„Warum wir also hier sind“

Fragt Michael Lentz im Frankfurter Schauspielhaus und gibt eine groteske Antwort  

Es beginnt in zeitgemäßer Boheme-Atmosphäre. Eine Dachstube mit Fensterschräge. Bücher überall: auf Boden, Stühlen, Tischen. Dafür im Bücherregal ein Paar rosa Pumps. Gleich zwei Schreibmaschinen warten auf die Meisterwerke, die auf ihnen entstehen sollen. An der Wand Tapete im 60iger-Jahre-Chic und eine riesige Zettel-Collage. Die Bewohnerin dieser Poeten-Klause schläft auf ihrem Arbeitstisch. Und ein in den Hintergrund projizierter Traumkopf spricht zu ihr die herrischen Worte: „Erhebe dich und schreibe!“ Regisseur Niklaus Helbling und Bühnenbildner Dirk Thiele haben präzise Arbeit geleistet. Das alte Drama vom Künstler, der mit seiner Kunst kämpft, von der Dichterin, die mit der Dichtung ringt, ist gleich im ersten Bild eingefangen. Helbling spitzt all das aber noch mit einem Detail zu: Als die Schläferin – sie heißt Friederike und wird gespielt von Sabine Waibel – erwacht und die Decke zurückschlägt, werden ihre weißbandagierten Handgelenke sichtbar. Dieser Spitzboden ist kein Spitzwegsches Idyll, von dieser Armen Poetin wird der Kampf um die Kunst offenkundig mit selbstmörderischem Ernst und bis aufs Messer geführt. Das neue Stück von Michael Lentz, das er für das Schauspiel Frankfurt geschrieben hat, beginnt schwarz in schwarz: „Was ist noch schlimmer als das Sterben?“ fragt Freundin Amalia. Und Friederike antwortet: „Das Leben ist noch schlimmer als das Sterben.“ Auch Literatur oder Liebe versprechen keine Rettung mehr aus dieser Finsternis. Zu groß ins Friederikes Misstrauen gegen die Sprache und die Männer geworden. Als Amalia ihr erfundene Liebesbriefe zustellen lässt durch einen bestochenen Briefträger, sind nicht nur Friederikes Erwartungen an den Inhalt, sondern auch ihre Gewissheit, enttäuscht zu werden, so groß, dass sie die Briefe lieber ungelesen zerreißt. Auf diese Weise hätte Lentz sein Stück problemlos als Friederikes ausweglose, aber eintönige Geschichte einer Krankheit zum Tode fortsetzen können. Doch glücklicherweise gibt er sich damit nicht zufrieden. Vielmehr lässt er drei von Friederike verehrte Größen der Literaturgeschichte, den Frühromantiker Johann Wilhelm Ritter, den Vormärz-Dramatiker Christian Dietrich Grabbe und den Dada-Dandy Raoul Hausmann auftreten – die aber nicht den ersehnten Sinn in Friederikes Leben bringen, sondern sie vielmehr mit mustergültigem Engagement lehren, Genuss an Nonsens, also am verweigerten Sinn zu finden. Im Frankfurter Schauspielhaus gibt es gewöhnlich nicht viel zu lachen. Umso erstaunlicher ist die zweite Hälfte dieses Theaterabends. Die Spiellust mit der die fünf Darsteller – neben Sabine Weibel: Sascha Maria Icks, Aljoscha Stadelmann, Mathias Max Herrmann und Sebastian Schindegger – die Bühne in ein Schlachtfeld anarchischer, sinnfreier Komik verwandeln und ihre Pointen ohne jede augenzwinkernder Albernheiten mit unsentimentaler Kaltschnäuzigkeit servieren, nötigt Respekt ab. Besondere Bewunderung aber verdient sich Regisseur Helbling. Er hat in dem langen furiosen Finale jeden Anflug jener Bedeutungshuberei und Bildungsbeflissenheit vermieden, die das deutsche Stadttheater so oft zur Qual macht, sobald es sich an Komik versucht. Er verlässt sich stattdessen auf Tempo und Phantasie. Er überschwemmt sein Publikum mit unerwarteten, rätselhaften, paradoxen, abwegigen Einfällen, die den mindestens ebenso rätselhaften Text von Lentz durchaus adäquat umsetzen. Darsteller werden zusammengebunden, laufen durch Wände, fallen von Leitern, schleppen unbekannte Pappfiguren herbei, steigen aus Schränken, verschwinden in Fenstern, tanzen, schießen, sterben ohne je irgendeine Logik ihres Handelns erkennen zu lassen. Es kommt einem vor, als sei die groteske Welt des Cartoonisten Eugen Egner auf der Bühne lebendig geworden. Erlösung bittet das der schwermütigen Friederike naturgemäß trotz allem nicht. Aber es dürfte ihr angesichts des Trommelfeuers von komischen Wendungen vorübergehend nicht ganz leicht fallen, sich auf ihre Schwermut zu konzentrieren. Vielleicht ist das die – temporäre – Rettung, die Michael Lentz mit seinem Stück im Sinn hatte.

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