Jon Savage beschreibt die Kulturgeschichte eines altersbedingten Aufbegehrens
Jugendrevolten, wie sie derzeit griechische Städte und die griechische Regierung erschüttern, sind zeithistorisch betrachtet keine Seltenheit. 2005 brodelte es in den Banlieues von Paris, Marseille und Straßburg bis Präsident Chirac den Notstand ausrief. 2001 schlugen die Jugendproteste gegen den G8-Gipfel in Genua in blutige Krawalle um. 1992 tobten die Rodney-King-Roits in Los Angeles. 1981 sorgten in Berlin-Kreuzberg junge Hausbesetzer für Straßenschlachten – was in den folgenden Jahren zu einer Art fester Mai-Folklore wurde. 1980 eskalierte der Streit um ein selbstverwaltetes Jugendzentrum in Zürich zu sehr uneidgenössischen Ausschreitungen. Kurz zuvor erlebte Amsterdam Zusammenstöße zwischen Polizei und „Kraakern“, die leeren Wohnraum besetzten. An Beispielen ist kein Mangel. Auch die Studentenbewegung, die 1968 von Mexiko und den USA über Frankreich und Deutschland bis nach Japan den Globus umrundete, war vor allem ein Aufstand der Jugend. Nicht unbedingt der Auslöser, aber doch ein Katalysator und Verstärker der Krawalle ist oft der gewaltsame Tod eines der Rebellen. Ihre Namen nehmen schnell den Klang von Märtyrern an, wie der des 15jährigen Alexandros Grigoropoulos jetzt in Griechenland. Ähnlich ging es den beiden Halbwüchsigen, die 2005 bei einem Pariser Transformatorenhäuschen ums Leben kamen, dem in Genua getöteten Carlo Guiliani, dem misshandelten Rodney King, dem vom BVG-Bus überfahrenen Klaus-Jürgen Rattay 1981 in Berlin und dem 1967 vor der Deutschen Oper erschossenen Benno Ohnesorg. Neben den wechselnden politischen Ursachen spielen hier auch psychologische eine erhebliche Rolle. Das Aufbegehren gegen die elterliche oder auch gesellschaftliche Autorität gehört, wie sich inzwischen in jedem Erziehungsratgeber nachlesen lässt, zu den Vorrechten, wenn nicht gar Pflichten der Jugend. Doch noch vor hundert Jahren war diese Einsicht, wie man jetzt in dem klugen und materialreichen Buch „Teenage“ des britischen Kulturhistorikers und Popmusikkritikers Jon Savage nachlesen kann, alles andere als selbstverständlich. Erst die Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts entdeckten, was Savage nicht erwähnt, die Kindheit als eine kostbare Lebensphase mit eigenen Rechten. Zuvor wurden Kinder üblicherweise als noch unverständige, nicht ausgereifte Erwachsene behandelt, die diese Mängel mit zunehmendem Lebensalter abzulegen hatten. Erst Ende des 19. Jahrhunderts lernten Psychologen und Pädagogen dann die Jugend als sinnverwirrende, oft dramatische Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter zu begreifen. Savage beruft sich in „Teenage“ vor allem auf den amerikanischen Psychologen G. Stanley Hall. Er nennt dessen 1904 erschienenes Buch „Adolescence“ ein „weitsichtiges Manifest“ der erst sehr viel später entstandenen Jugendkulturen der westlichen Welt. Tatsächlich war die Lebensphase, in der Jugendliche der Fürsorge ihrer Eltern entwachsen und sich eigene Positionen erobern müssen, wohl immer ein erheblicher gesellschaftlicher Unruhefaktor. Doch wurde der in vormodernen Zeiten nicht zuletzt durch die häufigen Kriegszüge gedämpft, die den männlichen Nachwuchs zahlenmäßig reduzierten und ihm zugleich die Chance auf rasche soziale Anerkennung als Militärheld eröffneten. Zudem war die Lebenserwartung damals geringer – die Alten traten früher ab und machten so Platz für die nachdrängende Generation. Dennoch ist dies ein zeitloser Konflikt, der tiefe, archetypische Spuren im Seelenhaushalt hinterlassen hat. In seinen kulturhistorischen Schriften beschreibt ihn Sigmund Freud gern am Bild der Urhorde, in der das stärkste Männchen unumschränkt herrscht und alle Weibchen für sich beansprucht – bis es Schwächen zeigt und seine bislang gedemütigten Söhne über ihn herfallen und ihn verspeisen. Vielleicht verbirgt sich hier ein Erklärungsmuster dafür, weshalb moderne Jugendrevolten gerade dann so oft eskalieren, wenn die staatliche (psychologisch gesprochen: die väterliche) Autorität einen der Aufbegehrenden tötet. Auch der Urvater räumte den männlichen Hordennachwuchs gelegentlich aus dem Weg, um mögliche Konkurrenten frühzeitig auszuschalten, was für die bedrohten Söhne das ultimative Signal gewesen sein dürfte, die Entscheidungsschlacht gegen den Übervater zu suchen. Literarischen Spuren einer ersten Jugendrevolte darf man wohl im deutschen „Sturm und Drang“ sehen. Für Savage liest sich Goethes „Werther“ wie ein Songtext der britischen Indie-Rock-Band The Smith. Die große Zeit der Generationskonflikte begann allerdings erst Ende des 19. Jahrhunderts. Mit den Fortschritten der Technik, der Demokratisierung und der sozialen Mobilität verlieren Religionen und Traditionen immer mehr an Bedeutung: „Vormals war die Jugend“, schreibt Savage, „ein maßgeblich von Erwachsenen definierter Zustand gewesen“. Doch nun will sie mit eigener Stimme sprechen: „Es war das goldene Zeitalter der Manifeste. Eine stürmische Jugendbewegung nach der anderen tat ihre Existenz in Form überschäumender Aufrufe kund“. Worauf väterlichen Skeptiker sie umgehend in ihre gesellschaftlichen Schranken zu verweisen versuchten – und der Streit zwischen antibürgerlichen Rebellen und konservativem Establishment in die nächste Runde ging. Savages Aufzählung von Jugendbewegungen, die den Ausbruch probten aus den angeblich oder tatsächlich beengten Lebenshorizonten ihrer Eltern, ist lang: Er beschreibt die europäischen Wandervögel und Neuheiden, die amerikanischen Nickelodeons und Freshmen, das Partyleben der British Young People in der Zwischenkriegszeit und die Sheiks und Flappers, Jitterbugs und Ickies in den USA vor dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Grundstimmung ist zumeist liberal bis hedonistisch, sie sehnten sich danach, mit den modischen, musikalischen und vor allem sexuellen Konventionen der Alten zu brechen. Doch andererseits gelang es totalitären Parteien wie den Nationalsozialisten, den Aufbruchswillen der Heranwachsenden und ihr Ressentiment gegen das Überkommene in Organisationen wie der Hitlerjugend für sich nutzbar zu machen. Das sollte angesichts von spontanen Jugendkrawallen wie denen in Griechenland nicht vergessen werden: Nie sind Teenager gefährlicher, als wenn sie in straff geführten Verbänden von Demagogen unter Kontrolle gebracht werden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt, glaubt man Savage, die Sprengkraft der Jugendbewegungen jedoch wieder ab. Der Kapitalismus hat wirksame Mechanismen entwickelt, mit denen er jeden Trend, jede Mode, jede Subkultur umgehend und effizient vermarktet und also für sich vereinnahmt. Weshalb für hartnäckige Rebellen die Konsumverweigerung als Gammler, Hippie oder Punk zum letzten Mittel des Widerstandes wird. Oder eben der gewaltsame Protest, der effektvolle Fernsehbilder produziert und so in Demokratien vorübergehend politischen Einfluss gewinnt. Der aber schon wegen der ungleichen Kräfteverhältnisse zwischen Jugend und Ordnungsmacht immer auf kleine städtische Bereiche beschränkt bleibt und allein nie fundamentale Machtfragen zu stellen in der Lage ist.
Jon Savage: „Teenage“. Die Erfindung der Jugend (1875-1945) Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008 522 Seiten, 29,90 €