Ein Familienbiographie erzählt von der wohl begabtesten Geschwisterreihe des 19. Jahrhunderts
Georg Büchner war, nach einem Wort Heiner Müllers, der Meteor der deutschen Literatur. Nur zwei Jahre blieben Büchner als Schriftsteller: Im Januar 1835 begann er die Niederschrift seines ersten Stücks „Dantons Tod“. Im Januar 1837 erkrankt er an Typhus und starb am 19. Februar. Was Büchner in jener kurzen Frist schrieb, hat ihn am deutschen Klassikerhimmel unter die Erscheinungen mit der höchsten Leuchtkraft befördert. Heute überstrahlen seine beiden produktiven Jahre die in Jahrzehnten errichteten Lebenswerke seiner drei Brüder und seiner Schwester Luise. Der liebevoll ausgestattete Band „Die Büchners oder der Wunsch, die Welt zu verändern“ führt die Geschwisterreihe jetzt eindrucksvoll vor. Es gab wohl keine andere im 19. Jahrhundert, die dieser aus Darmstadt das Wasser hätte reichen können. Georg war der Erstgeborene und das Genie der Familie. Das Tempo, in dem er sich Wissen der verschiedensten Fachrichtungen aneignete, die Klarheit, mit der er die politische Misere der Restaurationszeit durchschaute, die Entschlossenheit, mit der er sich für eine Revolution einsetze und seine enorme Sprachkraft, die sich auch in seinen Briefen an die Geschwister dokumentiert, konnte niemandem in dieser Familie gleichgültig lassen. Sein Tod muss die Geschwister ungeheuer erschüttert haben. Natürlich sollte man sich vor der Phrase hüten, sie hätten ihn nie verwunden – schließlich starb der jüngste Bruder Alexander erst 1904, fast siebzig Jahre nach Georg. Doch in den Erinnerungen an ihn schwang für sie offenbar immer die Verpflichtung mit, etwas Unabgegoltenes, allzu früh Abgebrochenes im Bewusstsein der Zeitgenossen zu halten. Das soziale Engagement Georgs war in seiner Familie nichts Ungewöhnliches. Seit vielen Generationen waren die Büchners Mediziner. Sein Vater Ernst, Stadtphysikus und Hospitalarzt in Darmstadt, verstand seine Arbeit als „Pflicht gegen seine Nebenmenschen“. Auch Georg habilitierte sich schließlich in Zürich ein halbes Jahr vor seinem Tod als Mediziner in vergleichender Anatomie. Als Wappentier ihrer Familie hatten die Büchners den Pelikan gewählt, von dem es hieß, dass er seine Kinder in Notzeiten mit dem eigenen Blut ernähre und der deshalb als Sinnbild der Elternliebe galt. Doch Ernst Büchner hatte noch ein anderes Erbe mit in die Familie gebracht. Da ihm das Geld fehlte zum Studium in Deutschland, war er in den niederländischen Sanitätsdienst eingetreten und hatte sich zum Regimentschirurgen ausbilden lassen. Als Militärarzt diente er später in der Armee Napoleons, den er bewunderte und von dem er bei einer Parade, wie die Familienlegende berichtete, sogar angesprochen worden war: „Du sitz gut zu Pferd, wie alt bist du?“ In dieser Armee aber galten keine Adelsprivilegien, sondern jedem stand eine Karriere nach seinen Leistungen und Fähigkeiten offen. Diesen liberalen Ideen blieb Vater Ernst zeitlebens treu, auch wenn er sich nach seiner Rückkehr ins heimatliche Hessen 1811 meist nicht offen zu ihnen bekennen konnte. Wilhelm Büchner (1816-1892) Wilhelm kam drei Jahre nach Georg zur Welt. Er wurde in der Familie zunächst „der dumme Bub“ genannt, entpuppte sich später, wie sein Bruder Alexander in einem Nachruf schrieb, als „bunter Schmetterling“, der „seiner Familie und dem ganzen Lande zur höchsten Zierde gereichte.“ Tatsächlich war Wilhelm der Geschäftstüchtigste unter den Geschwistern. Er studierte Chemie beim großen Justus Liebig in Gießen und gründete 1841 in der Waschküche der Eltern seine erste chemische Fabrik. Dort gelang ihm die synthetische Herstellung des Ultramarin-Pigments, eines begehrten Farbstoffs der zuvor nur aus dem Halbedelstein Lapislazuli hergestellt werden konnte. Die Erfindung war eine Sensation und Wilhelm konnte bald große Fabrikanlagen, erst in Darmstadt, dann in Pfungstadt, aufbauen. Seine Farbe entwickelte sich zum internationalen Erfolg, auf den Weltausstellungen in London, Paris und Wien wurde sie mit Auszeichnungen bedacht. Doch blieb Wilhelm als Unternehmer den sozialen Idealen seiner Familie verbunden. Lange vor Bismarck richtete er zugunsten seiner Arbeiter eine firmeneigene Betriebskrankenkasse ein. Dazu ließ er sich als Anhänger der Republik mehrfach in Hessische Landtage wählen, die allerdings wegen ihrer liberalen Haltung zweimal umgehend wieder aufgelöst wurden. 1877 zog er als Abgeordneter in den Reichstag ein, in dem er gegen die Verfolgung der Sozialisten kämpfte – denen er in einem von ihm geschaffenen „Vereins zur Förderung des Wohls der Arbeiter“ wieder eine öffentliche Stimme zu geben versuchte. Luise Büchner (1821-1877) Luise wurde eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen ihrer Epoche. Wie zu ihrer Zeit üblich, erhielt sie als Mädchen nur eine dürftige Ausbildung, zeigte aber große geistige Interessen und Fähigkeiten. Als Autodidaktin holte sie nach, was ihr auf der Schule vorenthalten worden war. Bruder Georg war ihr Vorbild, auch sie wollte Schriftstellerin werden. Sie suchte Anschluss im Literaturbetrieb ihrer Zeit und offenbar bot ihr ein Verleger an, ein Buch über Erziehung und Ausbildung von Mädchen zu schreiben. Es erschien 1855 und wurde zu einem Bestseller, der Luises Leben fortan prägte: „Die Frauen und ihr Beruf“. Sie veröffentlichte danach noch vieles andere zu anderen Themen, doch dieses Erfolgsbuch machte sie in Deutschland bekannt. Natürlich unterscheiden sich ihre Vorstellungen von dem, was wir heute unter Emanzipation verstehen. Sie stritt nicht für eine Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern für eine „Gleichberechtigung des Mädchens mit dem Knaben in der Erziehung“. Doch verschaffte sie dieser Forderung auf Vortragsreisen und als unermüdliche Publizistin weiter wachsende Aufmerksamkeit. Bis schließlich selbst die Politiker ihrer Zeit bei ihr Rat suchten: 1873 beauftragte sie das preußische Kultusministerium mit einem Gutachten zur Reform der „mittleren und höheren Töchterschulen“. Gegen Ende ihres Lebens war sie, der man Schulbildung fast ganz vorenthalten hatte, eine landesweit anerkannte Autorität in Bildungsfragen. Ludwig Büchner (1824-1899) Ludwig war in der Wahrnehmung seiner Zeit, der eigentliche Star der Familie Büchner. 1855 veröffentlichte er mit dem Buch „Kraft und Stoff“ einen philosophischer Sensationserfolg, einen Bestseller, der es schon im ersten Jahr auf drei und insgesamt auf über zwanzig Auflagen brachte, der in 17 Sprachen übersetzt wurde und ihn zu einem weithin anerkannten Denker von europäischem Rang machte. Ludwig Büchner vertrat darin eine streng materialistische Weltsicht, die ohne Gott und Religion auskam, zugleich aber mit Blick auf die Fortschritte in Wissenschaft, Technik und Politik von einem Entwicklungsoptimismus getragen wurde, wie er nur im 19. Jahrhundert vor den politischen Großverbrechen und Desastern des 20. Jahrhunderts denkbar war. Auch Ludwig hatte wie sein ältester Bruder Georg und ihr Vater Ernst Medizin studiert. Wie Georg kämpfte er als Student – gemeinsam mit dem jüngsten Bruder Alexander – für liberale und demokratische Veränderungen und im Revolutionsjahr 1848 sowohl publizistisch als auch mit Waffen zumindest exerzierend gegen die Adelsordnung. Nachdem sein Hauptwerk „Kraft und Stoff“ erschien, verlor er seine Stelle an der Universität Tübingen – zu offensichtlich widersprachen seine Thesen dem auf Religion und Gottesgnadentum der Herrscher basierenden Feudalismus. Er zog sich ins heimatliche nach Darmstadt zurück, wo er als Arzt, Schriftsteller und Publizist zu einem der viel beachteten Intellektuellen des Landes wurde. Doch aus heutiger Sicht liegt Ludwigs größtes Verdienst auf anderem Gebiet. Schon 1850, gerade den Revolutionswirren des Jahres 1848 entronnen, sammelte er zusammen mit Bruder Alexander und Schwester Luise erstmals den literarischen Nachlass und die Briefe Georg Büchners, transkribierte viel davon aus den Handschriften – darunter auch das kaum lesbare, in blasser Tinte geschriebene Manuskript des „Woyzeck“ – und publizierte das meiste davon als Georgs „Nachgelassene Schriften“. Dies allein schon war eine philologische Großtat. Doch da in der Nacht vom 21. auf den 22. Mai 1851 das Hinterhaus der Büchners in Darmstadt ausbrannte, wobei ein beträchtlicher Teil der Handschriften Georgs in Flammen aufging, verdanken wir dieser Edition, dass wir manche von Georg Büchners Schriften überhaupt noch kennen. Alexander Büchner (1827-1904) Alexander studierte Jura und mischte wie Bruder Ludwig kräftig mit bei der 48er-Revolution. Er war schon im Hessischen Staatsdienst, als man ihn 1851 zu seinen politischen Überzeugungen befragte. Da er sich zu seinen demokratischen Ansichten bekannte, wurde umgehend entlassen. So fabelhaft begabt wie seine Geschwister wechselte das Fach und habilitierte sich schon 1853 als Literaturwissenschaftler – in Zürich, wo Bruder Georg 16 Jahre zuvor gestorben war. Bald darauf wanderte er ins liberale Frankreich aus, wo er nochmals habilitierte (diesmal über Shakespeare) und als Universitätslehrer und Schriftsteller eine glänzende Karriere machte. Er kannte nicht nur die deutsche und französische, sondern fast jede Literatur Europas und wurde einer der ersten großen vergleichenden Literaturwissenschaftler. Aber wichtiger noch war vielleicht seine Rolle als „Brücke über den Rhein“ – wie er von Kollegen genannt wurde. In den schwierigen Jahrzehnten der endlos schwelenden Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich mühte er sich um einen Kulturaustausch zwischen beiden Ländern. Er war unter der Büchner-Kindern vielleicht der Weltläufigste: Ein elegant formulierender, ironischer Intellektueller, der allen Nationalismus abgestreift hatte und damit in seiner Zeit zum einsamen Rufer in einer Wüste von chauvinistischen Borniertheiten wurde. Wie alle aus der Büchner-Bande war auch er seiner Zeit voraus – und tat sein Bestes, den trägen Mitmenschen mit literarischen Mitteln die Augen zu öffnen.
Heiner Boehncke, Peter Brunner, Hans Sarkowicz: „Die Büchners oder der Wunsch, die Welt zu verändern“ Societäts Verlag, Frankfurt am Main 2008 168 Seiten, 24,90 €