Daniel Kehlmann entführt in ein Geschichten-Labyrinth namens „Ruhm“
Das Leben ist unendlich viel komplexer als die Literatur es je sein könnte. „Wer eine Geschichte wahr nennt“, schrieb Vladimir Nabokov einmal, „beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich.“ Man macht sich das nicht immer klar, obwohl es auf der Hand liegt. Das fängt schon damit an, dass in einer Geschichte jeder Augenblick nur als Teil dieser einen Geschichte betrachtet wird. In Wahrheit ist aber jeder Augenblick im Leben jedes Menschen der Kreuzungspunkt einer Unzahl von politischen, gesundheitlichen, familiären, beruflichen, von erlebten, verdrängten, übersehenen, herbeiphantasierten Geschichten. Um eine Geschichte erzählen zu können, muss man Handlungslinien herauspräparieren. Das ist die Leistung der Kunst: Sie ordnet und klärt. Das Leben aber ist ein unüberschaubar wirres Geflecht von Handlungslinien, ein Geschichtenlabyrinth, durch dessen Gänge man tapst, ohne es als Ganzes je richtig in den Blick zu bekommen. Daniel Kehlmanns neues Buch „Ruhm“ ist so ein Geschichtenlabyrinth in verkleinertem Maßstab. Es ist ein raffiniertes literarisches Bravourstück, das von beträchtlicher konstruktiver Intelligenz zeugt, das aber über seinen hohen künstlerischen Ambitionen nie die sinnlichen und emotionalen Anforderungen des Erzählens aus den Augen verliert. Es ist ein Roman in neun Episoden, die in wechselnden Tonlagen und aus wechselnden Perspektiven von wechselnden Milieus berichten. Doch Kehlmann knüpft zwischen diesen Episoden nicht nur ein engmaschiges Netz von Beziehungen, Anspielungen und Querverweisen, sondern spielt in allen die gleichen Themen in immer neuen Variationen durch. Es fängt an mit einer knappen psychologischen Studie. Erzählt wird von einem Techniker, der wenig Vertrauen zur Technik hat. Er ist Computerfachmann und weiß, was alles schief gehen kann. Nach langem Zögern kauft er sich sein erstes Handy und ausgerechnet ihm passiert, was nie hätte passieren dürfen: Ihm wird eine Telefonnummer zugeteilt, die bereits an einen anderen Teilnehmer vergeben ist – an einen weltweit gefeierten Filmstar. Prompt erhält er Anrufe von wichtigtuerischen Kinogrößen und verführerisch gurrenden Geliebten. Anfangs versucht er noch, den Irrtum aufzuklären. Doch dann gibt er der Verlockung nach, all den Stimmen, die aus dem uferlosen Dunkel der Telefonwelt an sein Ohr drängeln, nach eigenem Gutdünken zu antworten. Verblüffend ist für ihn, wie gut ihm das gelingt. Er, ein solider, etwas mutloser Techniker, verwandelt sich, sobald ihn die Anrufer umschmeicheln. Er reagiert plötzlich mit einer ihm selbst ganz unbekannten Souveränität, für die ihn seine Gesprächspartner umso mehr bewundern. Bald ist es nicht nur die unverblümte Leidenschaftlichkeit der Anruferinnen, die ihn sehnsüchtig auf das nächste Klingeln seines Handys warten lässt. Mindestens ebenso sehr ist es jene unerwartete Freiheit und Entschiedenheit, die er bei den Gesprächen an sich selbst entdeckt. Er spürt, dass er gar nicht mehr der ist, der er zu sein glaubte, er ahnt, dass noch ganz andere Lebensmöglichkeiten in ihm stecken. Die wesentlichen Elemente von Kehlmanns Episoden-Roman sind hier bereits beisammen: Er handelt von dem filigranen Wechselspiel zwischen Tatsachen und Täuschungen, von den Schrecken des Ruhmes und denen der Anonymität, vor allem aber von der Brüchigkeit der Realität, in der es sich die Figuren eingerichtet haben und auf die sie sich glauben verlassen zu können. Doch braucht es nur winzige Unachtsamkeiten – bei der Vergabe von Telefonnummern etwa – und schon werden die vertrauten Realitäts-Kulissen fadenscheinig und es öffnen sich andere, parallele Welten. Welten, in denen die Figuren nicht nur andere Rollen spielen, sondern entdecken: Ich ist ein anderer. Kehlmann greift dabei auf Lieblingsmotive der Romantik zurück, wie auf das des Doppelgängers. Der Filmstar, dessen Telefonnummer in der ersten Erzählung missbraucht wird, ist in einer der späteren Geschichten seines Ruhmes überdrüssig. Er begegnet einem verblüffend echt wirkenden Imitator, der ihn bei Look-alike-Contests nachahmt, gibt sich daraufhin als Imitator seiner selbst aus und tauscht schließlich mit seinem anonymen Ebenbild halb vorsätzlich, halb unfreiwillig die Lebens-Rollen. Gleichsam im Gegenzug erzählt Kehlmann dann von einem Manager, der ein zwar gehetztes, aber glückliches Doppelleben zwischen zwei Frauen führt, bis er dem wahnhaften Drang erliegt, die beiden Zweige seiner gespaltenen Existenz vereinen zu wollen. Doch so ehrwürdig und traditionsgesättigt diese literarischen Motive auch sind, Kehlmann variiert sie in diesem Erzählungs-Zyklus auf konsequent zeitgenössische, aktuelle Weise. Anders als bei den Dichtern der Romantik sind die Parallelwelten, die sich vor seinen Figuren auftun, nicht überirdischer, magischer, religiöser Natur, sondern immer strikt diesseitig und von Menschen erschaffen. Seine Helden verlieren sich in den trügerischen Sphären des Internets, der globalen Telefonnetze, des Starkults oder der Literatur. Vermutlich teilt Kehlmann die Technikskepsis des Computerfachmanns aus der Auftaktgeschichte, doch sein Buch ist definitiv kein maschinenstürmerisches Pamphlet: In einer tragikomischen Episode lässt er eine europäische Autorin in den Steppen eines mittelasiatischen Diktatorenstaats verloren gehen, bloß weil sie im entscheidenden Moment kein brauchbares Handy zur Hand hat. „Ruhm“ ist vielmehr ein ebenso virtuoses wie unterhaltsames Spiel mit Welt und Parallelwelten, mit Sein und Schein, mit Fakten und Fiktionen – und naturgemäß räumt der Literat Kehlmann dabei den diversen Fiktionsebenen der Literatur besonderen Raum ein. Eine seiner Figuren ist Leo, ein widerborstiger, von Ängsten geschüttelter, aber scharfsichtiger Schriftsteller, der von Goethe-Institut zu Goethe-Institut um die Welt gereicht wird. Er zählt zu jenen Autoren, die sich von Menschen, die ihnen begegnen, sehr direkt und ungeniert zu literarischen Gestalten inspirieren lassen. Eine Freundin, die Leo auf einer Reise begleitet, will aber auf keinen Fall als Vorlage für eine seiner Figuren herhalten. Naiv gelesen wirkt das wie der Streit zwischen einer stolzen, authentischen Frau und einem reichlich haltlosen Luftikus. Doch letztlich ist beides, Authentizität hier, Haltlosigkeit da, nur Fiktion, erschaffen von einem Luftikus namens Kehlmann. In der nächsten Episode wendet sich eine der Figuren, die Leo in einer seiner Kurzgeschichten geschaffen hat, aus dem Text heraus an ihren Autor. Sie hat erfahren, dass sie an Krebs sterben muss, und bittet Leo – so wie ein Mensch in höchster Not zu seinem Schöpfer und Gott fleht – sie davonkommen zu lassen. Hier zeigt sich, was für ein brillanter Erzähler Kehlmann ist: Immer wieder erinnert er den Leser daran, dass seine Heldin nur eine literarische Illusion ist, versteht es aber dennoch, ihm deren Todesangst mit beeindruckender Intensität nahezubringen. Schließlich reist der Autor Leo mit seiner Freundin in irgendeinen von Rebellen umkämpften Dschungel. Zunächst sieht es so aus, als müsse sich auch hier die ernsthafte, realitätstaugliche Frau mit den neurotischen Luxussorgen des Literaten herumärgern. Doch dann zeigt sich, dass Leo seine Freundin in den erfundenen Dschungel einer seiner Kurzgeschichten entführt hat, bevor er sich selbst in Luft auflöst und sie in der Welt der Fiktionen zurücklässt. Mit solchen phantastischen Elementen erinnert der Episoden-Roman „Ruhm“ nicht nur an Vorbilder aus der Romantik, sondern ebenso an die Erzählungs-Zyklen des großen Argentiniers Jorge Luis Borges. Wie Borges erweist sich Kehlmann als ein glänzender Gedankenspieler, der formale Experimentierlust mit prächtiger Erzählfreude zu verbinden versteht. Jede seiner Geschichten (bis auf die letzte) ist völlig selbstständig und doch mit allen anderen verknüpft. Zusammen bilden sie ein Geflecht ohne Zentrum, ein postmodernes Geschichtenlabyrinth, das durch immer neue Dimensionen der Fiktionalität führt. Ein Ereignis, mit lebensverändernder Kraft, ist plötzlicher Ruhm. Viele drängen sich nach ihm, obwohl auch er in eine Parallelwelt entführt, in der für den Berühmtgewordenen nichts mehr so ist, wie es einmal war. Er verliert sich selbst, teilweise oder sogar ganz, denn er wird im Bewusstsein ungezählter Menschen zu einem Image, zu einem fiktiven Bild, über das sie glauben urteilen zu können und das sie mit ihm verwechseln. Kehlmann hat diese Erfahrung in den letzten Jahren gemacht. Er hat sie in diesem Buch auf hochartistische Weise in Literatur verwandelt und doch keinen autobiografischen Erfahrungsbericht geschrieben. In seinem Roman „Die Vermessung der Welt“, mit dem er sich internationale Anerkennung erschrieb, erzählte Kehlmann unter anderem davon, wie zweifelhaft die Bilder sind, die sich unser Verstand von der Welt macht, und wie vermessen jeder Versuch ist, die Welt vermessen zu wollen. In dem Geschichten-Zyklus „Ruhm“ zeigt Kehlmann, wie zweifelhaft schon die Bilder sind, die wir uns vom eigenen Leben oder der eigenen Persönlichkeit machen. Die Souveränität, mit der er solche filigrane Reflexionen in einprägsame Geschichten verwandelt, belegt, dass er heute zu den wichtigsten Erzählern unserer Literatur gehört.
Daniel Kehlmann: „Ruhm“. Roman in neun Geschichten Rowohlt Verlag, Reinbek 2009 203 Seiten, 18,90 €