„Anatolin“

Hans-Ulrich Treichel tänzelt auf der Grenze zwischen Tragödie und Komödie
Damals, als Literatur und Engagement gern wie zwei Seiten der selben Medaille betrachtet wurden, damals, als der Wunsch zu schreiben und der Wunsch, die Welt zu verbessern, für viele untrennbar verbunden schien, sorgte der unermüdliche Störenfried Jean Genet für eine wunderbare Provokation: Er wolle, verkündete er, dass die Welt so schlecht bleibe, wie sie ist, damit er weiter gegen sie sein und weiter gegen sie anschreiben könne. Mangel und Leid sind das Material der Schriftsteller, das sie in Literatur verwandeln und zugleich der Motor, der sie beim Schreiben antreibt. In einer idealen Welt gäbe es wohl keinen Anlass für Literatur. Diese kleine dialektische Denkfigur wendet Hans-Ulrich Treichel in seinem Roman „Anatolin“ aus dem Politischen ins Persönliche und Biographische. Der Held und Ich-Erzähler seiner Geschichte ähnelt ihm wie ein Ei dem anderen und darf dennoch nicht mit ihm verwechselt werden. Er hat (wie Treichel) einen erfolgreichen Roman geschrieben über die heimliche Suche seiner Eltern nach ihrem ersten Sohn, der auf der Flucht vor den Russen während der Endphase des Zweiten Weltkriegs verschwand. Er ist (wie Treichel) im ostwestfälischen Versmold aufgewachsen und litt dort unter seinen arbeitssüchtigen, kaltherzigen Eltern, die ihrerseits unter dem Verlust ihres ersten Sohnes, ihrer Heimat, ihres gesamten Besitzes litten und alles Vergangene folglich hilflos beschwiegen. Er klagt deshalb (wie Treichel) über ein Gefühl der Wurzellosigkeit, über eine fast zwanghafte Abwehr gegen alles Vergangene und also letztlich über die Unfähigkeit, in den Ereignissen, die ihm zustoßen, so etwas wie seine Lebensgeschichte zu sehen. Natürlich ist Treichels Held klug genug zu wissen, dass sich das alles nicht nur reichlich seltsam anhört, sondern kaum noch von einer handfesten Neurose zu unterscheiden ist. Allerdings beschäftigt er sich in den Büchern, die er schreibt, seiner lauthals verkündeten Abneigung zum Trotz, unermüdlich mit dem Vergangenen. Er arbeitet also in seinen Romanen daran, seine neurotische Abwehr zu überwinden, sich selbst seine Lebensgeschichte gleichsam vorzubuchstabieren und darf das Schreiben folglich als eine Art fortgesetzte Selbsttherapie betrachten. Auch in „Anatolin“ steckt ein solches Kapitel psychischer Selbsthilfe. Die Hauptfigur des Romans, die Treichel so täuschend ähnlich sieht, reist mit der Bahn nach Polen, um das Heimatdorf seiner Mutter zu sehen. Auch den Geburtsort seines Vaters, ein abgelegener Flecken irgendwo in der Ukraine, hat er schon besucht. Im Grunde weiß er nicht, was er in diesen verschlafenen Nestern soll, in denen fast alle Erinnerungen an die ehemaligen deutschstämmigen Siedler getilgt sind und kämpft wie immer mit seiner reflexhaften Aversion gegen alles, was mit seiner Vergangenheit zu tun hat. Er versucht sich auf diese Weise jene Familien-Vorgeschichte, von der seine Eltern beharrlich schwiegen, anzueignen und so eine Grundlage für die eigene Lebensgeschichte zu schaffen. Tatsächlich überkommt ihn am Rande jenes polnischen Dorfes, aus dem seine Mutter stammt, ungewohnter Frieden: Er legt sich in eine sonnenbeschienene Mulde und schlummert wohlig auf warmer Muttererde ein. Wenige Augenblicke später jedoch erwachte er verschwitzt und verlässt den Ort fast wie in Panik. Treichels Held ist viel zu klug, als dass er sich der schönen Hoffnung hingäbe, die Familiengeschichte, die er literarisch zu rekonstruieren versucht, könnte für ihn mehr sein als nur eine konstruierte Geschichte. Das Gefühl des Mangels, das Gefühl ein biographieloser Mensch zu sein, bleibt – und in gewisser Hinsicht ist er froh darüber, denn der Denkfigur Jean Genets folgend, ist es eben dieser Mangel, der seine Arbeit als Schriftsteller vorantreibt. Würde seine Selbsttherapie jemals gelingen, würde er sich selbst des Stoffes berauben, über den er schreibt. Treichel breitet das alles mit sicherer Hand aus, er ist ein souveräner Erzähler. Doch wirklich lesenswert wird seine literarische Analyse einer sehr speziellen Neurose letztlich, weil Treichel diese Krankengeschichte mit viel lakonischer Iro-nie vorzuführen versteht. Er berichtet nicht nur von dem Schicksal und den Leiden seines Helden, er behält auch im Blick, wie kurios und verstiegen dessen Nöte klingen. So tänzelt sein Roman anmutig auf der Grenze zwischen Tragödie und Komödie – und ihm bei diesem Balanceakt zuzuschauen, macht aus der Lektüre tatsächlich ein Vergnügen. Hans-Ulrich Treichel: „Anatolin“. Roman Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008 189 Seiten, 17,80 €

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