„Du sollst Bestie sein!“

 Massaker, Märsche, Morde: Uzodinma Iweala erzählt vom Schicksal eines afrikanischen Kindersoldaten
Leid lässt sich nicht rezensieren. Vor dem Elend verstummt das ästhetische Urteil. Einem Bericht über erlittene Qualen wird man nicht gerecht mit Fragen nach der Sprach- oder literarischen Gestaltungskraft des Autors, sondern durch Mitgefühl, Respekt und Empörung über die Ursachen der Qual. Etwas anderes ist es, wenn die geschilderten Leiden der Imagination des Autors entspringen, wenn der Autor sich in die Lage eines Erniedrigten und Gepeinigten hineinversetzt hat, um von dessen fiktivem Unglück zu erzählen. Auch dann kann das Ausmaß des Leids den Leser fassungslos machen. Doch da es sich nicht um einen Erlebnisbericht handelt, sondern um ein Kunstwerk, liegt es sehr viel näher und ist nicht deplatziert, nach der Machart, nach den literarischen Qualitäten der Geschichte zu fragen. Uzodinma Iwealas Roman „Du sollst Bestie sein!“ ist nur sehr schmal, aber randvoll mit Schrecken, Gewalt und Grausamkeit. Iweala wurde 1982 in den Vereinigten Staaten als Sohn nigerianischer Eltern geboren. Sein Vater ist Arzt und arbeitet in Washington. Seine Mutter Ngozi Okonjo-Iweala war Vizepräsidentin der Weltbank, zwischen 2003 und 2006 Finanz-, bzw. Außenministerin Nigerias und kehrte inzwischen zur Weltbank zurück. Der heute 25-jährige Uzodinma ist in Amerika aufgewachsen, kennt Afrika von Reiseaufenthalten, hat in Harvard einen Abschluss in Englische Literatur gemacht und studiert zurzeit in New York Medizin. Kurz: Uzodinma Iweala ist ein hochbegabter junger Mann, der zudem das Glück hat, exzellente Schulen mit großartigen Lehrern besuchen zu können – bei der Arbeit an seinem Roman beriet ihn unter anderem die Schriftstellerin und Harvard-Professorin Jamaica Kincaid. Er wirkt auf seiner Lesereise durch Deutschland trotz seiner Jugend sehr professionell, fast routiniert. In den Vereinigten Staaten kam das Buch 2005 heraus, es liegt für Iweala schon eine ganze Weile zurück, man spürt das. Er sei, sagt er, neugierig auf Deutschland, und antwortet dann abgeklärt auf die Fragen zu seinem Roman. Er hat etwas von der früh erworbenen Weltläufigkeit des Diplomatenkindes. Ein schärferer Kontrast als der zu dem Helden seines Buches ist schwer vorstellbar: Agu ist in etwa zehn Jahre alt, wächst in einem Bauerndorf eines nicht näher benannten afrikanischen Landes auf und besucht die dortige Zwergschule. Ein plötzlich aufflammender Krieg reißt die Familie auseinander: Mutter und Schwester müssen fliehen, der Vater wird von marodierenden Rebellen erschossen und Agu von dem nächstbesten, ebenfalls marodierenden Soldatenhaufen zwangsrekrutiert. Was dann folgt, ist definitiv nichts für Leser mit zartem Gemüt. Agu wird von dem Kommandanten des Trupps, in den er geraten ist, zum Kämpfen und Töten abgerichtet. Zu Anfang zögert Agu und der Kommandant muss ihm, als das erste Opfer wehrlos vor ihm kniet, buchstäblich die Hand führen: „Kill ihn, sagt der Kommandant in mein Ohr und hebt meine Hand mit der Machete hoch. Kill ihn. Der Feind sagt zu mir, bitte töte mich nicht. Bitte. Gott wird dich dafür segnen. Und bei jedem Wort spuckt er Spucke und Blut überallhin. Dann pinkelt er und kann gar nicht mehr aufhören. Siehst du diesen Mann, sagt Kommandant. Schau ihn dir an. Er ist nicht mal ein Mann. Der bepisst sich wie ein Schaf, wie eine Ziege, wie ein Hund. Er nimmt meine Hand und schlägt mit ihr so hart auf den Kopf vom Feind, und mein ganzer Körper fühlt sich an, wie wenn Strom durchgeht. Der Mann schreit, AJEEII!, lauter als das Geräusch von Kugel, und dann hält er sein Kopf, aber das hilft nichts, weil sein Kopf platzt auf und Blut läuft raus wie Milch aus Kokosnuss.“ Auf diese Weise geht es für Agu von nun an weiter. Sein Leben verwandelt sich in einen endlosen Albtraum aus LKW-Fahrten, Märschen, Überfällen und Massakern, aus katastrophaler Ernährung, permanentem Hunger und Nächten im Morast. Als sei das des Entsetzlichen noch nicht genug, pflegt der Kommandant ihn oder einen anderen Kindersoldaten seiner Truppe außerdem noch jeden Abends an seine Pritsche zu befehlen, um ihn zu vergewaltigen. Für Agu versinkt alles in einem großen Wirbel des Grauens, er lebt wie in einem Fieberwahn, aus dem er sich in Erinnerungen zu retten versucht an die heile Welt in seinem Heimatdorf vor dem Krieg. Es ist unmöglich, von all dem nicht bestürzt und schockiert zu sein. Zumal man sich als Leser bei jeder Seite des Romans darüber klar sein muss, dass es in der Realität verzweifelt viele Beispiele für ein Schicksal wie das Agus finden lassen. Nach Schätzungen von Terre des hommes und der UN werden gegenwärtig weltweit 250.000 zwangsrekrutierte Minderjährige von regulären Armeen oder Rebellengruppen unter Waffen gehalten. Allein zwischen 1990 und 2000 sind etwa 2 Millionen Kindersoldaten gefallen. Aus politischer Sicht ist das Buch, da es den Blick auf diese katastrophalen Tatsachen lenkt, auf jeden Fall verdienstvoll. Bleibt die Frage nach seiner literarischen Machart. Iweala hat für seinen Helden, aus dessen Perspektive er den ganzen Roman erzählt, eine eigenwillig beschränkte Sprache erfunden, eine Art Mixtur aus Pidgin und Kindersprache. Sie hat im englischen Original zudem einen leise hörbaren Rhythmus, den Iweala, wie er erzählt, bei Besuchen in Nigeria unter Halbwüchsigen aufgeschnappt hat – von dem aber in Marcus Ingendaays Übersetzung ins Deutsche leider nur wenig zu spüren ist. Eine derart reduzierte Sprache wirkt allerdings sehr schnell dürftig. Es sei denn, dem Autor gelingt es, ihr eine besondere, überraschende Poesie abzugewinnen, indem er trotz dürrem Vokabular und unbeholfener Grammatik Wahrnehmungen und Empfindungen mit großer Anschaulichkeit zu vermitteln versteht. Doch solche Höhenflüge sind in Iwealas Roman selten. Natürlich liefert die Geschichte eindrucksvolle Splatter-Effekte, doch daneben bleibt das, was über Agus Lebensbedingungen und sein Gefühle berichtet wird, undifferenziert und matt. Nüchtern betrachtet erfährt man über die Zeit, die Agu als unfreiwilliger Kämpfer seines Kommandanten verbringt, fast nichts. Obwohl er dessen Trupp nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, scheint er zu keinem der Soldaten irgendeinen nennenswerten Kontakt aufzubauen. Von zwei, drei Fällen abgesehen, tragen die Männer, mit denen Agu sein Schicksal teilt, für den Leser nicht einmal Namen. Sie werden allenfalls als Schemen sichtbar. Von der Kunst, Nebenfiguren mit einigen wenigen Strichen zu charakterisieren und so das soziale Umfeld, in dem sich der Romanheld bewegt, näher auszuleuchten, scheint Iweala wenig zu halten. Kommt hinzu, dass man als Leser zwar immerzu um Leib und Leben des bedauernswerten Kindersoldaten Agu fürchten muss, erstaunlicherweise aber nie um dessen ethische Grundsätze. Sicher, irgendwann einmal versucht er sich an einer kindlich verqueren Rechtfertigung seines mörderischen Treibens: „Ich bin nicht böser Junge. Ich bin Soldat, und Soldat darf das, töten. Das sag ich mir, weil Soldat muss killen, killen, killen. Deshalb, wenn ich kill, mach ich nur, was richtig ist.“ Doch schon im nächsten Satz spricht Agu dann wieder von den vielen „Stimmen in meinem Kopf, die sagen, ich wär böser Junge.“ Sein Gewissen lässt ihm keine Ruhe, gleichgültig wie inhuman seine Lebensumstände sind. Im Grunde weiß er genau, dass er nicht töten dürfte. Lediglich durch „Gun-Juice“, eine aufputschende, enthemmende Droge, die der Kommandant seinen Leuten vor Gefechten verabreicht, ist er zu seinen grauenvollen Taten bereit und fähig. Inmitten barbarischer Landsknechte wirkt Agu deshalb wie ein in seinem guten Kern letztlich unantastbarer Unschuldiger. Nichts ist zu spüren von der sonst so verbreiteten Freude halbwüchsiger Knaben am Kampf, nichts von einer Faszination durch Waffen oder Macht, nichts von einer zunehmenden Abstumpfung und Verrohung durch das Zusammenleben mit einer Soldateska, die kaum ein Verbrechen auslässt. Der Roman bekommt damit, trotz der Ströme von vergossenem Blut, etwas Verharmlosendes und Traktathaftes. Agu scheint noch die schrecklichsten Erfahrungen zu überstehen, ohne selbst zu einem schrecklichen Menschen zu werden. Vielleicht ist eben das ein Baustein für den Erfolg dieses Buches: Man möchte als Leser nur zu gern daran glauben, dass Kinder durch die Hölle gehen könnten, ohne dass ihre Seele ernstlich Schaden nimmt. Iwealas Roman kommt dieser Sehnsucht weit entgegen. Sicher, das Buch zu lesen ist erschütternd, aber dennoch zugleich trostreich. Man spürt, dass Agu Bestie sein soll und ist sich trotzdem jederzeit sicher, dass er es niemals sein wird.

Uzodinma Iweala: „Du sollst Bestie sein!“ Aus dem Englischen übersetzt von Marcus Ingendaay Ammann Verlag, Zürich 2008 155 S., 18,90 €

Dieser Beitrag wurde unter Uzodinma Iweala veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.