„Strahlungen“

Das Literaturmuseum der Moderne in Marbach zeigt eine Ausstellung zu „Atom und Literatur“ 

Der erste Roman über die Atombombe wurde geschrieben, lange bevor es die Atombombe gab. Eric Ambler, der Großmeister des Polit-Thrillers, dessen Bücher so oft die Grenzen des Genres überschreiten, dass man ihn besser einen Meister des politischen Romans nennen sollte, war noch ein junger Werbetexter, als er in wissenschaftlichen Zeitschriften über neue Forschungsergebnisse der Atomphysik stolperte. Er zog daraufhin einige sehr nüchterne Schlussfolgerungen, die nur wenig Vertrauen in die moralischen Standards führender Wissenschaftlern und Politiker erkennen lassen und schrieb 1935 seinen ersten Roman „The Dark Frontier“. Darin wird die Atombombe zum Objekt naturgemäß übler machtpolitischer Machenschaften. Aber vom Weltuntergang ist nirgendwo die Rede. In der Ausstellung „Strahlungen. Atom und Literatur“ im Marbacher Literaturmuseum der Moderne spielt Amblers Roman keine Rolle, denn sie ist der deutschsprachigen Literatur gewidmet. Doch auch ein deutscher Autor, Gerhard Hauptmann, war seiner Zeit voraus und ließ bereits 1943, zwei Jahre bevor die beiden ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen, in seinem Romanfragment „Der neue Christopherus“ eine Figur die Gefahren nuklearer Rüstung ausmalen: „Da gibt es zum Beispiel ein Uranatom; wenn es von einem anderen getroffen und aufgespalten wird, entwickelt es mächtige Energie. Sofern rapide Summierungen ein Uranoxydpulver zu einem Kubikmeter vereinen, entwickelt es in weniger als dem hundertsten Teil einer Sekunde Energie, die ausreicht, um ein Gewicht von einer Million Tonnen siebenundzwanzig Kilometer hochzuheben. Seine Explosion könnte unserem ganzen Planeten zur gefährlichen Katastrophe werden.“ Vielleicht ist es mehr als ein Zufall, dass schon in diesem ersten Dokument, in dem ein deutscher Schriftsteller eine Atomexplosion imaginiert, gleich von Gefahren die Rede ist, die planetares Ausmaß annehmen. Denn die Angst vor dem ultimativen Desaster, vor der selbst bereiteten Apokalypse ist der beherrschende Zug der literarischen Zeugnisse, die in der von Helga Raulff zusammengestellten Marbacher Ausstellung zu sehen sind. In den allerersten Nachkriegsjahren waren die deutschen Reaktionen auf Hiroshima und Nagasaki noch verhalten. Zu sehr war man hierzulande mit der eigenen Kriegsschuld, der totalen Zerstörung der Städte und dem Wiederaufbau beschäftigt. Doch spätestens Anfang der fünfziger Jahre, parallel zu den amerikanischen Tests der Wasserstoffbombe, spielt das Thema im literarischen und intellektuellen Leben eine immer gewichtigere Rolle. Wenn man heute, ein halbes Jahrhundert später, auf die Debatten von damals zurückschaut, will einem manches davon ausgesprochen deutsch erscheinen. Überall macht sich der Drang zur möglichst dramatischen, überhitzten Formulierung bemerkbar, der alle vorangegangenen Wortmeldungen an Pathos noch zu übertreffen versucht. Immer wieder spürt man den Wunsch, alle Überlegungen bis zu ihren äußersten, extremsten Konsequenzen voranzutreiben – und vor diesem Hintergrund dann mit rigorosem Moralismus zu letztgültigen Bekenntnissen und Entscheidungen aufzurufen. Nur von nüchterner Sachkenntnis und realpolitischen Pragmatismus ist bei all dem wenig zu finden. Das alles tut der literarischen Qualität nicht gut. Nur wenige der in Marbach gezeigten Manuskripte können heute mehr als ein literaturhistorisches Interesse wecken. Auch die entsprechenden theoretischen Überlegungen von zeitgenössischen Philosophen wie Karl Jaspers oder Martin Heidegger („…das ontische Ende des Planeten…“) machen inzwischen einen einigermaßen angestaubten Eindruck. Andererseits erwiesen sich die hoch emotionalisierten Kampagnen gegen die nukleare Aufrüstung offenkundig als Kristallisationspunkte für einen späteren brutalen politischen Radikalismus: Die erste literarische Anti-Atom-Anthologie mit dem unbedingt zustimmenswerten Titel „Gegen den Tod“ wurde herausgegeben von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper; zu den Mitarbeitern des „Komitees gegen Atomrüstung“ gehörte die Studentin Ulrike Meinhof. Zum desillusionierenden, aufklärerischen Gehalt der Ausstellung gehört, dass sie mit einigen Missverständnissen aufräumt, die sich mitunter bis heute gehalten haben. Der nach dem Krieg im Zivilleben gescheiterte US-Pilot Claude Eatherly gab sich als Kommandant des Flugzeuges aus, der die Bombe über Hiroshima abgeworfen hatte. Der Philosoph Günther Anders korrespondierte mit ihm, Marie Luise Kaschnitz und Ludwig Harig schrieben Gedichte über ihn. Dass er zerrüttet in einem Sanatorium lebte, wurde seinerzeit als Beleg dafür herangezogen, wie sehr er unter der Verantwortung für seine Tat leide. Doch flog Eatherly, wie sich inzwischen nachweisen ließ, nur einen Wetteraufklärer, der mit dem Bombenabwurf nichts zu tun hatte. Der tatsächliche Kommandant des Hiroshima-Angriffs Paul W. Tibbet schied 1966 als Brigadegeneral aus der Armee aus und rechtfertigte den Bombenabwurf bis ins hohe Alter als Kriegshandlung. Und Heinar Kipphardts Drama „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ gilt als hervorragendes Beispiel des Dokumentartheaters, das authentische Zeugnisse auf die Bühne bringt. Kipphardt lässt seine Hauptfigur Oppenheimer, der als Physiker maßgeblich die Konstruktion der amerikanischen Atombombe vorantrieb, im Schlussmonolog das eigene Tun verdammen: „Wir haben die Arbeit des Teufels getan, und wir kehren nun zu unseren wirklichen Aufgaben zurück.“ Doch in einem Brief, der in Marbach zu sehen ist, bestreitet der reale Oppenheimer diese Kehrwendung energisch. Man habe ihm die Frage gestellt, ob er, auch in Kenntnis der historischen Resultate, sich wieder für eine Mitarbeit am amerikanischen Atomprogramm entscheiden würde: „To this I answered yes.“ Auch Ängste haben ihre Konjunkturen. Seltsam, wie wenig Raum die Gefahr eines mit nuklearen Waffen ausgetragenen Kriegs heute im öffentlichen Bewusstsein einnimmt. Seltsam, wie viel mehr Aufmerksamkeit der Terrorismus in Anspruch nimmt, obwohl selbst in schwärzesten Szenarien die Gefahren, die von ihm ausgehen, ungleich geringer sind.

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