Sprung ins Nichts

Das Politiker-Drama „Fratzen“ von Albert Ostermaier uraufgeführt in Mannheim  

Viele der heute in aller Medien-Öffentlichkeit ausgetragenen Dramen spielen unter Politikern. Zugegeben, mit dem rasanten Lieben, Sterben oder Morden feudaler Machthaber, wie wir es zum Beispiel in Shakespeares Stücken kennen lernen, kann sich das Gerangel auf unseren politischen Bühnen nicht messen. Manches davon hat es aber dennoch in sich: Die Niederlage Lafontaines gegen Schröder, sein abrupter Rücktritt und jahrzehntelanger Rachefeldzug gegen die SPD. Horst Seehofers vor allen Augen vollzogene Wahl zwischen Ehefrau und schwangerer Geliebter. Möllemanns und Westerwelles haarsträubende Polit-Clownerien, dann Möllemanns Sprung ins Nichts. Das Gerücht, Jörg Haider sei homosexuell und seine Fahrt aus einem Schwulenlokal in den Tod. Alles das in wenigen Jahren. Inspirierendes Material. Kein Wunder, wenn in jüngster Zeit unter Schriftstellern die Neigung wächst, zwar nicht der Politik, wohl aber Politikern eine Hauptrolle in ihren Büchern einzuräumen. Im vergangenen Jahr erschienen gleich mehrere Romane, die im politischen Milieu spielten. Dazu passt, dass Albert Ostermaier mit „Fratzen“ ein Politiker-Stück vorlegt, das jetzt von Burkhard C. Kosminski im Mannheimer Nationaltheater uraufgeführt wurde. Gezeigt werden Krankheit, Tod und Trauerfeier eines ehemaligen Spitzenkandidaten einer ungenannten Partei. Er heißt Rainer, nennt sich aber als Politiker René. Längerem Siechtum kommt Rainer zuvor, als er mit dem Auto unweit seines Heimat-dorfes an einem Baum zerschellt. Zur Beerdigung treffen aus der fernen großen Stadt vier Parteifreunde ein, die, wie üblich, manche Rechnung mit ihrem ehemaligen Mitstreiter offen haben und über dessen Ableben nicht nur erschüttert, sondern ebenso erfreut sind. Zu Ibsens Zeiten konnte ein Dramatiker sein Publikum vielleicht noch beunruhigen mit der Vorstellung, in der Vergangenheit eines großen Politikers verberge sich ein finsteres Geheimnis. Heute sind selbst Zeitungsleser von solchen Enthüllungen nur mäßig schockiert, der Theaterbesucher aber wartet regelrecht auf sie, sobald ein Autor Politiker auf die Bühne schickt. Also spielt Ostermaier das psychologische Drama der Entlarvung nicht mehr durch, sondern zitiert es nur noch. Zudem lässt er es sich effektvoll brechen an den Auftritten von Rainers ländlicher Verwandtschaft, die den kritischen Volksstücken von Kroetz, Sperr oder Fassbinder entlehnt sein könnten. Auch sie wirken wie Zitate, was durchaus folgerichtig ist: So wenig wie die Entdeckung eines weiteren korrupten Politikers heute das bürgerliche Weltbild ins Wanken bringt, so wenig dürfte auf dem Land inzwischen die Entdeckung, dass der Sohn des Wirts heimlich schwul oder die Tochter des Bauern unehelich schwanger ist, noch ultimative Lebenskrisen auslösen. Burkhard C. Kosminski bringt das alles nicht brillant, aber solide auf eine von Florian Etti gestaltete Bühne. Er konzentriert sich darauf, die Stärken von Ostermaiers Stücks herauszuarbeiten und enthält sich freundlicherweise der meisten Regietheater-Mätzchen. Bemerkenswert, wie gut die Schauspieler Haltung und Tonfall der tagtäglich im Fernsehen zu besichtigenden Politiker treffen: Jacques Malan spielt einen Technokraten, der jede Individualität so vollständig aus seiner Physiognomie verbannt hat, dass er nicht nur komplett verwechselbar, sondern als Person nahezu unsichtbar geworden ist. Er wirkt zunächst wie der Sachzwang auf zwei Beinen, weiß aber, sobald die Türen verschlossen sind, seine Interessen und Lüste mit äußerster Brutalität durchzusetzen. Edgar M. Böhlke spielt die gleiche, aber mit etwas mehr öffentlichkeitswirksamer Eleganz begabte Figur. Naturgemäß ist auch der Held Rainer letztlich ein Unreiner und Klaus Rodewald vergegenwärtigt eindrucksvoll wie sich da jemand, angesichts seines angekündigten Todes, über seinen eigenen jahrelang geübten Zynismus klar wird und rettungslos über sich erschrickt.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 10. März 2009

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„Aus dem Leben eines Lohnschreibers“ und „Zur Phänomenologie des arbeitenden Weibes“

Zwei neue Lieferungen mit kurzen, aber klugen Arbeiten von Joseph von Westphalen    Wer sein Buch „Aus dem Leben eines Lohnschreibers“ nennt und dann auch noch Joseph von Westphalen heißt, der will natürlich, dass jeder romantisch gebildete Leser sofort an Joseph von Eichendorff und „Aus dem Leben eines Taugenichts“ denkt. Das ist ganz schön frech, denn der neue Sammelband Westphalens kann sich mit Eichendorffs fabelhafter alter Novelle selbstverständlich nicht messen. Andererseits aber muss man diese Anspielung richtig und klug nennen, denn die Haltung, die aus Westphalen Büchern spricht, ist der von Eichendorffs Taugenichts sehr wohl verwandt: Seine heitere Offenheit der Welt und dem Leben gegenüber. Seine schwärmerische Begeisterung für die Frauen. Seine Freude an den Abenteuern, die der Künstler durch seine Kunst (beim Taugenichts das Geigespiel, bei Westphalen das Bucherschreiben) erleben kann. Solche Qualitäten sind in der deutschen Literatur heute nicht gerade im Übermaß verbreitet. Schon deshalb lesen sich Westphalens Romane und Erzählungen immer wieder erfrischend. In den Geschichten dieses Bandes konzentriert er sich auf Erfahrungen, die er allein deshalb machte, weil Schriftsteller üblicherweise nicht von der Kunst allein leben können und gelegentlich also Auftragsarbeiten zu erledigen haben. Wie oft hat man Autoren darüber Klagelieder anstimmen hören. Nicht so Westphalen: Er macht aus der Not nicht nur eine Tugend, sondern das Beste, was ein Schriftsteller daraus machen kann, nämlich Literatur. In bester Laune führt er eine Menge jener Absurditäten vor, die unser Kulturbetrieb für Autoren bereithält, die sich hin und wieder als Festredner, auslandsverschickte Kulturbotschafter, Werbetexter, Anthologie- und Zeitschriftenbeiträger oder Restaurantkritiker verdingen. Das wirft zum einen manches erhellende Schlaglicht auf Mechanismen unserer modernen Literaturbetriebsamkeit, zum anderen ist es oft sehr witzig. Joseph von Westphalen „Aus dem Leben eines Lohnschreibers“ Luchterhand Verlag, München 2008 251 Seiten, 8,00 € Als Verehrer der Frauen, als Sänger ihrer Schönheit, als Gefangener ihres Zaubers tritt Joseph von Westphalen in diesem Buch auf. Es ist, was für emanzipationspolitisch korrekte Seelen möglicherweise nicht restlos frauenfreundlich klingt, aus einer Kolumne für den „Playboy“ entstanden. Ein Jahr lang erzählte Westphalen in jeder Nummer des Hochglanzmagazins von höchst glanzvollen Begegnungen mit berufstätigen Frauen. Natürlich trägt die literarische Einbildungskraft des Autors ihn immer wieder aus der Kurve und man kann sich darauf verlassen, dass seine Heldinnen noch ein wenig schöner sind als im Leben üblich. Aber in Gegensatz zu dem Magazin, das die nackten Tatsachen liebt, erweist sich Westphalen hier als ein Schriftsteller, der die Kunst der phantasieanheizenden Andeutung beherrscht. Dazu zeigt er, welche neueren und lebenssteigernde Spielarten des Flirtens sich gerade aus der Tatsache ergeben können, dass man einer Frau heute im Amte einer Staatsanwältin, Anlageberaterin, Lateinlehrerin oder auch Taxifahrerin begegnen kann. Als Dreingabe wird zu allem Überfluss die eminente Frage geklärt: „Darf ein Mann weniger verdienen als seine Frau?“ Aus all dem ergibt sich unter dem Strich Ähnliches wie bei dem oben vorgestellten Buch: Die Geschichten werfen zum einen manches erhellende Schlaglicht auf Mechanismen unserer modernen Liebensbetriebsamkeit und zum anderen sind sie oft sehr witzig.

Joseph von Westphalen „Zur Phänomenologie des arbeitenden Weibes“ Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2009 187 Seiten, 9,90 €

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Locken und Socken

 „Autopsie Schiller“ – das Literaturmuseum der Moderne in Marbach zeigt eine kluge Ausstellung zu dem Reliquienkult um den Klassiker  

Als im 18. Jahrhundert der Einfluss der Religion und der Kirchen allmählich zurückging, stellten sich die Letzten Fragen umso hartnäckiger und unbehaglicher. So etwas wie ein allgemein verbindlicher Heilsplan, in dem jeder einzelne seinen Platz finden und aus dem er unhinterfragbare Handlungsrichtlinien beziehen konnte, wurde immer schmerzlicher vermisst. Also begann die Sehnsucht der Menschen nach letztgültigen Antworten, sich nach neuen Auskunftsgebern umzuschauen. Sie entdeckte – zumal in Deutschland – Kunst und Literatur als diesseitige Sinnstiftung. Neben den Heiligen der Kirche richtete sich der Wunsch nach Verehrung nun auf die Heiligen der Dichtung. Die aus nüchterner Sicht abwegige Vorstellung der Kunstreligion gewann eine immer machtvollere Anziehungskraft. Die große Ausstellung „Autopsie Schiller“ im Marbacher Literaturmuseum der Moderne wäre ohne diesen geistesgeschichtlichen Hintergrund nicht denkbar. Mit ihr begeht das Deutsche Literaturarchiv jetzt den Auftakt des Schillerjahrs 2009, in dem am 10. November der 250. Geburtstag des Klassikers gefeiert werden kann. Es ist eine befristete Wechselausstellung, die bis zum 4. Oktober zu sehen sein wird. Zum eigentlichen Jubiläumstag im November soll dann die umfangreiche Renovierung des Marbacher Schiller Nationalmuseums abgeschlossen sein, das – falls nicht Unvorhergesehenes die Bauplanungen durchkreuzt – mit einer neuen Dauerausstellung zum Dichterfürsten eröffnet werden wird. Zur Verehrung der kirchlichen Märtyrer und Heiligen gehörte immer der Reliquienkult. Die Gläubigen näherten sich voll Ehrfurcht den materiellen Spuren, die von den Heroen ihrer Religion auf Erden hinterlassen worden sind – nicht nur weil man in ihnen so etwas wie handfeste Beweise für die Existenz dieser Heiligen sehen konnte, sondern eher weil die Nähe zu der Aura der Reliquien bereits Erlösung zu versprechen schien. Diese Vorstellungen übertrugen sich im Laufe des 18. Jahrhunderts auch auf die neuen Sinnstifter, die Dichter. Nicht mehr nur deren immaterielle Schöpfungen, also ihre Dichtung, wurde überliefert, bewahrt und vergöttert, sondern ebenso die materiellen Überreste ihres Lebens – was in den Jahrhunderten zuvor als weitgehend unvorstellbar, ja unverständlich betrachtet worden wäre. Kein Wunder auch, dass nunmehr die Rolle des Märtyrers oft auf die Schriftsteller projiziert wurde, die sich aufopferten im Dienste ihres Werkes, und also zum Wohle des sinnbedürftigen Lesers. Dieser literarische, kunstreligiöse Reliquienkult begann nicht mit Schiller und Goethe. Aber er nahm nicht zuletzt aus politischen Gründen mit diesen beiden Großschriftstellern immer stärker Fahrt auf. Das in Kleinstaaten zersplitterte Deutschland konnte sich in ihnen und ihren Werken zumindest in geistiger Hinsicht als vereinte Kulturnation empfinden. So begann die Devotionalienjagd mit Blick auf ihre Personen bereits früh und steuerte im 19. Jahrhundert auf skurrile Höhepunkte zu. Dieser Leidenschaft verdankt das Deutsche Literaturarchiv eine ausufernde Sammlung mit Schiller-Reliquien, die nun den Leitfaden durch die neue Ausstellung bilden. Schillers Locken und Socken. Schillers Hut und Hose. Schillers Spiegel und Stirnband. Sein Löffel und Riechfläschchen. Seine Uhr und Weste. Seine Spazierstöcke und Schuhschnallen. Schillers Zahnstocher! Alles ist versammelt. Alles schien seinen Verehrern des Bewahrens, Bewunderns und Verherrlichens wert. Naturgemäß sollte man sich diesen Fragmenten eines Klassikerlebens nicht mit den strengen Echtheitserwartungen eines naturwissenschaftlichen Zeitalters nähern. Stammten alle Locken, die jetzt in Marbach zu sehen sind, tatsächlich von des Dichters Haupt, hätte er sowohl blond wie auch braun- und rothaarig sein müssen. Ob er tatsächlich mit den Karten spielte, mit den Federn schrieb oder sich auf die Stöcke stützte, die hier ausgestellt werden, ist mit letzter Sicherheit nicht zu sagen. In diesen Zweifeln hätte ein schwerwiegendes Problem für die Ausstellung liegen können. Kann man in den versammelten Bruchstücken aus Schillers Biographie, wenn sie biographische Authentizität oft nur sehr bedingt beanspruchen können, mehr sehen als eine Art Kuriositätensammlung naiver Dichteranbetung? Könnten sie heute überhaupt noch der angemessene Gegenstand einer großen Schau sein? Die Leiterin der Marbacher Literaturmuseen, Heike Gfrereis, hat diese Klippe einfallsreich umschifft, und aus einer Ausstellung von recht gewöhnlichen Gegenständen unklarer Herkunft eine Literaturausstellung gemacht. Sie hat die Devotionalien nämlich lediglich als Aufhänger betrachtet, als Einladungen, um bestimmten Motiven in Schillers Werk und über Schillers Werk hinaus in den unermesslichen Manuskript-Schätzen des Deutschen Literaturarchivs nachzugehen. Zum Beispiel: Schillers Hut nimmt sie zum Anlass, Belege dafür vorzustellen, welche Rolle der Hut in Schillers Werk spielt. Dass Geßlers Hut auf einer Stange in Schillers „Wilhelm Tell“ eine zentrale Rolle spielt, sollte selbst heute noch zum Allgemeinwissen gehören. Doch wer wüsste zu sagen, dass ein Hut auf einer Stange schon auf der Titelabbildung eines Buches aus Schillers Bibliothek zu sehen war? Und zwar auf dem fünften Band von Goethes „Schriften“ aus dem Jahr 1790, also fast 15 Jahre bevor Schiller seinen „Tell“ schrieb. Die Abbildung ist eine Anspielung auf die letzte Szene von Goethes „Egmont“, in der eine himmlische Vorbotin des Todes dem eingekerkerten Egmont „den Stab mit dem Hute“ darauf zeigt. Vom Stirnband Schillers, das er in früher Vorwegnahme der Akupressur gelegentlich gegen Kopfschmerzen um den Schädel band, ist es für Heike Gfrereis wiederum nicht weit zu der Gewandbüste, der gerade fünfunddreißigjährige Schiller von sich anfertigen ließ. Diese wahrhaft hoheitliche Form der Darstellung war, so kann die Kuratorin zeigen, schon vor Schiller aus dem Repertoire der antiken und barocken Herrscherporträts für Bildnisse von Schriftstellern übernommen worden. Das Ergebnis begeisterte Schiller in seinem Fall nicht ohne kräftige Beimischung von Selbstverliebtheit: „Ganze Stunden könnte ich davorstehen“, schrieb er an den Bildhauer Dannecker, der die Büste angefertigt hatte, „und würde immer neue Schönheiten an dießer Arbeit entdecken.“ So ist eine Ansammlung von zweifelhaften lebensgeschichtlichen Zeugnissen durch kluge Ergänzungen zu einer sorgsam arrangierten ideengeschichtlichen Ausstellung erweitert worden, die mit Überraschungen aufwarten kann. Höhepunkte sind allerdings nicht zuletzt jene Stücke, in denen sich beide Aspekte, Lebens- sowohl wie Ideengeschichte, zwanglos vereinen. Gezeigt wird zum Beispiel das Arbeitsexemplar von Kants „Kritik der Urteilskraft“ aus Schillers Bibliothek. Selbst ein Betrachter mit wenig Bereitschaft zu sentimentalen Anwandlungen spürt hier einen Hauch von Aura. Wohl kein anderes Buch gewann für die Poetik Schillers und seine Essays solche Bedeutung wie dieses. Man sieht die Striche, die Randbemerkungen Schillers und glaubt sich einen Moment ganz nahe jenem Fluss der Ideen, in dem sich Literaturgeschichte manifestiert.

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„Requiem für einen Hund“

Kehlmann und die Komik

Die Aufregung um Daniel Kehlmanns neuen Roman ist groß. Und das zu Recht in meinen Augen. Denn „Ruhm“ ist ein hoch intelligentes und packendes, ein sehr komischen und zugleich sehr ernstes Buch. Bei seinem Erscheinen stieg es gleich auf Platz Eins in die diversen Bestsellerlisten ein und hält sich in der Spitzengruppe. Die Verkaufszahlen sind, meldet der Verlag, sechsstellig. Da bleibt nur, dem Autor zu seinem zweiten großen Wurf in Folge und allen Lesern zu diesem Autor zu gratulieren. Doch im Rummel um „Ruhm“ droht ein anderes, ein schmales Buch von Kehlmann unterzugehen. Was schade wäre. Mit Sebastian Kleinschmidt, dem Herausgeber der Zeitschrift „Sinn und Form“, hat er zwei lange Gespräche geführt, die unter dem Titel „Requiem für einen Hund“ erschienen sind. Kehlmanns Hund Nutschki begleitete die Gespräche schweigend und starb kurz darauf, weshalb Kehlmann und Kleinschmidt ihm das Bändchen widmeten. Die beiden treiben hier nicht das übliche Frage-Antwort-Spiel des Interviews. Sie lassen sich auf einen konzentrierten Dialog über literaturtheoretische Fragen ein. Wieder einmal zeigt sich, dass Kehlmann nicht nur kluge Romane zu schreiben versteht, sondern auch Kluges über die Kunst des Romans zu sagen hat. Meist werden sich Kleinschmidt und er schnell einig. Doch in einem, wie ich finde, aufschlussreichen Punkt bleiben mehr Fragen offen, als Antworten gefunden werden. Kehlmann hat oft beschrieben, wie glücklich er war, als es ihm in „Ich und Kaminski“ (2003) erstmals gelang, seinen Romanen ein dezidiert komisches Element hinzuzufügen. Da er mit diesem Buch dann bei Kritikern wie Lesern auch seinen ersten großen Erfolg erzielte, liegt der Verdacht nahe, dass gerade dieser Sinn für Komik seine Arbeit auf ein neues literarisches Niveau hob. Kein Zufall also, dass Kleinschmidt und Kehlmann in ihrem Gespräch lange um eine Definition des, wie sie sagen, „Humors“ ringen – obwohl Humor wohl eher die Gabe eines Menschen bezeichnet, Komisches zu genießen, nicht aber das Talent, Komik zu erzeugen. Lehrreich scheint mir, dass Kleinschmidt versucht, zwischen guter und schlechter Komik zu unterscheiden, dass er mit einem ethischen Argument in eine ästhetische Diskussion eingreift: „Entscheidend ist, das der Humor seinen Vorteil nicht auf Kosten seines Gegenstandes oder seines Gegenübers erringt.“ Er wirbt mit Fontane für die „verklärenden Macht des Humors“. Kehlmann dagegen verteidigt den „eisigen Sarkasmus“, den „eisigen Humor“. Tatsächlich juckt es einen als Leser ja wenig, wenn in einem Roman Pointen auf Kosten einer naturgemäß fiktiven Romanfigur gemacht werden. Wichtig ist nur, ob die Pointe schlagartig etwas über die Figur klar macht – und sie eben nicht verklärt. Ein kleiner Dialog nur, aber er verrät doch viel über die tief sitzende Bereitschaft hierzulande, die Literatur zuallererst unter moralischen, statt unter ästhetischen Gesichtpunkten zu betrachten.

Daniel Kehlmann und Sebastian Kleinschmidt: „Requiem für einen Hund“. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2008 132 Seiten, 12,80 €

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„Hurra, die Krise ist vorbei“

Das neue Buch von Greser & Lenz und ihre Ausstellung im Frankfurter Museum für komische Kunst

Politische Karikaturen werden gewöhnlich von Politikern bevölkert. Oft genug sind sie darauf mit nur vager Ähnlichkeit porträtiert, dafür aber in höchst eindeutigen Positionen, etwa wie sie an den Stühlen ihrer Gegenspieler sägen, Bürgern die Geldbörsen aus der Tasche ziehen oder Spritzen setzen bei Gestalten, die über der Brust wahlweise Aufschrift wie „Banken“, wie „Krankenkassen“ oder auch „Autoindustrie“ tragen. Nüchtern betrachtet sind das keine Karikaturen, sondern platte Illustrationen von eher platten Gedanken zu tagespolitischen Vorgängen – und leider sind sie nur selten komisch. Wie gründlich und erfolgreich das Zeichner-Duo Greser & Lenz mit dieser Tradition der deutschen Karikatur gebrochen hat, ist jetzt in der großen Ausstellung „Hurra, die Krise ist vorbei“ im Frankfurter Museum für komische Kunst zu besichtigen. Das Museum bezog erst im vergangenen Oktober sein eigenes Haus. Doch in dem Vierteljahr seither hat es mit seiner Eröffnungsausstellung zum Werk des früh verstorbenen Cartoonisten Bernd Pfarr mehr Besucher angezogen als zuvor in einem ganzen Jahr, als es noch unterm Dach des Historischen Museums Frankfurts untergebracht war. Die neue Institution ist nicht nur für die Stadt, sondern weit darüber hinaus zu einem attraktiven Zentrum für die komische Spielart der bildenden Kunst geworden. Auf den Zeichnungen von Greser & Lenz sind selten die gewählten Amtsträger des Landes, die Parteivorsitzenden, Kanzler oder Präsidenten zusehen. Hier mal ein Seehofer, da mal ein Schröder, Merkel fast nie. Vielmehr geben die beiden dem demokratischen Souverän die Ehre, also dem Wahlvolk selbst. Wenn also wieder einmal von der Kostenexplosion im Gesundheitswesen und der Überproduktion in der Landwirtschaft die Rede ist, tritt in ihrem entsprechenden Bilderwitz weder der Gesundheits- noch der Landwirtschaftsminister auf, sondern ein kränkelnder Bauer, dem sein Arzt eröffnet: „Die Behandlung wird Ihrer Kasse zu teuer. Sie hat mir eine Stilllegungsprämie für Sie in Aussicht gestellt.“ Oder wenn neue beunruhigende Zahlen zur Altersarmut die Runde machen, ist auf ihrer Karikatur keiner der unvermeidlichen Sozialpolitiker zu sehen, sondern eine gebeugte Gestalt mit Gesichtsmaske, Pistole und Gehilfe, die den Apotheker bedroht: „Eine Tube Hämorrhoiden-Salbe, 20 Viagra und ein Liter Herztropfen, aber dalli.“ Ein entscheidender Vorzug der Karikaturen von Greser & Lenz ist, das sie nachweislich komisch sind. Sie bringen, was auch bei der Eröffnung der Ausstellung nicht zu überhören war, die Betrachtet tatsächlich zum Lachen. Die beiden – im bürgerlichen Leben Achim Greser und Heribert Lenz – haben ihrer kleine Zeichnungs-Manufaktur den Namen „Witze für Deutschland“ gegeben, und damit nicht übertrieben. Gnadenlos nutzen sie die Fallhöhe zwischen der angeblich so hoher Politik und der Banalität des gewöhnlichen Lebens. Das Ergebnis ist nicht immer rundum feinsinnig und schon gar nicht politisch korrekt. Aber lustig. Wenn es in den Schlagzeilen heißt, Deutschland profitiere von eingewanderten Fachkräften, zeichnen sie den afrikanischen Medizinmann Mbongo, wie er mitten in der deutschen Provinz mit Knochen in der Hand beschwörend ums Lagerfeuer tanzt, während der moribunde Patient „Ach, Herr Docktor“ haucht, „ich bin ja so froh, dass die Praxis endlich wieder besetzt ist. Vor entschlossenen Typisierungen schrecken Greser & Lenz nicht zurück. Jeder Neonazi hat bei ihnen ein Stiernacken und ist sofort als Schläger zu erkennen. Jeder Chef fährt Mercedes, jeder Bayer trinkt Bier und jeder Koch ist fett. Klischees wollen sie nicht durchbrechen, sondern benutzen. Denn erst durch Vereinfachung kann die schnell Pointe zünden. Wenn sie den gesamten Vorstand der Deutschen Bank wegen der Finanzkrise sparsam vor einem Kiosk tagen lassen, dann trägt Josef Ackermann natürlich Unterhemd, Trainingshose und Sandalen, wenn er für seine Leute bestellt: „Zwei Dosen Bier und eine Quittung fürs Finanzamt“. Der einzigen Weltanschauung, der sich Greser & Lenz verpflichtet fühlen, der einzige Gott, dem sie opfern, ist die Komik. Ansonsten werden Rücksichten nicht genommen. Die Organisation, die bei ihnen Senioren für höhere Rente demonstriert, trägt den schönen Namen „herz attac“. Im Terrorcamp werden die Taliban neuerdings zu Investmentbankern ausgebildet: „Derivate und Zertifikate, viel gutt!“ Und vor der Amtsübernahme des neuen amerikanischen Präsidenten wird das Weiße Haus schon mal schwarz angestrichen. Doch wer auf ihren Karikaturen nicht nur den Witz sucht, sondern genauer hinschaut, erkennt rasch, dass Greser & Lenz trotz aller Frechheit einen oft sehr zarten Blick auf die Welt pflegen. Seit etlichen Jahren liefern sie rund sieben Bilderwitze wöchentlich ab. Mit vielen davon arbeiten sie an einer liebevollen optischen Bestandsaufnahme des deutschen Alltags. Wie heutzutage und hierzulande Werkhallen und Villen, Kirchen und Kneipen (diese wunderbaren Kneipen!), Behörden oder Bahnhöfe Wohnstuben und Supermärkte aussehen – auf ihren Karikaturen ist es in knappster Form eingefangen Greser & Lenz: „Hurra, die Krise ist vorbei!“ Kunstmann Verlag, München 2009 191 Seiten, 18,90 €

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„Empörung“

Philip Roth über die fünfziger Jahre und die Kleinigkeiten, die das Leben entscheiden

Wir schreiben das Jahr 1951. Marcus Messner lebt in Newark, New Jersey, ist 18 Jahre alt und Jude. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, sein Vater ist koscherer Metzger, kein sehr religiöser, aber ein solider, gewissenhafter Mann. Marcus hat die High School mit glänzenden Noten abgeschlossen und soll als erster seiner Familie ein College besuchen. In der Zeit zwischen Abschluss der einen und Beginn der anderen Schule arbeitet er im Geschäft seines Vaters. Nach fünf, sechs Stunden ist er erschöpft, und sieht, wie sein Vater unermüdlich weiterarbeitet, Rindehälften zerteilt, Fleisch zurechtschneidet, die Kundschaft bedient. Auch Marcus muss durchhalten, denn am Ende jedes Tages soll er die Metzgerklötze mit der Eisenbürste abschrubben, soll das Blut wegkratzen, damit der Laden koscher bleibt. In diesen Wochen ist Marcus dem Vater näher als je zuvor oder danach, er liebt und bewundert ihn. Doch schon kurz darauf machen sich beide gegenseitig das Leben zur Hölle. Als College-Student braucht und nimmt sich Marcus erste Freiheiten. Sein Vater aber ist so ängstlich besorgt um sein einziges Kind, dass er ihn mit Verboten überhäuft, jeden seiner Schritte zu kontrollieren versucht und auf alle Ansätze zu größerer Selbstständigkeit mit irrationaler, hysterischer Wut reagiert. 1951 war Philip Roth, der die Geschichte von Marcus Messner in seinem neuen, großartigen Roman „Empörung“ erzählt, 18 Jahre alt und ist als Jude in Newark, New Jersey, aufgewachsen. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, sein Vater war zwar kein Metzger, sondern Agent einer Versicherung, aber Konflikte mit ihm sind auch Roth nicht erspart geblieben. „Er war nicht irgendein Vater, er war der Vater mit allem, was es an einem Vater zu hassen gibt und allem, was es an einem Vater zu lieben gibt“, schrieb Roth in seinem Buch „Mein Leben als Sohn“. Dass uns Roth mit Macus so etwas wie einen jugendlichen Doppelgänger seiner selbst vorstellt und in „Empörung“ eine Art Alternativbiographie entwirft, liegt auf der Hand. Eine Alternativbiographie jedoch, bei der sich alles zum Schlechten wendet. Marcus Messners Leben endet in der Katastrophe – und ist schon deshalb ein literarisch dankbarer Stoff. Wie Roth in seiner Jugend so ist auch Marcus ein exzellenter Student und wie Roth es oft genug bei sich selbst beschrieb, neigt auch Marcus zu einer ungeheuren Intensität: Was immer er für ungerecht oder unsinnig hält, reizt ihn zu radikalem Widerspruch, zur Empörung. Er ist mit hoher Intelligenz, aber mit wenig diplomatischer Zurückhaltung gesegnet. Eigenschaften, mit denen Roth seine Karriere als Schriftsteller beförderte, Marcus aber nach Kräften das eigene Verderben. Da die Konflikte mit dem Vater zu eskalieren drohen, sucht sich Marcus ein College, das mehrere hundert Meilen von New Jersey entfernt ist. Da er sich mit der ihm eignen Intensität aufs Studium wirft und durch nichts ablenken lässt, ist er unter seinen Kommilitonen bald ein Außenseiter. Da er in Liebensdingen keine Erfahrung hat, stürzt ihn seine erste Freundin – sie ist sexuell ebenso weitherzig wie psychisch gefährdet – in heillose Verwirrung. Da er im College regelmäßig religiöse Predigten besuchen muss, obwohl er sich als Atheist empfindet, bezahlt er einen Strohmann, der für ihn diese Veranstaltungen absitzt. Da der Schwindel auffliegt, wird er vom College verwiesen, als Soldat zum Koreakrieg eingezogen und stirbt, gerade 19-jährig, in einem Schützenloch, aufgeschlitzt vom Bajonett eines chinesischen Soldaten. Ist es eine Sünde wider den Leser, den Tod des Helden schon in einer Rezension zu verraten? In diesem speziellen Fall nicht. Denn Roth macht fast von Beginn seines Buches an kein Geheimnis aus dem Ende seiner Hauptfigur. Er lässt Marcus selbst die Geschichte seines kurzen unglücklichen Lebens berichten, aber Marcus erzählt sie „Unter Morphium“, wie ein vorangestellter Titel verkündet. Er liegt bereits tödlich verletzt im Schützenloch, weiß, dass er sterben wird, und nur weil das Morphium seine Schmerzen unterdrückt, bleibt ihm noch eine Frist, in der er die einzigen beiden Jahre seines erwachsenen Lebens an sich vorüberziehen lassen kann. Mit diesem erzählerischen Kunstgriff nimmt Roth seiner Geschichte etwas von ihrer möglichen Spannung. Doch verschiebt er damit die Aufmerksamkeit des Lesers von der Frage, ob sich Marcus der drohenden Einberufung zum Koreakrieg entziehen kann, frühzeitig auf die Frage, wodurch sich das Leben dieses so jungen, so begabten Mannes entscheidet. Natürlich ist die Versuchung groß, in Marcus ein Opfer zu sehen. Ein Opfer der übersteigerten Ängste seines Vaters, der muffigen, sexualfeindlichen Atmosphäre der fünfziger Jahre und vor allem der nicht nur in religiöser Hinsicht engstirnigen Studienordnung des Colleges. Roth hat das College nach Winesburg, Ohio verlegt, was naturgemäß als Hommage an Sherwood Andersons Erzählungs-Zyklus „Winesburg, Ohio“ zu verstehen ist. Marcus hat dort zudem einen Studentenjob in einem Gasthaus namens New Willard House, das offenkundig nach George Willard, Andersons Hauptfigur, benannt ist. Doch Roth ist ein viel zu intelligenter, ein für Zwischentöne viel zu empfänglicher Schriftsteller, als dass er Marcus schlicht und einseitig zum Opfer stilisierte. Ihn interessiert nicht nur, dass Marcus an den Hindernissen scheitert, die ihm das Leben in den Weg stellt, sondern mindestens ebenso sehr, wie Marcus auf diese Hindernisse regiert und dabei am eigenen Scheitern mitarbeitet. Auf den vernagelten Kontrollzwang seines Vaters reagiert er mit vernagelten Unabhängigkeitserklärungen. Auf die Freizügigkeit seiner Freundin erst mit überspannter Scheu, dann mit überspannten Liebesschwüren. Auf die bornierten Vorschriften des College mit jähzornigem Abscheu. Der Höhepunkt des Romans ist ein 25-seitiger Dialog zwischen Marcus und dem Dean des Colleges, der für die soziale Betreuung der Studenten zuständig ist. Wie Roth hier nicht nur das geistige Klima jener Jahre, sondern vor allem die Charaktere der beiden Figuren herausarbeitet, ist meisterhaft: Marcus, der sich zunächst nicht in die Karten schauen lassen will, der dann berechtigten Widerspruch erhebt gegen die Verpflichtung, Gottesdienste zu besuchen, und sich in Rage redet, der sich schließlich zu einem zornigen Prediger des Atheismus wandelt und dabei alle Regeln taktischer Klugheit sowie viele Grenzen elementarer Höflichkeit aus dem Blick verliert. Andererseits der Dean, der unter dem Deckmantel väterlicher Fürsorge Marcus seine Macht und seine Vorbehalte gegen Juden spüren lässt, der so tut, als seien seine Fragen von Anteilnahme bestimmt, aber Marcus letztlich einem gnadenlosen Verhör bis in die intimsten Bereiche zu unterziehen versucht. Man kann „Empörung“ also als alternativen, tragischen Lebenslauf von Philip Roth betrachten, den er sich zurechtgeschneidert hat unter dem Gesichtspunkt, was ihm hätte blühen können, wenn an entscheidenden Punkten seiner Biographie ein paar Kleinigkeiten anders gelaufen wären. Man kann ihn ebenso gut als Roman über das Unglück lesen, das die Spießigkeit und Prüderie der Fünfziger im Leben vieler Menschen anrichtete. Doch darüber hinaus hat das Buch noch einen überzeitlichen, fast mythische Motivstrang, der durch leichthändig in die Handlung eingewobenen Bilder und Symbole getragen wird. Immer wieder ist von Blut, von Messern und vom Schlachten die Rede. Marcus’ Vater, der Metzger watet beim Schlachten buchstäblich im Blut. Er weiß von Berufswegen, wie verletzlich das Leben ist, wie wenig es braucht, dass ein Messer fehlgeht und unwiderruflichen Schaden anrichtet. Davor will er seinen Sohn bewahren und es ist in der Symbolsprache des Romans kein Zufall, dass er Marcus allabendlich die Aufgabe zuteilt, die Metzgerklötze vom Blut zu reinigen. Doch wie es die absurde Logik des Schicksals will, sorgt sein verzweifelter Drang, den Sohn zu behüten, für eben den Anlass, der den Sohn aus dem Haus treibt und schließlich zum Schlachtopfer, zum Opfer der Bajonett-Schlachten des Koreakrieges werden lässt. Am Ende ist es dann der Sohn, der im Blut watet, dem eigenen und dem seiner Kameraden. Zugegeben, das klingt reichlich düster und wenig erfreulich. Tatsächlich ist „Empörung“ kein sonnig-wonniger Roman. Doch zum besonderen Rang eines Schriftstellers wie Philip Roth gehört, dass er den Lesern Vergnügen auch an tragischen Gegenständen zu verschaffen versteht. Die Klarheit seiner Sprache, die Dichte der Atmosphäre, die Plastizität seiner Charaktere – dieser Roman eines inzwischen 75-Jährigen ist kein Alterswerk, sondern hat die Energie, die Frische, ja nicht zuletzt die Empörung eines großen Erzählers in seinen besten Jahren. Und dazu den Witz. „Es geht um das Leben, wo der kleinste Fehltritt tragische Folgen haben kann“, sagt der Vater. „O Gott“, antwortet der Sohn, „du redest wie ein Glückskeks.“ Viele der Romane, die Philip Roth in den vergangenen 10 oder 15 Jahren veröffentliche, wurden – zu Recht – Meisterwerke genannt. So viele, dass sich der Begriff mit Blick auf seine Bücher abzunutzen beginnt. Lassen wir ihn also beiseite und ziehen stumm den Hut.

Philip Roth: „Empörung“. Roman
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz Hanser Verlag, München 2009 202 Seiten, 17,90 €

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Ein Balzac des modernen Amerika

Der große Romancier John Updike ist tot

Gerade mal 23 war John Updike, als ihn der „New Yorker“ als Reporter engagierte. „Talk of the Town“ hieß die Rubrik, für die er zuständig war: „Man wies mir ein Büro im siebzehnten Stock zu, wo ich zwischen den Damen saß, die die Daten für ‚On und Off the Avenue’ zusammenstellten. Zu meiner Ausrüstung gehörte ein Stahlschreibtisch, offizielles Briefpapier und ein Telefon“. Lange hielt es Updike nicht an diesem Stahlschreibtisch. Nach nur zwanzig Monaten verließ er die Zeitschrift, um von nun an „von meinem Verstand und meinem Schreiben zu leben“. Dennoch darf man William Shawn, dem legendären Chefredakteur des „New Yorkers“, zu seiner Weitsicht gratulieren. Denn letztlich kreiste die literarische Arbeit John Updikes, mit der er zu einem Schriftsteller von Weltrang aufstieg, lebenslang um „Talk of the Town“, ums Stadtgespräch, um die gewöhnlichen Zwischenfälle, um die scheinbaren Banalitäten, die das Leben ausmachen. Updike, der am 27. Januar 2009 im Alter von 76 Jahren an Lungenkrebs starb, ist so zum überragenden Chronisten der amerikanischen Gesellschaft geworden. Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie der Mittelstand zwischen New York und Arizona, zwischen Florida und Kansas lebte und liebte, wie man in der Kennedy-Zeit, den Jahren des Vietnamkriegs oder der Reagan-Ära, in der Epoche des New Age, der Yuppies oder Baby-Boomer begehrte, betrog und büßte, kommt um die Lektüre von Updikes Bücher nicht herum. Es ist nicht übertrieben, ihn den amerikanischen Balzac der vergangenen fünfzig Jahre nennen. Über 20 Romane und rund ein Dutzend Bände mit Erzählungen und Kurzgeschichten umfasst seine Comédie Humaine. Er hat die feinen Zwischentöne und oft unfeinen Fantasien, die eingebildeten oder verleugneten Krisen im Seelenleben des durchschnittlichen Wohlstandsbürgers nicht einfach nur nachgezeichnet – er hat sie mit seiner Kraft des Erzählens überhaupt erst sichtbar gemacht und damit ins allgemeine Bewusstsein gehoben. So darf man ihn, John Updike, zu jenen Autoren zählen, in deren Büchern das Bild des 20. Jahrhunderts für die Nachwelt nicht nur eingefangen, sondern überhaupt erst geformt wurde. Wer ihn deshalb als nüchternen Realisten bezeichnen wollte, machte es sich zu leicht. Updike entstammte nicht wie Hemingway der Schule der lakonisch knappen Storyteller. Zu seinen literarischen Ahnen zählt viel eher Vladimir Nabokov mit seiner hoch verfeinerte Prosa und dem Mut zu überraschenden Metaphern und stilistischem Prunk. Ein beträchtlicher Reiz der Romane Updikes liegt darin, dass er sich mit enormer sprachlichen Artistik und Intelligenz über die scheinbar trivialsten Moden und beiläufigsten Gewohnheiten der jeweiligen Zeit beugte, und sie in Literatur zu verwandeln verstand. Er war ein Genie der erzählenden Gegenwarts-Deutung, ein Genie der Gegenwarts-Entschlüsselung in Geschichten. Von Beginn an unumstritten war er trotz dieser Gaben nicht. Sein Roman „Ehepaare“ wurde zu einem veritablen Skandalbuch. Er beschrieb Ehebruch und Partnertausch in einer Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste mit solcher Freude zumal am sexuellen Detail, dass die Tugendwächter auf beiden Seiten des Atlantiks wieder mal den Untergang des Abendlandes nahen sahen. Wer das Buch heute liest, erkennt darin ein bestechend genaues Porträt der liberalen Hoffungen und Illusionen, die sich bis heute mit dem Namen Kennedys verbinden. Es gibt wohl kein zweites Stück Literatur, dass die Stimmung des gesellschaftlichen Aufbruchs jener Jahre so genau einfängt wie dieses. Doch wer sich dem raschen Wechsel der Moden und Trends so gründlich widmet, wie Updike es tat, der ist schärfer noch als andere konfrontiert mit der Erfahrung des Verschwindens und der Vergänglichkeit. Tief in seinem Inneren ist dem Werk Updikes vom Wissen um das Verwehen der Zeit, um die Endlichkeit des Lebens beherrscht. Auch wenn er Tod und Sterben selten ausdrücklich schildert, werden Updikes Figuren doch getrieben von unheilbarer Todesfurcht. Vor allem deshalb haben Sie ein niemals unproblematisches, ein oft zweiflerisches, aber ein immer bewusstes Verhältnis zu Gott. „Religion führte und führt“, schrieb Updike, „eine hilfreiche Randexistenz, sie gibt mir Hoffnung und die Gewissheit auf eine Belohnung jenseits der Gegenwart“. Keiner seiner Romane hat etwas vom frommen Traktat, und dennoch gehörte Updike unzweifelhaft zu den wenigen christlichen Schriftstellern der modernen Weltliteratur. Updike hat viele große Bücher geschrieben. Doch ins kollektive Gedächtnis nicht nur Amerikas ist er eingegangen mit einer Jedermann-Figur, mit dem Verkäufer und Geschäftsmann Harry Angstrom, genannt Rabbit. 1960 erschien der Roman „Rabbit, run“ und machte Updike so berühmt, dass, erzählte er einmal, Unbekannte noch Jahrzehnte später wie eine Losung „Rabbit, run“ murmelten, wenn sie an ihm vorübergingen. Der Roman erzählt von einem einfachen Mann, der wenig hat, auf das er stolz sein könnte. Früher war er ein passabler Basketballspieler, das ist schon alles. Ansonsten ist Rabbit nicht besonders klug, nicht besonders fleißig, hat viel zu früh geheiratet, weil ein Kind unterwegs war, aber keine Lust auf Arbeit und Alltag. Er betrügt seine Frau, die im Alkohol versinkt, ist dumm genug auch seine Geliebte zu schwängern und steht schließlich, als seine Frau betrunken das Kind beim Baden ertrinken lässt, in den Trümmern eines gründlich verpfuschten Lebens. White Trash. Nichts ist schwerer zu erzählen als das Unspektakuläre. Wie Updike diese, vom Tod des Kindes abgesehen, betont banale Biographie in einen fesselnden Roman von anrührender Lebensklugheit verwandelt, ist reines literarisches Hexenwerk. Dieser Rabbit, der amerikanische Jedermann der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ließ weder den Autor noch seine Leser los. Im Abstand von jeweils zehn Jahren schrieb Updike drei weitere Romane über dieses Durchschnittsleben. Zusammen sind die Rabbit-Bücher einer der Höhepunkte der internationalen Literatur unserer Epoche. Sie entwerfen über dreißig Jahre hinweg ein nicht nur gnadenlos bitteres, sondern ebenso zart mitfühlendes Porträt eines Menschen und eines ganzen Landes. Bleibt noch die leidige Geschichte mit dem Literaturnobelpreis zu berichten. Spätestens Anfang der achtziger Jahre, nach den ersten drei Rabbit-Romanen, und Meisterwerken wie „Ehepaare“, „Der Zentaur“ oder „Der Coup“ war klar, dass Updike in die Reihe der größten lebenden Schriftsteller seiner Zeit gehörte. Doch das Nobelpreiskomitee entschied sich alljährlich für andere Autoren. Also hat Updike diese Auszeichnung nie bekommen. Doch wirft das keinen Schatten auf sein Werk. Auch andere unbestrittene Riesen der Literaturgeschichte wie Joyce, Nabokov oder Borges wurden von der Nobel-Jury übersehen. Die einzigen, deren Ruf darunter leidet, sind die Juroren und ihr Nobelpreis.

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„Warum wir also hier sind“

Fragt Michael Lentz im Frankfurter Schauspielhaus und gibt eine groteske Antwort  

Es beginnt in zeitgemäßer Boheme-Atmosphäre. Eine Dachstube mit Fensterschräge. Bücher überall: auf Boden, Stühlen, Tischen. Dafür im Bücherregal ein Paar rosa Pumps. Gleich zwei Schreibmaschinen warten auf die Meisterwerke, die auf ihnen entstehen sollen. An der Wand Tapete im 60iger-Jahre-Chic und eine riesige Zettel-Collage. Die Bewohnerin dieser Poeten-Klause schläft auf ihrem Arbeitstisch. Und ein in den Hintergrund projizierter Traumkopf spricht zu ihr die herrischen Worte: „Erhebe dich und schreibe!“ Regisseur Niklaus Helbling und Bühnenbildner Dirk Thiele haben präzise Arbeit geleistet. Das alte Drama vom Künstler, der mit seiner Kunst kämpft, von der Dichterin, die mit der Dichtung ringt, ist gleich im ersten Bild eingefangen. Helbling spitzt all das aber noch mit einem Detail zu: Als die Schläferin – sie heißt Friederike und wird gespielt von Sabine Waibel – erwacht und die Decke zurückschlägt, werden ihre weißbandagierten Handgelenke sichtbar. Dieser Spitzboden ist kein Spitzwegsches Idyll, von dieser Armen Poetin wird der Kampf um die Kunst offenkundig mit selbstmörderischem Ernst und bis aufs Messer geführt. Das neue Stück von Michael Lentz, das er für das Schauspiel Frankfurt geschrieben hat, beginnt schwarz in schwarz: „Was ist noch schlimmer als das Sterben?“ fragt Freundin Amalia. Und Friederike antwortet: „Das Leben ist noch schlimmer als das Sterben.“ Auch Literatur oder Liebe versprechen keine Rettung mehr aus dieser Finsternis. Zu groß ins Friederikes Misstrauen gegen die Sprache und die Männer geworden. Als Amalia ihr erfundene Liebesbriefe zustellen lässt durch einen bestochenen Briefträger, sind nicht nur Friederikes Erwartungen an den Inhalt, sondern auch ihre Gewissheit, enttäuscht zu werden, so groß, dass sie die Briefe lieber ungelesen zerreißt. Auf diese Weise hätte Lentz sein Stück problemlos als Friederikes ausweglose, aber eintönige Geschichte einer Krankheit zum Tode fortsetzen können. Doch glücklicherweise gibt er sich damit nicht zufrieden. Vielmehr lässt er drei von Friederike verehrte Größen der Literaturgeschichte, den Frühromantiker Johann Wilhelm Ritter, den Vormärz-Dramatiker Christian Dietrich Grabbe und den Dada-Dandy Raoul Hausmann auftreten – die aber nicht den ersehnten Sinn in Friederikes Leben bringen, sondern sie vielmehr mit mustergültigem Engagement lehren, Genuss an Nonsens, also am verweigerten Sinn zu finden. Im Frankfurter Schauspielhaus gibt es gewöhnlich nicht viel zu lachen. Umso erstaunlicher ist die zweite Hälfte dieses Theaterabends. Die Spiellust mit der die fünf Darsteller – neben Sabine Weibel: Sascha Maria Icks, Aljoscha Stadelmann, Mathias Max Herrmann und Sebastian Schindegger – die Bühne in ein Schlachtfeld anarchischer, sinnfreier Komik verwandeln und ihre Pointen ohne jede augenzwinkernder Albernheiten mit unsentimentaler Kaltschnäuzigkeit servieren, nötigt Respekt ab. Besondere Bewunderung aber verdient sich Regisseur Helbling. Er hat in dem langen furiosen Finale jeden Anflug jener Bedeutungshuberei und Bildungsbeflissenheit vermieden, die das deutsche Stadttheater so oft zur Qual macht, sobald es sich an Komik versucht. Er verlässt sich stattdessen auf Tempo und Phantasie. Er überschwemmt sein Publikum mit unerwarteten, rätselhaften, paradoxen, abwegigen Einfällen, die den mindestens ebenso rätselhaften Text von Lentz durchaus adäquat umsetzen. Darsteller werden zusammengebunden, laufen durch Wände, fallen von Leitern, schleppen unbekannte Pappfiguren herbei, steigen aus Schränken, verschwinden in Fenstern, tanzen, schießen, sterben ohne je irgendeine Logik ihres Handelns erkennen zu lassen. Es kommt einem vor, als sei die groteske Welt des Cartoonisten Eugen Egner auf der Bühne lebendig geworden. Erlösung bittet das der schwermütigen Friederike naturgemäß trotz allem nicht. Aber es dürfte ihr angesichts des Trommelfeuers von komischen Wendungen vorübergehend nicht ganz leicht fallen, sich auf ihre Schwermut zu konzentrieren. Vielleicht ist das die – temporäre – Rettung, die Michael Lentz mit seinem Stück im Sinn hatte.

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Vom Gurren der fremden Geliebten

Daniel Kehlmann entführt in ein Geschichten-Labyrinth namens „Ruhm“

Das Leben ist unendlich viel komplexer als die Literatur es je sein könnte. „Wer eine Geschichte wahr nennt“, schrieb Vladimir Nabokov einmal, „beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich.“ Man macht sich das nicht immer klar, obwohl es auf der Hand liegt. Das fängt schon damit an, dass in einer Geschichte jeder Augenblick nur als Teil dieser einen Geschichte betrachtet wird. In Wahrheit ist aber jeder Augenblick im Leben jedes Menschen der Kreuzungspunkt einer Unzahl von politischen, gesundheitlichen, familiären, beruflichen, von erlebten, verdrängten, übersehenen, herbeiphantasierten Geschichten. Um eine Geschichte erzählen zu können, muss man Handlungslinien herauspräparieren. Das ist die Leistung der Kunst: Sie ordnet und klärt. Das Leben aber ist ein unüberschaubar wirres Geflecht von Handlungslinien, ein Geschichtenlabyrinth, durch dessen Gänge man tapst, ohne es als Ganzes je richtig in den Blick zu bekommen. Daniel Kehlmanns neues Buch „Ruhm“ ist so ein Geschichtenlabyrinth in verkleinertem Maßstab. Es ist ein raffiniertes literarisches Bravourstück, das von beträchtlicher konstruktiver Intelligenz zeugt, das aber über seinen hohen künstlerischen Ambitionen nie die sinnlichen und emotionalen Anforderungen des Erzählens aus den Augen verliert. Es ist ein Roman in neun Episoden, die in wechselnden Tonlagen und aus wechselnden Perspektiven von wechselnden Milieus berichten. Doch Kehlmann knüpft zwischen diesen Episoden nicht nur ein engmaschiges Netz von Beziehungen, Anspielungen und Querverweisen, sondern spielt in allen die gleichen Themen in immer neuen Variationen durch. Es fängt an mit einer knappen psychologischen Studie. Erzählt wird von einem Techniker, der wenig Vertrauen zur Technik hat. Er ist Computerfachmann und weiß, was alles schief gehen kann. Nach langem Zögern kauft er sich sein erstes Handy und ausgerechnet ihm passiert, was nie hätte passieren dürfen: Ihm wird eine Telefonnummer zugeteilt, die bereits an einen anderen Teilnehmer vergeben ist – an einen weltweit gefeierten Filmstar. Prompt erhält er Anrufe von wichtigtuerischen Kinogrößen und verführerisch gurrenden Geliebten. Anfangs versucht er noch, den Irrtum aufzuklären. Doch dann gibt er der Verlockung nach, all den Stimmen, die aus dem uferlosen Dunkel der Telefonwelt an sein Ohr drängeln, nach eigenem Gutdünken zu antworten. Verblüffend ist für ihn, wie gut ihm das gelingt. Er, ein solider, etwas mutloser Techniker, verwandelt sich, sobald ihn die Anrufer umschmeicheln. Er reagiert plötzlich mit einer ihm selbst ganz unbekannten Souveränität, für die ihn seine Gesprächspartner umso mehr bewundern. Bald ist es nicht nur die unverblümte Leidenschaftlichkeit der Anruferinnen, die ihn sehnsüchtig auf das nächste Klingeln seines Handys warten lässt. Mindestens ebenso sehr ist es jene unerwartete Freiheit und Entschiedenheit, die er bei den Gesprächen an sich selbst entdeckt. Er spürt, dass er gar nicht mehr der ist, der er zu sein glaubte, er ahnt, dass noch ganz andere Lebensmöglichkeiten in ihm stecken. Die wesentlichen Elemente von Kehlmanns Episoden-Roman sind hier bereits beisammen: Er handelt von dem filigranen Wechselspiel zwischen Tatsachen und Täuschungen, von den Schrecken des Ruhmes und denen der Anonymität, vor allem aber von der Brüchigkeit der Realität, in der es sich die Figuren eingerichtet haben und auf die sie sich glauben verlassen zu können. Doch braucht es nur winzige Unachtsamkeiten – bei der Vergabe von Telefonnummern etwa – und schon werden die vertrauten Realitäts-Kulissen fadenscheinig und es öffnen sich andere, parallele Welten. Welten, in denen die Figuren nicht nur andere Rollen spielen, sondern entdecken: Ich ist ein anderer. Kehlmann greift dabei auf Lieblingsmotive der Romantik zurück, wie auf das des Doppelgängers. Der Filmstar, dessen Telefonnummer in der ersten Erzählung missbraucht wird, ist in einer der späteren Geschichten seines Ruhmes überdrüssig. Er begegnet einem verblüffend echt wirkenden Imitator, der ihn bei Look-alike-Contests nachahmt, gibt sich daraufhin als Imitator seiner selbst aus und tauscht schließlich mit seinem anonymen Ebenbild halb vorsätzlich, halb unfreiwillig die Lebens-Rollen. Gleichsam im Gegenzug erzählt Kehlmann dann von einem Manager, der ein zwar gehetztes, aber glückliches Doppelleben zwischen zwei Frauen führt, bis er dem wahnhaften Drang erliegt, die beiden Zweige seiner gespaltenen Existenz vereinen zu wollen. Doch so ehrwürdig und traditionsgesättigt diese literarischen Motive auch sind, Kehlmann variiert sie in diesem Erzählungs-Zyklus auf konsequent zeitgenössische, aktuelle Weise. Anders als bei den Dichtern der Romantik sind die Parallelwelten, die sich vor seinen Figuren auftun, nicht überirdischer, magischer, religiöser Natur, sondern immer strikt diesseitig und von Menschen erschaffen. Seine Helden verlieren sich in den trügerischen Sphären des Internets, der globalen Telefonnetze, des Starkults oder der Literatur. Vermutlich teilt Kehlmann die Technikskepsis des Computerfachmanns aus der Auftaktgeschichte, doch sein Buch ist definitiv kein maschinenstürmerisches Pamphlet: In einer tragikomischen Episode lässt er eine europäische Autorin in den Steppen eines mittelasiatischen Diktatorenstaats verloren gehen, bloß weil sie im entscheidenden Moment kein brauchbares Handy zur Hand hat. „Ruhm“ ist vielmehr ein ebenso virtuoses wie unterhaltsames Spiel mit Welt und Parallelwelten, mit Sein und Schein, mit Fakten und Fiktionen – und naturgemäß räumt der Literat Kehlmann dabei den diversen Fiktionsebenen der Literatur besonderen Raum ein. Eine seiner Figuren ist Leo, ein widerborstiger, von Ängsten geschüttelter, aber scharfsichtiger Schriftsteller, der von Goethe-Institut zu Goethe-Institut um die Welt gereicht wird. Er zählt zu jenen Autoren, die sich von Menschen, die ihnen begegnen, sehr direkt und ungeniert zu literarischen Gestalten inspirieren lassen. Eine Freundin, die Leo auf einer Reise begleitet, will aber auf keinen Fall als Vorlage für eine seiner Figuren herhalten. Naiv gelesen wirkt das wie der Streit zwischen einer stolzen, authentischen Frau und einem reichlich haltlosen Luftikus. Doch letztlich ist beides, Authentizität hier, Haltlosigkeit da, nur Fiktion, erschaffen von einem Luftikus namens Kehlmann. In der nächsten Episode wendet sich eine der Figuren, die Leo in einer seiner Kurzgeschichten geschaffen hat, aus dem Text heraus an ihren Autor. Sie hat erfahren, dass sie an Krebs sterben muss, und bittet Leo – so wie ein Mensch in höchster Not zu seinem Schöpfer und Gott fleht – sie davonkommen zu lassen. Hier zeigt sich, was für ein brillanter Erzähler Kehlmann ist: Immer wieder erinnert er den Leser daran, dass seine Heldin nur eine literarische Illusion ist, versteht es aber dennoch, ihm deren Todesangst mit beeindruckender Intensität nahezubringen. Schließlich reist der Autor Leo mit seiner Freundin in irgendeinen von Rebellen umkämpften Dschungel. Zunächst sieht es so aus, als müsse sich auch hier die ernsthafte, realitätstaugliche Frau mit den neurotischen Luxussorgen des Literaten herumärgern. Doch dann zeigt sich, dass Leo seine Freundin in den erfundenen Dschungel einer seiner Kurzgeschichten entführt hat, bevor er sich selbst in Luft auflöst und sie in der Welt der Fiktionen zurücklässt. Mit solchen phantastischen Elementen erinnert der Episoden-Roman „Ruhm“ nicht nur an Vorbilder aus der Romantik, sondern ebenso an die Erzählungs-Zyklen des großen Argentiniers Jorge Luis Borges. Wie Borges erweist sich Kehlmann als ein glänzender Gedankenspieler, der formale Experimentierlust mit prächtiger Erzählfreude zu verbinden versteht. Jede seiner Geschichten (bis auf die letzte) ist völlig selbstständig und doch mit allen anderen verknüpft. Zusammen bilden sie ein Geflecht ohne Zentrum, ein postmodernes Geschichtenlabyrinth, das durch immer neue Dimensionen der Fiktionalität führt. Ein Ereignis, mit lebensverändernder Kraft, ist plötzlicher Ruhm. Viele drängen sich nach ihm, obwohl auch er in eine Parallelwelt entführt, in der für den Berühmtgewordenen nichts mehr so ist, wie es einmal war. Er verliert sich selbst, teilweise oder sogar ganz, denn er wird im Bewusstsein ungezählter Menschen zu einem Image, zu einem fiktiven Bild, über das sie glauben urteilen zu können und das sie mit ihm verwechseln. Kehlmann hat diese Erfahrung in den letzten Jahren gemacht. Er hat sie in diesem Buch auf hochartistische Weise in Literatur verwandelt und doch keinen autobiografischen Erfahrungsbericht geschrieben. In seinem Roman „Die Vermessung der Welt“, mit dem er sich internationale Anerkennung erschrieb, erzählte Kehlmann unter anderem davon, wie zweifelhaft die Bilder sind, die sich unser Verstand von der Welt macht, und wie vermessen jeder Versuch ist, die Welt vermessen zu wollen. In dem Geschichten-Zyklus „Ruhm“ zeigt Kehlmann, wie zweifelhaft schon die Bilder sind, die wir uns vom eigenen Leben oder der eigenen Persönlichkeit machen. Die Souveränität, mit der er solche filigrane Reflexionen in einprägsame Geschichten verwandelt, belegt, dass er heute zu den wichtigsten Erzählern unserer Literatur gehört.

Daniel Kehlmann: „Ruhm“. Roman in neun Geschichten Rowohlt Verlag, Reinbek 2009 203 Seiten, 18,90 €

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Ein Gespräch mit Lukas Bärfuss über die Liebe zu den Kühen in der Schweiz und in Ruanda, über das Stückeschreiben als primitive Kunst und den Versuch, das „experimentelle Ich“ einzufangen sowie die Klammer zwischen Kultur und Völkermord

Lukas Bärfuss, 1971 in Zürich geboren, zählt heute zu den wichtigsten Dramatikern des deutschsprachigen Theaters. In seinem ersten Roman „Hundert Tage“ erzählt er von einem Schweizer Entwicklungshelfer, der den wirtschaftlichen Niedergang Ruandas und 1994 den Völkermord dort erlebt, dem über 800.000 Menschen zum Opfer fielen. Das Buch gehört zu den eindrucksvollsten Neuerscheinungen des Jahres 2008. Er wurde mit dem Anna Seghers- und dem Mara Cassens-Preis ausgezeichnet.

Uwe Wittstock: Wie kommt ein Schweizer darauf, einen Roman über den Völkermord in Ruanda zu schreiben?
Lukas Bärfuss: Die Schweizerische Entwicklungshilfe war sehr aktiv in Ruanda, davon wird im Roman erzählt. In der dritten Klasse, ich war damals neun, haben wir im Rahmen einer Projektwoche vieles über Ruanda erfahren. Unsere Lehrerin stellte das Land als arm, aber glücklich dar. Ein Paradies mit Menschen, die uns nicht unähnlich seien: bescheiden, arbeitsam und mit einer großen Liebe für Kühe. So wurde Ruanda für mich als Kind zum Urbild von Afrika. Als uns dann 1994 die Nachrichten vom Völkermord erreichten, zeigten die Medien ganz andere Bilder. Und ich brachte diese Bilder nicht mit jenen aus der Schule zusammen. Welche stimmten denn nun? Oder gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen dem Paradies, das mir geschildert worden war, und der Hölle des Mordens?
Wittstock: Sind Sie nach Afrika gereist?
Bärfuss: Im Grunde bin ich ein schlechter Reisender. Aber dieser Kontinent hat mich nicht mehr losgelassen. Als ich mich entschloss, das Buch zu schreiben, bin ich nach Ruanda gefahren. Aber ich habe bald gemerkt, dass ich das, was mich interessiert, dort nicht finde, auch nicht in den Akten, die ich schließlich studierte.
Wittstock: Was hat Sie interessiert?
Bärfuss: Eigentlich immer dasselbe. Wie ist es möglich, dass Menschen mit ausgeprägtem moralischem Empfinden, ihre Arbeitskraft in eine politische Realität investieren, die diesen Werten vollständig widerspricht? Die Entwicklungshelfer konnten nicht zuletzt deshalb in Ruanda so gut und ungestört arbeiten, weil ein totalitäres Regime ihnen beste Arbeitsvoraussetzungen verschaffte. Ein Apartheitsregime, in dem die Hutu eine Tutsi-Minderheit politisch ausgrenzte. Das nahmen die Entwicklungshelfer in Kauf. Dieser Spalt im Bewusstsein interessiert mich. Im sicheren Ruanda gab es damals viele Hilfsorganisationen, im ebenso armen, aber instabilen Nachbarland Burundi nur sehr wenige. Wittstock: Was sagen die beteiligten Entwicklungshelfer?
Bärfuss: Ein Spalt ist definiert durch eine Leere. Ich habe während der Recherche mit vielen Menschen gesprochen. Aber keiner konnte mir etwas über zu diesem Sachverhalt erzählen. Sie wussten natürlich davon, aber sie hatten keinen Bezug zu dieser Realität. Da ist Schweigen. Das war der Grund, weshalb ich den Roman schrieb. Ich musste die Antwort in meiner Imagination finden.
Wittstock: Weshalb haben sie als erfahrener, vielfach ausgezeichneter Dramatiker aus diesem Stoff Ihren ersten Roman und kein Stück gemacht?
Bärfuss: Das Stückeschreiben ist in einen Gewisse Sinne eine primitive Kunst mit strengen Regeln, in denen man sich die Freiheit suchen muss. Man kann zum Beispiel auf der Bühne nicht zurückblättern, was man verpasst hat, ist verloren, und deshalb muss ein dramatischer Konflikt eine klare Struktur haben. Das Theater erinnert sich nicht, es schafft Fakten, einen Moment. Die Gründe für den Völkermord hingegen sind so vielfältig und widersprüchlich, dass sie sich geradezu gegenseitig aufheben. Deshalb ein Roman, der als offene und freie Form ein solches Thema besser umkreisen kann, und nicht alles dem dramatischen Konflikt unterordnen muss.
Wittstock: Sie waren nicht Augenzeuge des Völkermordes. War es beim Schreiben ein Problem für Sie, dass Sie sich wie ein Reporter die Wirklichkeit nach Recherchen schildern mussten?
Bärfuss: Der Roman als Kunstform bezieht sich weniger auf die Wirklichkeit, sondern vielmehr auf die menschliche Existenz. Er ist gleichsam das Gefäß, mit dem der Autor das – wie Milan Kundera es formuliert hat – „experimentelle Ich“ einfangen kann. Das klingt vielleicht seltsam: Aber die Entwicklungshilfe-Politik hat mich nicht besonders interessiert, sie war bloß das Mittel um die Frage zu klären, wie mein Held David mit den inneren Widersprüchen dieser Politik umgeht. Die historischen Fakten zu recherchieren, ist eine reine Fleißarbeit. Die eigentliche Herausforderung ist, sich davon wieder zu lösen, und das experimentelle Ich David lebendig werden zu lassen. Die Wahrheit der Kunst ist eine andere als die der Geschichte.
Wittstock: Joseph Conrad hat in „Herz der Finsternis“ den Dschungel des Kongo, an den Ruanda grenzt, als eine Welt mythischer Gewalt, Maßlosigkeit und Ausschweifung beschrieben. Waren diese Bilder die literarische Folie vor der Sie mit ihrem Roman gearbeitet haben?
Bärfuss: Mein Schreiben kommt aus dem Lesen, und meine Bücher sind immer auch Antworten auf andere Bücher. In gewisser Hinsicht ist „Hundert Tage“ eine Antwort auf „Herz der Finsternis“. Ich bewundere Conrad literarisch grenzenlos. Doch politisch hat sein Buch viel Unheil angerichtet. Mit „Herz der Finsternis“ hat er das Bild der Europäer von Afrika auf sehr ungünstige Weise geprägt. Wir neigen auch heute noch zur Ansicht, es gebe ein archaisches Grauen, das sich auf diesem Kontinent immer wieder Bahn bricht. Die jüngsten Unruhen in Kenia wurden bei uns oft als „Ausbruch ethnischer Gewalt“ apostrophiert. Als bräche da ein Vulkan aus, über dem zuvor nur ein dünner Firnis der Zivilisation lag, als hätten diese Leute ihre zivilisierte Maske abgelegt und ihr wahres Gesicht gezeigt. Doch tatsächlich sind diese Unruhen organisiert worden. Von einigen wenigen Herren politisch gesteuert und gewollt.
Wittstock: Agathe, die afrikanische Hauptfigur ihres Romans, in die sich David verliebt, entspricht sehr den Conradschen Vorstellungen von Afrika. Sie ist schön, aber bei Sex und Gewalt völlig zügellos.
Bärfuss: Conrads Buch ist eben nicht wirkungslos geblieben, sondern prägt die Sicht vieler Weißer auf den Kontinent, auch jene meines Protagonisten. Mir ging es nicht darum, einen politisch korrekten Gegenroman zum „Herz der Finsternis“ zu schreiben. Das Unglück der Liebesgeschichte zwischen David und Agathe ist doch auch, dass die beiden wenig Gelegenheit haben, das Verhalten des anderen wirklich zu begreifen. Sie stammen aus verschiedenen Lebenskulturen und können den anderen nicht zutreffend in ihr Weltbild einordnen. Was wir in der eigenen Lebenswelt unablässig tun, nämlich das Verhalten der anderen in einen Zusammenhang zu setzen, zu differenzieren, das gelingt ihnen nicht. Einfach, weil ihnen der Zusammenhang fehlt. Und deshalb bleibt ihnen zur Erklärung nur das Stereotyp.
Wittstock: Wie waren Ihre Erfahrungen in Afrika? Bestätigen oder widerlegen sie Conrads Bild?
Bärfuss: Schon in Ihrer Frage liegt das Problem. So etwas wie Afrika gibt es nicht, die kulturellen und politischen Bedingungen unterscheiden sich von Region zu Region sehr stark. In Kamerun zum Beispiel gibt es über 200 verschiedene ethnische Gruppen, und alle haben eine eigene Kultur. Als rationalistischer Europäer möchte man begreifen, verstehen, einordnen, und leider zwingt das zur Vereinfachung. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Erleben wichtiger sein kann als verstehen. Kulturelle Barrieren lassen sich oft nur schwer überwinden. Niemand erzählt einem Fremden die ganze Wahrheit. Aus Scham, aus Angst, falsch verstanden zu werden. Und im übrigen glaube ich nicht, dass Conrad einen Roman über Afrika oder den Kongo geschrieben hat. Die Reise ins „Herz der Finsternis“, ist eine Reise in einen Innenwelt. Der Wald und der Fluss, auf dem Conrads Held reist, sind nur Chiffren der Entgrenzung. Sein Roman ist deshalb ein schlechter Reiseführer. Ruanda ist ein wunderschönes Land, angenehm zu bereisen, mit hilfsbereiten, freundlichen Menschen. Ein ideales Reiseland. Daneben gibt es die Erinnerung an diese Schrecken. Hier diese Menschen, da der Völkermord. Ich habe die Klammer zwischen beidem nicht gefunden, habe es nicht verstanden, und irgendwann versuchte ich es auch nicht mehr. Und plötzlich wurden Begegnungen möglich, und ohne zu verstehen, erlebte ich.
Wittstock: Wir Deutschen sind jetzt seit über sechzig Jahren auf der Suche nach dieser Klammer zwischen Kultur und Völkermord.
Bärfuss: Ich fuhr in Ruanda mit dem Bus und mir fiel die Statistik ein, dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung am Genozid beteiligt waren, bei dem zehn Prozent der Bevölkerung ermordet wurde. Dann zählt man im Bus durch und von zwölf Leuten müssten rechnerisch acht Mörder, Brandstifter oder Organisatoren des Tötens sein. Das geht einem nicht in den Kopf.
Wittstock: Warum verzichten sie im Roman auf jede explizite Darstellung des massenhaften Mordens?
Bärfuss: Weil ich dafür keine Sprache habe. Und was wäre damit schon zu erreichen, außer Betroffenheitskitsch oder eine Pornografie des Grauens? Beides ist meines Erachtens nicht Aufgabe der Literatur. Ich wollte über ein Bewusstsein schreiben, das Genozid als eine politische Möglichkeit begreift. Zudem hätte jede Gewaltdarstellung dem Leser paradoxerweise eine Distanzierung ermöglicht, und ich möchte genau das Gegenteil erreichen. Aber, um ehrlich zu sein, habe ich mich nicht zuerst aus literarischen Gründen dagegen entschieden, sondern aus einem Gefühl der Scham und des Respekt gegenüber den Opfern. Es geht hier ja nicht um einen fiktiven Kriminalfall. Es stimmt schon: Zum Schreiben gehört immer eine gewisse Anmaßung, und wie Beckett gesagt hat, ist tatsächlich nichts so komisch wie das Unglück der anderen. Aber auch diese Wahrheit hat ihre Grenzen, glücklicherweise.

Das Interview erschien in der „Welt“ vom 8. Januar 2009

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