ 

Der erste Roman über die Atombombe wurde geschrieben, lange bevor es die Atombombe gab. Eric Ambler, der Großmeister des Polit-Thrillers, dessen Bücher so oft die Grenzen des Genres überschreiten, dass man ihn besser einen Meister des politischen Romans nennen sollte, war noch ein junger Werbetexter, als er in wissenschaftlichen Zeitschriften über neue Forschungsergebnisse der Atomphysik stolperte. Er zog daraufhin einige sehr nüchterne Schlussfolgerungen, die nur wenig Vertrauen in die moralischen Standards führender Wissenschaftlern und Politiker erkennen lassen und schrieb 1935 seinen ersten Roman „The Dark Frontier“. Darin wird die Atombombe zum Objekt naturgemäß übler machtpolitischer Machenschaften. Aber vom Weltuntergang ist nirgendwo die Rede. In der Ausstellung „Strahlungen. Atom und Literatur“ im Marbacher Literaturmuseum der Moderne spielt Amblers Roman keine Rolle, denn sie ist der deutschsprachigen Literatur gewidmet. Doch auch ein deutscher Autor, Gerhard Hauptmann, war seiner Zeit voraus und ließ bereits 1943, zwei Jahre bevor die beiden ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen, in seinem Romanfragment „Der neue Christopherus“ eine Figur die Gefahren nuklearer Rüstung ausmalen: „Da gibt es zum Beispiel ein Uranatom; wenn es von einem anderen getroffen und aufgespalten wird, entwickelt es mächtige Energie. Sofern rapide Summierungen ein Uranoxydpulver zu einem Kubikmeter vereinen, entwickelt es in weniger als dem hundertsten Teil einer Sekunde Energie, die ausreicht, um ein Gewicht von einer Million Tonnen siebenundzwanzig Kilometer hochzuheben. Seine Explosion könnte unserem ganzen Planeten zur gefährlichen Katastrophe werden.“ Vielleicht ist es mehr als ein Zufall, dass schon in diesem ersten Dokument, in dem ein deutscher Schriftsteller eine Atomexplosion imaginiert, gleich von Gefahren die Rede ist, die planetares Ausmaß annehmen. Denn die Angst vor dem ultimativen Desaster, vor der selbst bereiteten Apokalypse ist der beherrschende Zug der literarischen Zeugnisse, die in der von Helga Raulff zusammengestellten Marbacher Ausstellung zu sehen sind. In den allerersten Nachkriegsjahren waren die deutschen Reaktionen auf Hiroshima und Nagasaki noch verhalten. Zu sehr war man hierzulande mit der eigenen Kriegsschuld, der totalen Zerstörung der Städte und dem Wiederaufbau beschäftigt. Doch spätestens Anfang der fünfziger Jahre, parallel zu den amerikanischen Tests der Wasserstoffbombe, spielt das Thema im literarischen und intellektuellen Leben eine immer gewichtigere Rolle. Wenn man heute, ein halbes Jahrhundert später, auf die Debatten von damals zurückschaut, will einem manches davon ausgesprochen deutsch erscheinen. Überall macht sich der Drang zur möglichst dramatischen, überhitzten Formulierung bemerkbar, der alle vorangegangenen Wortmeldungen an Pathos noch zu übertreffen versucht. Immer wieder spürt man den Wunsch, alle Überlegungen bis zu ihren äußersten, extremsten Konsequenzen voranzutreiben – und vor diesem Hintergrund dann mit rigorosem Moralismus zu letztgültigen Bekenntnissen und Entscheidungen aufzurufen. Nur von nüchterner Sachkenntnis und realpolitischen Pragmatismus ist bei all dem wenig zu finden. Das alles tut der literarischen Qualität nicht gut. Nur wenige der in Marbach gezeigten Manuskripte können heute mehr als ein literaturhistorisches Interesse wecken. Auch die entsprechenden theoretischen Überlegungen von zeitgenössischen Philosophen wie Karl Jaspers oder Martin Heidegger („…das ontische Ende des Planeten…“) machen inzwischen einen einigermaßen angestaubten Eindruck. Andererseits erwiesen sich die hoch emotionalisierten Kampagnen gegen die nukleare Aufrüstung offenkundig als Kristallisationspunkte für einen späteren brutalen politischen Radikalismus: Die erste literarische Anti-Atom-Anthologie mit dem unbedingt zustimmenswerten Titel „Gegen den Tod“ wurde herausgegeben von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper; zu den Mitarbeitern des „Komitees gegen Atomrüstung“ gehörte die Studentin Ulrike Meinhof. Zum desillusionierenden, aufklärerischen Gehalt der Ausstellung gehört, dass sie mit einigen Missverständnissen aufräumt, die sich mitunter bis heute gehalten haben. Der nach dem Krieg im Zivilleben gescheiterte US-Pilot Claude Eatherly gab sich als Kommandant des Flugzeuges aus, der die Bombe über Hiroshima abgeworfen hatte. Der Philosoph Günther Anders korrespondierte mit ihm, Marie Luise Kaschnitz und Ludwig Harig schrieben Gedichte über ihn. Dass er zerrüttet in einem Sanatorium lebte, wurde seinerzeit als Beleg dafür herangezogen, wie sehr er unter der Verantwortung für seine Tat leide. Doch flog Eatherly, wie sich inzwischen nachweisen ließ, nur einen Wetteraufklärer, der mit dem Bombenabwurf nichts zu tun hatte. Der tatsächliche Kommandant des Hiroshima-Angriffs Paul W. Tibbet schied 1966 als Brigadegeneral aus der Armee aus und rechtfertigte den Bombenabwurf bis ins hohe Alter als Kriegshandlung. Und Heinar Kipphardts Drama „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ gilt als hervorragendes Beispiel des Dokumentartheaters, das authentische Zeugnisse auf die Bühne bringt. Kipphardt lässt seine Hauptfigur Oppenheimer, der als Physiker maßgeblich die Konstruktion der amerikanischen Atombombe vorantrieb, im Schlussmonolog das eigene Tun verdammen: „Wir haben die Arbeit des Teufels getan, und wir kehren nun zu unseren wirklichen Aufgaben zurück.“ Doch in einem Brief, der in Marbach zu sehen ist, bestreitet der reale Oppenheimer diese Kehrwendung energisch. Man habe ihm die Frage gestellt, ob er, auch in Kenntnis der historischen Resultate, sich wieder für eine Mitarbeit am amerikanischen Atomprogramm entscheiden würde: „To this I answered yes.“ Auch Ängste haben ihre Konjunkturen. Seltsam, wie wenig Raum die Gefahr eines mit nuklearen Waffen ausgetragenen Kriegs heute im öffentlichen Bewusstsein einnimmt. Seltsam, wie viel mehr Aufmerksamkeit der Terrorismus in Anspruch nimmt, obwohl selbst in schwärzesten Szenarien die Gefahren, die von ihm ausgehen, ungleich geringer sind.

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Kleine Skizze einer großen Autorin: Ruth Klüger

Frankfurter Rede anlässlich der Übernahme des Marcel Reich-Ranicki-Lehrstuhls an der Universität Tel Aviv durch Ruth Klüger

Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Petra Roth, lieber Marcel Reich-Ranicki, liebe Tosia Reich-Ranicki, sehr verehrte Frau Klüger, meine Damen und Herren, „Er war ein Dichter und hasste das Ungefähre“, lautet eine der vielzitierten Zeilen von Rainer Maria Rilke. Nicht so oft zitiert wird die Fortsetzung dieses Satzes: „Vielleicht war es ihm nur um die Wahrheit zu tun.“ Ruth Klüger ist eine Dichterin buchstäblich von Kindesbeinen an. Sie war Wienerin und sechs Jahre alt, als die Nationalsozialisten aus Österreich die Ostmark machten. In diesem Augenblick endete die Kindheit Ruth Klügers, denn zur Kindheit gehört doch wohl, dass ein junger Mensch sich behütet und behutsam seine ersten Wege durch die Welt suchen darf. Doch für Ruth Klüger bestand die Kindheit von nun an nicht aus sacht wachsender Selbstständigkeit, sondern aus rapide wachsenden Einschränkungen und Verlusten. Sie durfte in kein Kino mehr gehen, durfte auf keiner Parkbank mehr sitzen, schließlich keine Schule mehr besuchen. In immer schlechtere, dunklere Wohnungen musste sie umziehen und auf der Straße einen gelben Stern tragen, weshalb selbst Spaziergänge keinen Reiz mehr für sie hatten. Und sie verlor, größter Verlust von allen, ihren Vater. Da war sie neun. Sentimentalität liegt Ruth Klüger fern. In ihrer Autobiographie schreibt sie nicht, angesichts all dieses Unrechts und dieser Verluste habe sie sich als Kind von der Literatur das Leben verzaubern oder verschönern lassen. Sie schreibt stattdessen: „Man ließ mich lesen, weil ich dann niemanden behelligte.“ Nachdem sie von der Schule ausgesperrt worden war, sah sie monatelang keine Kinder und auch die Familie hatte wenig Zeit. Also vertiefte sie sich in Bücher, las Schiller und andere Klassiker, denn die galten den Erwachsenen als unbedenklich, und da sie ein Talent hatte zum Auswendiglernen, brauchte sie für Schillers Balladen bald kein Buch mehr. Sie sagte sie sogar auf der Straße murmelnd her, was ihre Verwandten für unmanierlich hielten. Aber als sie dann zwölfjährig im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau bei den Appellen stundenlang in der Sonne stehen musste, hatte sie in diesem lyrischen Gedächtnisvorrat etwas, mit dem sie sich über die Zeit retteten konnte. Und beim Auswendighersagen blieb es nicht. Schon im ersten KZ, in das man sie und ihre Mutter deportierte, in Theresienstadt schrieb sie eigene Gedichte, und im KZ Christianstadt dann Verse, mit denen sie das Unfassliche, was sie zwischenzeitlich in Auschwitz erlebt hatte, fassbar zu machen versuchte. Ruth Klüger ist eine Dichterin und hasst das Ungefähre. An beidem lässt ihre inzwischen zweibändige Autobiographie keinen Zweifel. Sie nimmt es genau und sie hat die Fähigkeit zur genauen Beobachtung, zu genauen Gedanken, zur genauen Formulierung. Auch und gerade wenn es um ihre Erfahrungen während des Holocaust geht. Sie will, so schreibt sie, sich nicht mit der „Schreckensrührung“ zufrieden geben, in die viele Menschen verfallen, wenn sie von den KZs hören und denen, so schreibt sie „alle Lager in einem Entsetzensnebel verschwimmen, worin man sowieso keine Einzelheiten erkennen kann“. Ihre Genauigkeit auch in den Einzelheiten ermöglicht Ruth Klüger unerwartete Einsichten. Da sind zum Beispiel die Minuten, in denen sich ihre Rettung aus Auschwitz entschied. Frauen von 15 bis 45 wurden selektiert für einen Arbeitstransport, der Auschwitz verlassen durfte. Ihre Mutter hatte es geschafft, sie war dem Transport zugeteilt worden. Aber Ruth Klüger hatte dem SS-Mann, der die Auswahl traf, die Wahrheit gesagt, sie sei erst zwölf und der verurteilte sie daraufhin mit einem Kopfschütteln zum Tode. Doch die Mutter überredete die Tochter, sich ein zweites Mal bei einem anderen SS-Mann anzustellen. Und dessen Schreiberin, eine Gefangene wie alle andern, bestärkte Ruth Klüger nicht nur flüsternd darin, ihr Alter diesmal mit 15 anzugeben, sondern überzeugte noch dazu den SS-Mann, diese wenig glaubwürdige Angabe zu akzeptieren. An einer solchen Szene zeigt sich die Genauigkeit des Nachdenkens und Erzählens von Ruth Klüger. Sie schildert die Szene nicht nur, sie erforscht sie. Es gab für diese Schreiberin nicht den geringsten Grund, sich für sie einzusetzen. Ruth Klüger hatte diese junge Frau noch nie zuvor gesehen und ist ihr auch danach nicht mehr begegnet. Dennoch hat diese Mitgefangene ohne den geringsten Vorteil für sich erwarten zu können, etwas ganz und gar Unerwartbares getan und viel riskiert für eine fremde Zwölfjährige. „Sie sah mich“, schreibt Ruth Klüger, „in der Reihe stehen, ein zum Tod verurteiltes Kind, sie kam auf mich zu, sie gab mir die richtigen Worte ein, und sie hat mich verteidigt und durchgeschleust. Die Gelegenheit zu einer freien, spontanen Tat war nirgends und nie so gegeben wie dort und damals.“ Ein Absatz weiter spitzt Ruth Klüger diese Einsicht noch einmal zu. Die junge Frau hatte nichts zu gewinnen und konnte allzu leicht alles verlieren. Wenn sie sich dennoch gegen jeden Eigennutz für eine Unbekannte einsetze, dann war das eine tatsächlich altruistische, eine tatsächlich freie Entscheidung: „Es kann“, folgert Ruth Klüger, „die äußerste Annäherung an die Freiheit nur in der ödesten Gefangenschaft in der Todesnähe stattfinden, also dort, wo die Entscheidungsmöglichkeit auf fast Null reduziert ist. In dem winzigen Spielraum, der dann noch bleibt, dort, kurz vor Null, ist die Freiheit.“ Solche Sätze haben es in sich. Sie setzen einer anonymen Schreiberin ein Denkmal, die unter unsäglichen Bedingungen menschlich handelte, und sorgen mit ihrer Unerbittlichkeit beim Leser für einen Schock, der in Erinnerung bleibt. Ruth Klügers Bücher sind voller solcher Sätze. Zum Beispiel, wenn sie nachdenkt über all die literaturkritischen Verbotstafeln, die in den ersten Nachkriegsjahren aufgerichtet wurden, und wenn sie sich dann die hochfahrenden Verbotstafel-Aufsteller wie Adorno zum Beispiel vorknöpft: „Ich meine“, schreibt sie, „die Experten in Sachen Ethik, Literatur und Wirklichkeit, die fordern, man möge über, von und nach Auschwitz keine Gedichte schreiben. Die Forderung muss von solchen stammen, die die gebundene Sprache entbehren konnten, weil sie diese nie gebraucht, verwendet haben, um sich seelisch über Wasser zu halten. Statt zu dichten möge man sich nur informieren, heißt es, also Dokumente lesen und ansehen – und dass gefassten, aber auch betroffenen Mutes. Und was sollen sich Leser und Betrachter solcher Dokumente dabei denken? Gedichte sind eine bestimmte Art von Kritik am Leben und könnten ihnen beim Verstehen helfen. Warum soll man das nicht dürfen? Und“, spitzt Ruth Klüger ihren Widerspruch erneut zu, „was ist das überhaupt für ein Dürfen und Sollen? Ein moralisches, ein religiöses? Welchen Interessen dient es? Wer mischt sich hier ein?“ Ich glaube, es wäre ein Klischee, wollte man Ruth Klüger solcher Sätze wegen eine streitbare Frau nennen. Das klänge ein wenig so, als würde sie Kontroversen suchen, damit unser öffentlicher Debattenbetrieb kräftig brummt und weiterlaufen kann. Nein, treffender ist es wohl, Ruth Klüger eben eine Dichterin zu nennen, die auf Genauigkeit besteht, weil es ihr um die Wahrheit zu tun ist – und die dafür keinem Streit aus dem Weg geht. Nicht nur, wenn es um ihre Erfahrungen in deutschen KZs geht oder um allzu selbstgewisse Literaturtheorie. Schonungslos ist sie auch sich selbst gegenüber. Wie sie in ihren beiden autobiographischen Büchern die, wie es wörtlich heißt, „blühende gegenseitige Mutter-Tochter-Neurose“ entfaltet, wie sie über die zehn Jahre ihrer frostige Ehe oder über das komplexe Verhältnis zu ihren beiden Söhnen schreibt, ist nie exhibitionistisch oder indiskret, aber doch von einer solchen Schärfe und Klarheit, wie man sie selten findet. Auch das, was die Feministin Ruth Klüger über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen schreibt und mit Alltagsbeobachtungen untermauert, ist von solcher Treffsicherheit, dass man es gerade als Mann nicht leichten Herzens liest. Oder was sie vom akademischen Betrieb zu erzählen hat: Sechs Jahre lang war sie Ordinaria in Princeton, einer den nobelsten Eliteuniversitäten der amerikanischen Ostküste. Doch was sie mit den ausschließlich männlichen Professoren im German Department dort erlebte, war alles andere als nobel: Die ließen fast keine Gelegenheit aus, ihr das Gefühl zu vermitteln, sie sei dort nur als Quotenfrau geduldet, die an das wissenschaftliche Niveau ihrer männlichen Kollegen nicht heranreiche. Die intensive Beschäftigung mit Kultur, die Ruth Klüger bei diesen Professoren-Kollegen doch wohl voraussetzen durfte, hatte deren Verhalten offenbar nur an der Oberfläche zu kultivieren vermocht. Was darunter zum Vorschein kam, ließ manches von der Behauptung Schillers, die Literatur trage bei zu einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts, in einem eher fahlen Licht erscheinen. Bleibt zum Abschluss nur, zu der Berufung von Ruth Klüger als erster Gastprofessorin auf den Marcel Reich-Ranicki-Lehrstuhl für Deutsche Literatur an der Universität Tel Aviv zu gratulieren. Eine bessere Wahl ist kaum denkbar. Marcel Reich-Ranicki ist elf Jahre älter als Ruth Klüger, und er ist definitiv kein Feminist. Das unterscheidet sie. Ansonsten aber ist die intellektuelle Nähe zwischen beiden und sind die Parallelen in ihren Biographien mit Händen zu greifen. Der Berliner Gymnasiast Marcel Reich, der vor dem Terror der Nationalsozialisten seine Zuflucht in Büchern findet, die Schülerin Ruth Klüger, die tagelang allein in dunklen Wiener Wohnungen bleiben muss und sich in eine bessere Klassiker-Welt hineinliest. Marcel Reich, der zuerst zu Schillers Dramen, Ruth Klüger, die zuerst zu Schillers Balladen greift. Marcel Reich, der im Warschauer Getto zusammen mit seiner Frau Tosia deutsche und polnische Gedichte liest. Ruth Klüger, die in Theresienstadt, Auschwitz, Christianstadt Gedichte vor sich hersagt oder schreibt. Und dann später dennoch die atemraubende Entscheidung von Marcel Reich-Ranicki und Ruth Klüger, ihr Arbeitsleben ganz und gar der Literatur zu widmen, der deutschen Literatur. Nein, eine bessere Besetzung ist für diesen Lehrstuhl nicht vorstellbar. Zu dieser Wahl kann man nur gratulieren und die Studenten der Universität Tel Aviv nur beglückwünschen zu der Gastprofessorin, die sie bekommen. Meine Damen und Herren, haben sie Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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Georg und die fabelhafte Büchner-Bande

Ein Familienbiographie erzählt von der wohl begabtesten Geschwisterreihe des 19. Jahrhunderts

Georg Büchner war, nach einem Wort Heiner Müllers, der Meteor der deutschen Literatur. Nur zwei Jahre blieben Büchner als Schriftsteller: Im Januar 1835 begann er die Niederschrift seines ersten Stücks „Dantons Tod“. Im Januar 1837 erkrankt er an Typhus und starb am 19. Februar. Was Büchner in jener kurzen Frist schrieb, hat ihn am deutschen Klassikerhimmel unter die Erscheinungen mit der höchsten Leuchtkraft befördert. Heute überstrahlen seine beiden produktiven Jahre die in Jahrzehnten errichteten Lebenswerke seiner drei Brüder und seiner Schwester Luise. Der liebevoll ausgestattete Band „Die Büchners oder der Wunsch, die Welt zu verändern“ führt die Geschwisterreihe jetzt eindrucksvoll vor. Es gab wohl keine andere im 19. Jahrhundert, die dieser aus Darmstadt das Wasser hätte reichen können. Georg war der Erstgeborene und das Genie der Familie. Das Tempo, in dem er sich Wissen der verschiedensten Fachrichtungen aneignete, die Klarheit, mit der er die politische Misere der Restaurationszeit durchschaute, die Entschlossenheit, mit der er sich für eine Revolution einsetze und seine enorme Sprachkraft, die sich auch in seinen Briefen an die Geschwister dokumentiert, konnte niemandem in dieser Familie gleichgültig lassen. Sein Tod muss die Geschwister ungeheuer erschüttert haben. Natürlich sollte man sich vor der Phrase hüten, sie hätten ihn nie verwunden – schließlich starb der jüngste Bruder Alexander erst 1904, fast siebzig Jahre nach Georg. Doch in den Erinnerungen an ihn schwang für sie offenbar immer die Verpflichtung mit, etwas Unabgegoltenes, allzu früh Abgebrochenes im Bewusstsein der Zeitgenossen zu halten. Das soziale Engagement Georgs war in seiner Familie nichts Ungewöhnliches. Seit vielen Generationen waren die Büchners Mediziner. Sein Vater Ernst, Stadtphysikus und Hospitalarzt in Darmstadt, verstand seine Arbeit als „Pflicht gegen seine Nebenmenschen“. Auch Georg habilitierte sich schließlich in Zürich ein halbes Jahr vor seinem Tod als Mediziner in vergleichender Anatomie. Als Wappentier ihrer Familie hatten die Büchners den Pelikan gewählt, von dem es hieß, dass er seine Kinder in Notzeiten mit dem eigenen Blut ernähre und der deshalb als Sinnbild der Elternliebe galt. Doch Ernst Büchner hatte noch ein anderes Erbe mit in die Familie gebracht. Da ihm das Geld fehlte zum Studium in Deutschland, war er in den niederländischen Sanitätsdienst eingetreten und hatte sich zum Regimentschirurgen ausbilden lassen. Als Militärarzt diente er später in der Armee Napoleons, den er bewunderte und von dem er bei einer Parade, wie die Familienlegende berichtete, sogar angesprochen worden war: „Du sitz gut zu Pferd, wie alt bist du?“ In dieser Armee aber galten keine Adelsprivilegien, sondern jedem stand eine Karriere nach seinen Leistungen und Fähigkeiten offen. Diesen liberalen Ideen blieb Vater Ernst zeitlebens treu, auch wenn er sich nach seiner Rückkehr ins heimatliche Hessen 1811 meist nicht offen zu ihnen bekennen konnte. Wilhelm Büchner (1816-1892) Wilhelm kam drei Jahre nach Georg zur Welt. Er wurde in der Familie zunächst „der dumme Bub“ genannt, entpuppte sich später, wie sein Bruder Alexander in einem Nachruf schrieb, als „bunter Schmetterling“, der „seiner Familie und dem ganzen Lande zur höchsten Zierde gereichte.“ Tatsächlich war Wilhelm der Geschäftstüchtigste unter den Geschwistern. Er studierte Chemie beim großen Justus Liebig in Gießen und gründete 1841 in der Waschküche der Eltern seine erste chemische Fabrik. Dort gelang ihm die synthetische Herstellung des Ultramarin-Pigments, eines begehrten Farbstoffs der zuvor nur aus dem Halbedelstein Lapislazuli hergestellt werden konnte. Die Erfindung war eine Sensation und Wilhelm konnte bald große Fabrikanlagen, erst in Darmstadt, dann in Pfungstadt, aufbauen. Seine Farbe entwickelte sich zum internationalen Erfolg, auf den Weltausstellungen in London, Paris und Wien wurde sie mit Auszeichnungen bedacht. Doch blieb Wilhelm als Unternehmer den sozialen Idealen seiner Familie verbunden. Lange vor Bismarck richtete er zugunsten seiner Arbeiter eine firmeneigene Betriebskrankenkasse ein. Dazu ließ er sich als Anhänger der Republik mehrfach in Hessische Landtage wählen, die allerdings wegen ihrer liberalen Haltung zweimal umgehend wieder aufgelöst wurden. 1877 zog er als Abgeordneter in den Reichstag ein, in dem er gegen die Verfolgung der Sozialisten kämpfte – denen er in einem von ihm geschaffenen „Vereins zur Förderung des Wohls der Arbeiter“ wieder eine öffentliche Stimme zu geben versuchte. Luise Büchner (1821-1877) Luise wurde eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen ihrer Epoche. Wie zu ihrer Zeit üblich, erhielt sie als Mädchen nur eine dürftige Ausbildung, zeigte aber große geistige Interessen und Fähigkeiten. Als Autodidaktin holte sie nach, was ihr auf der Schule vorenthalten worden war. Bruder Georg war ihr Vorbild, auch sie wollte Schriftstellerin werden. Sie suchte Anschluss im Literaturbetrieb ihrer Zeit und offenbar bot ihr ein Verleger an, ein Buch über Erziehung und Ausbildung von Mädchen zu schreiben. Es erschien 1855 und wurde zu einem Bestseller, der Luises Leben fortan prägte: „Die Frauen und ihr Beruf“. Sie veröffentlichte danach noch vieles andere zu anderen Themen, doch dieses Erfolgsbuch machte sie in Deutschland bekannt. Natürlich unterscheiden sich ihre Vorstellungen von dem, was wir heute unter Emanzipation verstehen. Sie stritt nicht für eine Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern für eine „Gleichberechtigung des Mädchens mit dem Knaben in der Erziehung“. Doch verschaffte sie dieser Forderung auf Vortragsreisen und als unermüdliche Publizistin weiter wachsende Aufmerksamkeit. Bis schließlich selbst die Politiker ihrer Zeit bei ihr Rat suchten: 1873 beauftragte sie das preußische Kultusministerium mit einem Gutachten zur Reform der „mittleren und höheren Töchterschulen“. Gegen Ende ihres Lebens war sie, der man Schulbildung fast ganz vorenthalten hatte, eine landesweit anerkannte Autorität in Bildungsfragen. Ludwig Büchner (1824-1899) Ludwig war in der Wahrnehmung seiner Zeit, der eigentliche Star der Familie Büchner. 1855 veröffentlichte er mit dem Buch „Kraft und Stoff“ einen philosophischer Sensationserfolg, einen Bestseller, der es schon im ersten Jahr auf drei und insgesamt auf über zwanzig Auflagen brachte, der in 17 Sprachen übersetzt wurde und ihn zu einem weithin anerkannten Denker von europäischem Rang machte. Ludwig Büchner vertrat darin eine streng materialistische Weltsicht, die ohne Gott und Religion auskam, zugleich aber mit Blick auf die Fortschritte in Wissenschaft, Technik und Politik von einem Entwicklungsoptimismus getragen wurde, wie er nur im 19. Jahrhundert vor den politischen Großverbrechen und Desastern des 20. Jahrhunderts denkbar war. Auch Ludwig hatte wie sein ältester Bruder Georg und ihr Vater Ernst Medizin studiert. Wie Georg kämpfte er als Student – gemeinsam mit dem jüngsten Bruder Alexander – für liberale und demokratische Veränderungen und im Revolutionsjahr 1848 sowohl publizistisch als auch mit Waffen zumindest exerzierend gegen die Adelsordnung. Nachdem sein Hauptwerk „Kraft und Stoff“ erschien, verlor er seine Stelle an der Universität Tübingen – zu offensichtlich widersprachen seine Thesen dem auf Religion und Gottesgnadentum der Herrscher basierenden Feudalismus. Er zog sich ins heimatliche nach Darmstadt zurück, wo er als Arzt, Schriftsteller und Publizist zu einem der viel beachteten Intellektuellen des Landes wurde. Doch aus heutiger Sicht liegt Ludwigs größtes Verdienst auf anderem Gebiet. Schon 1850, gerade den Revolutionswirren des Jahres 1848 entronnen, sammelte er zusammen mit Bruder Alexander und Schwester Luise erstmals den literarischen Nachlass und die Briefe Georg Büchners, transkribierte viel davon aus den Handschriften – darunter auch das kaum lesbare, in blasser Tinte geschriebene Manuskript des „Woyzeck“ – und publizierte das meiste davon als Georgs „Nachgelassene Schriften“. Dies allein schon war eine philologische Großtat. Doch da in der Nacht vom 21. auf den 22. Mai 1851 das Hinterhaus der Büchners in Darmstadt ausbrannte, wobei ein beträchtlicher Teil der Handschriften Georgs in Flammen aufging, verdanken wir dieser Edition, dass wir manche von Georg Büchners Schriften überhaupt noch kennen. Alexander Büchner (1827-1904) Alexander studierte Jura und mischte wie Bruder Ludwig kräftig mit bei der 48er-Revolution. Er war schon im Hessischen Staatsdienst, als man ihn 1851 zu seinen politischen Überzeugungen befragte. Da er sich zu seinen demokratischen Ansichten bekannte, wurde umgehend entlassen. So fabelhaft begabt wie seine Geschwister wechselte das Fach und habilitierte sich schon 1853 als Literaturwissenschaftler – in Zürich, wo Bruder Georg 16 Jahre zuvor gestorben war. Bald darauf wanderte er ins liberale Frankreich aus, wo er nochmals habilitierte (diesmal über Shakespeare) und als Universitätslehrer und Schriftsteller eine glänzende Karriere machte. Er kannte nicht nur die deutsche und französische, sondern fast jede Literatur Europas und wurde einer der ersten großen vergleichenden Literaturwissenschaftler. Aber wichtiger noch war vielleicht seine Rolle als „Brücke über den Rhein“ – wie er von Kollegen genannt wurde. In den schwierigen Jahrzehnten der endlos schwelenden Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich mühte er sich um einen Kulturaustausch zwischen beiden Ländern. Er war unter der Büchner-Kindern vielleicht der Weltläufigste: Ein elegant formulierender, ironischer Intellektueller, der allen Nationalismus abgestreift hatte und damit in seiner Zeit zum einsamen Rufer in einer Wüste von chauvinistischen Borniertheiten wurde. Wie alle aus der Büchner-Bande war auch er seiner Zeit voraus – und tat sein Bestes, den trägen Mitmenschen mit literarischen Mitteln die Augen zu öffnen.

Heiner Boehncke, Peter Brunner, Hans Sarkowicz: „Die Büchners oder der Wunsch, die Welt zu verändern“ Societäts Verlag, Frankfurt am Main 2008 168 Seiten, 24,90 €

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Vom Geist zwischen den Vitrinen

 Zwei Ausstellungen versuchen dem Rätsel des Schriftstellers W.G. Sebald auf die Spur zu kommen

Der einzige Ort, an dem man einem Autor von Rang begegnet, ist sein Werk. Diese alte, ein wenig banale und doch unerbittliche Erkenntnis wird jetzt bestätigt von zwei Ausstellungen zum Werk von W.G. Sebald, dem 2001 bei einem Unfall umgekommenen Schriftsteller, der erst spät seine ersten Prosaarbeiten veröffentlichte, hohe Bewunderung für sie erntete und seit seinem Tode eine eigenwillige Karriere macht. Die Ausstellungen haben große Verdienste, sie wurden mit vorbildlicher Sensibilität und Sachkenntnis zusammengestellt. Beide sind auf ihre je eigene Weise rundum gelungen – und doch beschleicht einen bei ihrem Besuch ein Gefühl von Hilflosigkeit. „Wandernde Schatten“ heißt die ungleich größere der beiden, und sie wird im Marbacher Literaturmuseum der Moderne gezeigt. Es ist, wenn man zurückhaltend inszenierte Präsentationen von papierenen Dokumenten in Vitrinen mag, geradezu das Muster einer Literatur-Ausstellung. Ihre Voraussetzungen waren ungewöhnlich günstig: Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach konnte 2004 den schriftstellerischen Nachlass Sebalds übernehmen und dabei stellte sich heraus, dass dieser Autor den Bedürfnissen seiner neugierigen Nachwelt beispielhaft zugearbeitet hatte: 68 Archiv-Boxen enthielten von ihm vorgeordnete Materialien zu seinen Büchern – so als sei all das von ihm bereits mit Blick auf zukünftige Forschungsarbeiten zurechtgelegt worden. Über das private Leben des Menschen namens Sebald gibt es, betont der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Ulrich Raulff, dabei wenig zu entdecken. Sebald hat den Boxen seine Arbeitsmaterialien anvertraut und so geistert der Autor, obwohl die Ich-Erzähler seiner Geschichten ihm gelegentlich zum Verwechseln ähnlich sind, nur als Chimäre durch die Vitrinen. Das ist gut so, denn Sebald betrachtete seine Prosa nicht zuletzt als eine Einladung an die Leser in eine schwer greifbare Halbwelt zwischen Fakten und Fiktionen. Gezeigt werden unter anderem Stapel mit Bänden aus der rororo-Monographien-Reihe, die Sebald mit Vorliebe benutzte. Ihr Aufbau als Mischung aus Fotos, Zitaten und biographischem Text ist den Büchern Sebalds nicht unähnlich. Nur dass sich die Leser bei ihm nie sicher sein können, welche der erwähnten Lebensdaten seiner Figuren sich auf Realitäten beziehen und welche nicht. Die Ausstellung kann so mit den zahlreichen Dokumenten, von denen sich Sebald anregen ließ, ein schier endlos sich verästelndes Beziehungsgeflecht zwischen Arbeitsmaterialien und Prosa herstellen. Für jeden Sebald-Fan ist das natürlich ein Traum. Aber es ist ein vertrackter Traum: Denn obwohl die Kuratorinnen Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter ihre Archivschätze mit vorzüglicher Sorgfalt ausgebreitet haben, begreift man bald, dass nichts davon den speziellen Zauber von Sebalds Büchern vermitteln oder auch nur näher bringen kann. Es ist, als wollte man Bonbons lutschen, ohne sie auszupacken. Die Prosa dieses Autors lebt stärker noch als die vieler anderer von ihrer Ton. Nicht die Handlung seiner Geschichten, nicht ihre Figuren, Themen oder Motivketten machen sie so anziehend, sondern ihr getragener, ans Fin de siècle erinnernden Stil, ihre von Sebald gezielt mit sinnlichen Qualitäten aufgeladene Sprache. Folglich steht man vor den Vitrinen beglückt und unglücklich zugleich. Wie so oft in Sebalds literarischen Beziehungslabyrinthen glaubt man im ersten Moment zu verlässlichen Fixpunkten vorgedrungen zu sein, und muss sich dann doch eingestehen, dass die bei näherem Hinsehen wie zwischen den Fingern zerrinnen. An Lob für seine hochartifizielle Arbeit fehlte es Sebald nicht, doch zu einem populären Autor ist er nie geworden. Daniel Kehlmann, der jetzt für das Stuttgarter Literaturhaus zusammen mit dem Sebald-Biographen Mark M. Anderson ein Podiumsgespräch über Sebald bestritt, beklagt diese Zurückhaltung vieler Leser und einiger Kritiker hierzulande mit Vehemenz, denn in seinen Augen zählt Sebald zu den größten deutschen Schriftstellern seiner Zeit. Tatsächlich gehört es zu den Seltsamkeiten von Sebalds Autoren-Karriere, dass er schon vor seinem Tod und erst recht danach in USA und Großbritannien (wo er an der University of East Anglia in Norwich Germanistik lehrte) höhere Anerkennung genießt als bei uns. 2000 veröffentlichte Susan Sontag ein – allerdings nicht sehr gedankenreiches – Essay über seine Prosa und nach diesem intellektuellen Ritterschlag avancierten seine Bücher endgültig zu einem Lieblingsforschungsthema der angelsächsischen Literaturwissenschaft. Für die gehört Sebald heute „ganz selbstverständlich zur Weltliteratur“, wie Florian Höllerer, der Leiter des Stuttgarter Literaturhauses betont, das Sebald 2001 wenige Wochen vor seinem Tod mit einer Rede eröffnete. Diese Rede wurde zwei Jahre später vom „New Yorker“ nachgedruckt – eine Ehre, die nicht vielen deutschen Autoren zuteil wird, und die in unserem nach internationaler und insbesondere amerikanischer Anerkennung gierenden Literaturbetrieb mit einigem Raunen zur Kenntnis genommen wurde. Parallel zur Marbacher Ausstellung hat das Stuttgarter Literaturhaus dieser Rede nun ebenfalls eine – naturgemäß kleine – Ausstellung gewidmet, bei der es unter anderem auf Dokumente aus dem Sebald-Nachlass im Marbacher Archiv zurückgreifen konnte. Auch hier sind mit viel Liebe und Kompetenz Materialien zusammengetragen worden, die den Tatsachenhintergrund ausleuchten, auf die sich die Rede in einigen Passagen bezieht. Aber auch hier stellt sich wieder das Gefühl ein, dem schönen Rätsel dieses Autors letztlich doch nicht auf die Spur zu kommen. Diesem Rätsel begegnet man nur in seiner Prosa – und ein bislang unzugängliches, fast hundertseitiges Fragment davon wird jetzt im Katalog zur Marbacher Ausstellung ediert. 1995 war Sebald nach Korsika gereist, um ein essayistisches Reisebuch über die Insel vorzubereiten. Nach anderthalb Jahren Arbeit und einer zweiten Korsika-Reise betrachtete er das Projekt als gescheitert. Er experimentierte hier mit einer Tagebuchform, die sich für seine kunstvoll durchgearbeitete Sprache wenig eignete. Dennoch gab Sebald, als er das Manuskript schließlich resigniert beiseite legte, die Arbeit offenbar nicht vollständig verloren, denn manches davon tauchte schließlich in seinem letzten großen Buch „Austerlitz“ wieder auf.

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„Machwerk“

Volker Braun erzählt 48 Schwänke aus dem Leben des Arbeiters Flick

Zum Unglück des Don Quijote gehört, dass er im falschen Jahrhundert lebt. Er will Ritter sein in unritterlicher Zeit. Diese Fallhöhe zwischen Wunsch und Wirklichkeit hat Don Quijote unsterblich und das Buch des Cervantes’ zum Inbegriff des komischen Romans gemacht. Volker Brauns Held Flick von Lauchhammer will Arbeiter sein in einer Zeit, in der die Arbeit immer seltener und Arbeitslosigkeit immer häufiger wird. Flick könnte aus dem Geschlecht jener Neuen Menschen stammen, deren Geburt die kommunistische Propaganda für die Zukunft voraussagte und deren „oberstes Lebensbedürfnis“ angeblich die Arbeit sein werde. Doch ist dieser Flick bei Volker Braun eben nicht in eine marxistische Zukunftswelt geraten, sondern in die postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft der Gegenwart. Auch diese Fallhöhe zwischen Utopie und Realität könnte eine gute Basis für komische Einfälle schaffen. Doch leider ist Brauns Buch eher wirr als witzig. Flick von Lauchhammers Schicksal wird nach der Art einer Nummernrevue in 48 kurzen Schwänken vorgeführt. Der Prosa-Schwank, der im Spätmittelalter seine Blüte erlebte, gehört jedoch zu den holzschnittartigen Erzählformen. Bedauerlicherweise schließt sich Volker Braun dieser literarischen Tradition konsequent an und zielt auf grobschlächtige Kontraste und plumpe Pointen. Schnell hat man das gnadenlos wiederholte Handlungs-Schema der 48 Episoden durchschaut: Flick wird von einem brachialem Schaffensdrang angetrieben, aber ob er sich nun auf eigene Faust nach einer Beschäftigung umschaut, oder ob ihn die Bundesanstalt für Arbeit zu einer offenen Stelle schickt, niemand hat für seine ungestüme Energie Verwendung oder auch nur Verständnis. Also entgleist die Situation im Handumdrehen und Flicks Arbeitseifer sorgen nicht für gesteigerte Produktionsergebnisse, sondern nur für gesteigertes Chaos. So wird Flick beispielsweise vom Arbeitsamt als Aufseher an ein Museum für modere Kunst vermittelt. Dort soll er eine Installation hüten: ein verunglücktes Motorrad samt eingeklemmter Fahrerpuppe. Naturgemäß bleibt Flick nicht untätig neben dem Objekt stehen, sondern betätigt sich als Retter, indem er die Puppe „in den Achseln fasste und aus dem Schrott zog, und versuchte, sie künstlich zu beatmen (nachdem es künstlerisch nicht gelungen war), aber als das Polyersterharz nicht nachgab und der Brustkorb splitterte, er das bunte Opfer an die kalkweiße Wand lehnte und begann, das verzogene Blech geradezubiegen usw. liefen die Wachmänner alarmiert herbei, die zu sichern hatten, dass der verzweifelte Zustand erhalten blieb, so wie er nun einmal gemacht war. Sie hielten den Tatmenschen fest, den sie für einen Attentäter halten mussten.“ Auch wer im Museum häufiger mal skeptisch vor derlei Installationen steht, wird zugeben, dass über diese Kunst schon bessere Witze gemacht wurden als dieser. Dem simplen Strickmuster des Schwankes entsprechend, sind die meisten Scherze in diesem Buch alles andere als überraschend – doch Pointen, die man schon von weither Anlauf nehmen sieht, sind nicht komisch, sondern peinlich. Braun versucht dem mit allerlei Wortspielen und kleineren Kalauern abzuhelfen, doch dadurch wird der Ton der Geschichten bestenfalls neckisch und verquer, nie aber wirklich lustig. Natürlich hat Volker Braun das „Machwerk“, wie bislang noch jedes seiner Bücher, mit vielen Anspielungen auf Texte verehrter Klassiker der Literatur und Philosophie gespickt. Die damit verbundene Einladung an den Leser zum heiteren Zitate-Raten ist bei der Lektüre noch das Amüsanteste. Doch auch hier bevorzugt Braun nicht selten das Abgedroschene. So lässt er seinen Flick gegen Windräder kämpfen, wie Don Quijote einst gegen Windmühlen im berühmtesten Kapitel von Cervantes’ Roman, damit auch dem unaufmerksamsten Leser die Parallelen zwischen beiden Figuren ja nicht entgehen. Wie dem erfahrenen Schriftsteller Volker Braun, der 2000 immerhin den Büchner-Preis erhielt, ein solches Buch unterlaufen konnte, ist ein Rätsel.

Volker Braun: „Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer“
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008 220 Seiten, 19,80 €

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Schöner wird’s nicht

David Sedaris schöpft Witz aus den Widrigkeiten seines Lebens

Einfach ist das Leben nie und durch eine solide Neurose wird es nicht leichter. Das kann man zum Anlass nehmen für vielfältige Klagen. Doch die Aussichten, damit die Lage zu verbessern, sind nicht hoch. Denn, soviel stellt das neue Buch von David Sedaris schon mit seinem stoischen Titel klar, „Schöner wird’s nicht“. Man kann aber auch versuchen, die endlosen Widrigkeiten, mit denen man zu kämpfen hat, auf erfinderische Weise für sich nutzbar zu machen. Das ist ebenfalls nicht einfach, doch manchen besonders begabten Menschen gelingt es. Sie verwandeln ihre Problemen in die Energiequellen, die sie voranbringen. Sie sind dann zwar noch immer nicht auf Rosen gebettet, aber immerhin haben sie etwas, mit dem sie sich auf ihre Weise zur Wehr setzen können. Sedaris zählt zu diesen besonders begabten Geplagten. Heute ist er einer der bekanntesten komischen Autoren in den Vereinigten Staaten. Er hat es bis an die Spitze der Bestsellerliste der New York Times gebracht, schreibt für „New Yorker“ und „Esquire“, wurde als „Humorist of the Year“ gefeiert, mit dem James Thurber Prize for American Humor ausgezeichnet und durfte bei David Letterman zur besten Late-Night-Sendezeit fünf Minuten lang eine seiner Stories vorlesen (zu bewundern auf YouTube: www.youtube.com/watch?v=YBdymtyXt8Y). Viel mehr darf man, falls man nicht vermessene Forderungen ans Leben stellen möchte, als Schriftsteller nicht erwarten: Schöner wird’s nicht. Das Rohmaterial aus dem Sedaris seine Geschichten entwickelt, ist autobiographischer Natur. Er ist als komischer Erzähler auf die Ich-Form eingeschworen. Allerdings wäre es ein Missverständnis zu glauben, ihm würden häufiger komische Dinge zustoßen als anderen. Im Gegenteil, vieles von dem, über das er schreibt, könnte man als waschechte Schicksalsschläge bezeichnen. Da ist beispielsweise der offenbar unerschöpfliche Schatz von Ausgrenzungs- und andern Schreckens-Erfahrungen aus den Jugendjahren im sonnigen, aber spießigen North Carolina. Oder die Erinnerungen an seine gescheiterte Karriere als Performancekünstler. Oder an seine erfolgreiche Karriere als Drogenkonsument. Oder an die Aushilfsjobs, mit denen er sich über Wasser hielt, bevor er mit seinen ersten Radio-Texten Erfolg hatte. Der Witz der Geschichten rührt zu einem Gutteil her aus dem offenkundigen Widerspruch zwischen der hochintelligenten, geschmeidigen Sprache des Autors namens Sedaris und der Unfähigkeit seines Helden namens Sedaris mit vergleichsweise einfachen Anforderungen des Alltags zu Rande zu kommen: Ob es darum geht, nach mehreren Jahren Aufenthalt in Paris allein ein Restaurant zu besuchen oder friedlich mit Sitznachbarn in Flugzeugen auszukommen oder auch nur mit dem Taxifahrer small talk zu machen. Noch die harmloseste Begegnung mit fremden Leuten kann für ihn gepflastert sein mit Peinlichkeiten, weshalb er zu den aberwitzigsten Verrenkungen neigt, um alle potentiellen Fettnäpfchen zu vermeiden – dabei aber desto sicherer von dem einem ins nächste tritt. Doch das heißt nicht, dass Sedaris alter ego im Umgang mit vertrauten Menschen entspannter wäre. Zumindest nicht, wenn es sich um Familienangehörige handelt. Wie im Vorübergehen lässt Sedaris finsterste Konflikte in knappen Nebensätzen anklingen. Wenn er von seinem vertraulichen, fast zärtlichen Umgang mit Spinnen erzählt, heißt es unvermittelt: „Ich hatte diese Einstellung von meinem Vater, der nichts zerquetschte, das nicht unmittelbar mit ihm verwandt war.“ Oder wenn er von seiner Unfähigkeit berichtet, ein herzhaftes Lachen zu unterdrücken, schreibt er ganz unvermittelt: „Das hatte ich schon als Kind gelernt. Ich weiß auch nicht genau warum, aber nichts ärgerte meinen Vater mehr als das Lachen seiner Kinder. Wenn alle heulten, war das nicht weiter schlimm, aber lautes Gelächter hieß, es auf eine Bestrafung anzulegen.“ Angesichts solcher Seitenhiebe liegt die Versuchung nahe, den Ursprung von Sedaris’ liebevoll gehätschelten Unverträglichkeiten und Idiosynkrasien in offenbar wenig beglückenden Familienverhältnissen zu orten. Damit würde dann noch verständlicher, weshalb Sedaris auch in diesem Buch in immer neuen Geschichten seine Kindheitsjahre durchforscht. Es wirkt fast so, als sei er den biographischen Ausgangspunkt auf der Spur, von dem an er sich so ganz anders entwickelte, als die anderen Menschen, die in seinen Augen mit dem Leben besser zu Rande kommen als er. Vermutlich kann man, psychologisch gesprochen, darin eine Form von schreiend komischer Trauerarbeit sehen. Je nach Lesertemperament wird man den Akzent eher auf „schreiend“ oder auf „komisch“ legen – lachen aber wird man auf jeden Fall.

David Sedaris „Schöner wird’s nicht“. Aus dem Amerikanischen von Gregor Deggerich. Karl Blessing Verlag, München 2008. 320 Seiten, 19,95 €

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