Vom Geist zwischen den Vitrinen

 Zwei Ausstellungen versuchen dem Rätsel des Schriftstellers W.G. Sebald auf die Spur zu kommen

Der einzige Ort, an dem man einem Autor von Rang begegnet, ist sein Werk. Diese alte, ein wenig banale und doch unerbittliche Erkenntnis wird jetzt bestätigt von zwei Ausstellungen zum Werk von W.G. Sebald, dem 2001 bei einem Unfall umgekommenen Schriftsteller, der erst spät seine ersten Prosaarbeiten veröffentlichte, hohe Bewunderung für sie erntete und seit seinem Tode eine eigenwillige Karriere macht. Die Ausstellungen haben große Verdienste, sie wurden mit vorbildlicher Sensibilität und Sachkenntnis zusammengestellt. Beide sind auf ihre je eigene Weise rundum gelungen – und doch beschleicht einen bei ihrem Besuch ein Gefühl von Hilflosigkeit. „Wandernde Schatten“ heißt die ungleich größere der beiden, und sie wird im Marbacher Literaturmuseum der Moderne gezeigt. Es ist, wenn man zurückhaltend inszenierte Präsentationen von papierenen Dokumenten in Vitrinen mag, geradezu das Muster einer Literatur-Ausstellung. Ihre Voraussetzungen waren ungewöhnlich günstig: Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach konnte 2004 den schriftstellerischen Nachlass Sebalds übernehmen und dabei stellte sich heraus, dass dieser Autor den Bedürfnissen seiner neugierigen Nachwelt beispielhaft zugearbeitet hatte: 68 Archiv-Boxen enthielten von ihm vorgeordnete Materialien zu seinen Büchern – so als sei all das von ihm bereits mit Blick auf zukünftige Forschungsarbeiten zurechtgelegt worden. Über das private Leben des Menschen namens Sebald gibt es, betont der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Ulrich Raulff, dabei wenig zu entdecken. Sebald hat den Boxen seine Arbeitsmaterialien anvertraut und so geistert der Autor, obwohl die Ich-Erzähler seiner Geschichten ihm gelegentlich zum Verwechseln ähnlich sind, nur als Chimäre durch die Vitrinen. Das ist gut so, denn Sebald betrachtete seine Prosa nicht zuletzt als eine Einladung an die Leser in eine schwer greifbare Halbwelt zwischen Fakten und Fiktionen. Gezeigt werden unter anderem Stapel mit Bänden aus der rororo-Monographien-Reihe, die Sebald mit Vorliebe benutzte. Ihr Aufbau als Mischung aus Fotos, Zitaten und biographischem Text ist den Büchern Sebalds nicht unähnlich. Nur dass sich die Leser bei ihm nie sicher sein können, welche der erwähnten Lebensdaten seiner Figuren sich auf Realitäten beziehen und welche nicht. Die Ausstellung kann so mit den zahlreichen Dokumenten, von denen sich Sebald anregen ließ, ein schier endlos sich verästelndes Beziehungsgeflecht zwischen Arbeitsmaterialien und Prosa herstellen. Für jeden Sebald-Fan ist das natürlich ein Traum. Aber es ist ein vertrackter Traum: Denn obwohl die Kuratorinnen Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter ihre Archivschätze mit vorzüglicher Sorgfalt ausgebreitet haben, begreift man bald, dass nichts davon den speziellen Zauber von Sebalds Büchern vermitteln oder auch nur näher bringen kann. Es ist, als wollte man Bonbons lutschen, ohne sie auszupacken. Die Prosa dieses Autors lebt stärker noch als die vieler anderer von ihrer Ton. Nicht die Handlung seiner Geschichten, nicht ihre Figuren, Themen oder Motivketten machen sie so anziehend, sondern ihr getragener, ans Fin de siècle erinnernden Stil, ihre von Sebald gezielt mit sinnlichen Qualitäten aufgeladene Sprache. Folglich steht man vor den Vitrinen beglückt und unglücklich zugleich. Wie so oft in Sebalds literarischen Beziehungslabyrinthen glaubt man im ersten Moment zu verlässlichen Fixpunkten vorgedrungen zu sein, und muss sich dann doch eingestehen, dass die bei näherem Hinsehen wie zwischen den Fingern zerrinnen. An Lob für seine hochartifizielle Arbeit fehlte es Sebald nicht, doch zu einem populären Autor ist er nie geworden. Daniel Kehlmann, der jetzt für das Stuttgarter Literaturhaus zusammen mit dem Sebald-Biographen Mark M. Anderson ein Podiumsgespräch über Sebald bestritt, beklagt diese Zurückhaltung vieler Leser und einiger Kritiker hierzulande mit Vehemenz, denn in seinen Augen zählt Sebald zu den größten deutschen Schriftstellern seiner Zeit. Tatsächlich gehört es zu den Seltsamkeiten von Sebalds Autoren-Karriere, dass er schon vor seinem Tod und erst recht danach in USA und Großbritannien (wo er an der University of East Anglia in Norwich Germanistik lehrte) höhere Anerkennung genießt als bei uns. 2000 veröffentlichte Susan Sontag ein – allerdings nicht sehr gedankenreiches – Essay über seine Prosa und nach diesem intellektuellen Ritterschlag avancierten seine Bücher endgültig zu einem Lieblingsforschungsthema der angelsächsischen Literaturwissenschaft. Für die gehört Sebald heute „ganz selbstverständlich zur Weltliteratur“, wie Florian Höllerer, der Leiter des Stuttgarter Literaturhauses betont, das Sebald 2001 wenige Wochen vor seinem Tod mit einer Rede eröffnete. Diese Rede wurde zwei Jahre später vom „New Yorker“ nachgedruckt – eine Ehre, die nicht vielen deutschen Autoren zuteil wird, und die in unserem nach internationaler und insbesondere amerikanischer Anerkennung gierenden Literaturbetrieb mit einigem Raunen zur Kenntnis genommen wurde. Parallel zur Marbacher Ausstellung hat das Stuttgarter Literaturhaus dieser Rede nun ebenfalls eine – naturgemäß kleine – Ausstellung gewidmet, bei der es unter anderem auf Dokumente aus dem Sebald-Nachlass im Marbacher Archiv zurückgreifen konnte. Auch hier sind mit viel Liebe und Kompetenz Materialien zusammengetragen worden, die den Tatsachenhintergrund ausleuchten, auf die sich die Rede in einigen Passagen bezieht. Aber auch hier stellt sich wieder das Gefühl ein, dem schönen Rätsel dieses Autors letztlich doch nicht auf die Spur zu kommen. Diesem Rätsel begegnet man nur in seiner Prosa – und ein bislang unzugängliches, fast hundertseitiges Fragment davon wird jetzt im Katalog zur Marbacher Ausstellung ediert. 1995 war Sebald nach Korsika gereist, um ein essayistisches Reisebuch über die Insel vorzubereiten. Nach anderthalb Jahren Arbeit und einer zweiten Korsika-Reise betrachtete er das Projekt als gescheitert. Er experimentierte hier mit einer Tagebuchform, die sich für seine kunstvoll durchgearbeitete Sprache wenig eignete. Dennoch gab Sebald, als er das Manuskript schließlich resigniert beiseite legte, die Arbeit offenbar nicht vollständig verloren, denn manches davon tauchte schließlich in seinem letzten großen Buch „Austerlitz“ wieder auf.

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